• Ford Madox Ford: Die allertraurigste Geschichte
• Louis-Sébastian Mercier: Pariser Nahaufnahmen
• José Maria Guelbenzu: Spanische Hunger- und Zaubermärchen
• Hjalmar Söderberg: Der Spieler
• Wilhelm Busch: Da grunzte das Schwein, die Englein sangen
• William Howard Russell: Meine sieben Krieg
• Gilbert Keith Chesterton: Orthodoxie
• Charles Darwin: Der Ausdruck der Gemütsbewegungen
• Manfred Koch, Angelika Overath: Schlimme Ehen
• Martin Beradt: Die Straße der kleinen Ewigkeit
• Gabriele Goettle: Die Ärmsten!
• Iwan Bunin: Liebe und andere Unglücksfälle
Eichborn 2000, AB 181, 347 S.
»Man hat Ford bis heute nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen«, sagte Ezra Pound. Das gilt auch heute noch, zumindest, was Die allertraurigste Geschichte, Fords Meisterwerk, betrifft. Es ist die Geschichte eines Liebesverrats. Sie spielt vor dem Ersten Weltkrieg und in den »besten Kreisen«, aber sie spielt auch in der Hölle.
Nicht nur ist der Erzähler ein ahnungsloser Ehemann, der neun Jahre lang kaltblütig betrogen wird; nicht nur erweist sich sein Freund, der scheinbar grundsolide Gentleman, als brutaler Schürzenjäger und seine Frau als gierige Hure. Die diabolische Ironie der Erzählung besteht vielmehr darin, daß der Getäuschte selbst ein emotionaler Krüppel ist, dessen zwanghafte Vernünftigkeit ihn irrereden läßt, so daß er sich immer tiefer in einem Spiegelkabinett aus Täuschung und Selbsttäuschung verliert. Unter der kultivierten Oberfläche tut sich ein Abgrund von Angst, Sex und Wahnsinn auf. Selten sind Idylle, Tragikkomödie und Melodram eine so erstaunliche Liaison eingegangen wie in diesem Roman.
Ford Madox Ford wurde 1873 in Merton in Surrey geboren, Bis 1910 führte er eine ebenso glänzende wie schillernde Existenz im Kreis der Londoner Intelligenz. Er war mit Henry James, D. H. Lawrence, H. G. Wells und Ezra Pound befreundet. Vor allem aber arbeitete er eng mit Joseph Conrad zusammen, mit dem er mehrere Bücher verfaßte. Nach dem Ersten Weltkrieg zog er nach Paris, wo er die Transatlantic Review gründete. Halbvergessen und von Geldsorgen geplagt, schlug er sich als Vortragsreisender in Amerika durch. 1939 ist er in Deauville gestorben.
Eichborn 2000, AB 182, 359 S.
Fünf Minuten vor der Französischen Revolution taucht in der Menschenmenge der Metropole ein Mann auf, der von sich sagt: »Ich lebe nur der Neugier«. Mercier ist der erste Großstadt-Reporter der Geschichte. 1781 erscheint die erste Lieferung seines Bestsellers, der es auf zwölf Bände mit mehr als tausend Kapiteln bringen wird. »Noch niemand vor mir hatte sich daran gemacht, das Gesamtbild einer Riesenstadt wiederzugeben«, behauptete er, und er hat recht. Woran andere sich hielten, an die Salons, den Hof, die Sehenswürdigkeiten, das interessierte ihn am wenigsten. Mit einem gewaltigen Appetit, der an Balzac erinnert, stürzte er sich ins Gewühl und schilderte die Wasserträger und die Schuhputzer, die Wucherer und die Metzger, die Huren und die Findelkinder, stieg in den Untergrund der Stadt, studierte Gefängnisse und Klos, und untersuchte die Straßenbeleuchtung und das Beerdigungsgeschäft. Soviel sich auch seitdem geändert hat: Paris hielt lange Zeit zäh an seinen Gewohnheiten und an seinen Eigenarten fest. Zumindest bis 1900 hielten sich die Spuren jener Milieus, die Mercier als erster beschrieben hat. In einem Akt des gezielten Anachronismus wird in diesem Band auf die bekannten Kupferstiche verzichtet. An ihrer Stelle sollen Fotografien aus dem 19. Jahrundert zeigen, wie irritierend viel Haussmanns Zerstörungswerk vom alten Paris übriggelassen hat.
Louis-Sébastien Mercier, 1740 in Paris geboren, war ein Vielschreiber, der mehr als hundert Bände publizierte: Theaterstücke, Erzählungen, Essais und einen Zukunftsroman.Vor der Revolution brachte er, um einer drohenden Verhaftung zu entgehen, fünf Jahre in der Schweiz zu. Als europäische Berühmtheit kehrte er zurück und wurde in den Konvent gewählt. Später entging er nur knapp der Guillotine. 1814 ist er, halb vergessen, in seiner Heimatstadt gestorben.
Eichborn 2000, AB 183, 347 S.
Metzeln, Lachen, Hexen, Träumen! Das, was zarte Pädagogen-Gemüter immer schon gestört hat an unseren Märchen, daß sie nämlich grausam sind und kein Blatt vor den Mund nehmen - diesen Geschichten aus Spanien könnte man es mit weit mehr Recht als den unseren nachsagen. Sie erzählen von Untoten und Transvestiten, von Hexerei und Inzest, und selbst vor der Menschenfresserei schrecken sie nicht zurück. Vor allem aber sind es Geschichten aus einer Welt, in der Armut regiert. Oft hat man den Eindruck, daß es sich um Hunger-Halluzinationen handelt. Der größte aller Märchenträume geht in Erfüllung, wenn die Helden sich endlich sattessen können.
Sentimental sind diese anonymen Erzähler wirklich nicht, und jede Selbstzensur ist ihnen fremd. Selbst die Lehren der Kirche sind ihnen nicht heilig, und mit Tod und Teufel stehen sie sozusagen auf Duzfuß.
Das einzige, was die Trostlosigkeit ihres Lebens erträglich macht, ist der bizarre Humor, mit dem die Märchenhelden der Welt begegnen. Ihre Schicksale lassen einerseits an den unbesiegbaren Picaro des Schelmenromans, andererseits an die Visionen Goyas denken. Es ist ein sehr altes Spanien, das hier fabuliert und murrt und lacht. Doch wer das Land aus den fünfziger Jahren kennt, der weiß, daß sich seine archaischen Züge bis in die jüngste Vergangenheit gehalten haben. Auch arabische, jüdische und baskische Einflüsse sind unverkennbar.
Dem Sammeleifer der Brüder Grimm hatten die Spanier lange nichts Vergleichbares entgegenzusetzen. Erst in jüngster Zeit fingen sie an, sich für die eigenen Überlieferungen zu interessieren. Kein Wunder, daß die iberischen Hunger- und Zaubermärchen in Deutschland bisher völlig unbekannt geblieben sind: Der Schriftsteller J. M. Guelbenzu hat sie erst vor ein paar Jahren ans Licht gebracht. Photographien aus dem neunzehnten Jahrhundert, die den Band illustrieren, geben eine Vorstellung von der Lebenswelt, die solche Märchen hervorgebracht hat.
Eichborn 2000, AB 184, 367 S.
Hiermit wird wieder ein höchst eigenwilliger Erzähler vorgestellt, noch dazu ein alter Schwede: Hjalmar Söderberg (1869-1941). Seine wunderbaren, grausamen, leicht hingetuschten, lakonischen Erzählungen und sein berühmter Roman Doktor Glas haben das Publikum skandalisiert, dann wurden sie vergessen. Unsittlichkeit, Décadence, Zynismus hat man ihm vorgeworfen - natürlich ganz zu Unrecht.
Aber merkwürdig genug - ein Jahrhundert später kommen uns seine Figuren ziemlich bekannt vor. Nur Kostüm und Milieu haben sich verändert. Seine Charaktere aber scheinen eine gespenstische Wiederkehr zu feiern. Es sind Spieler, Bankrotteure, Spekulanten und Selbstmörder. Der rücksichtslose Individualismus, der sie in die Isolation treibt, ihre labilen Beziehungen, ihre desillusionierte Attitüde - das alles erinnert nur allzusehr an unsere verzweifelte Spaßgesellschaft. »Ich zapple, wie ich will,« sagt einer von Söderbergs Helden. »Es gibt nichts Lustigeres als zu zappeln.«
Hjalmar Söderberg, 1869 in Stockholm geboren, gehört zu den vielen skandinavischen Autoren, die es ihrer heimatlichen Kultur nicht recht machen konnten. Er schlug sich als Zollbeamter und Journalist durch und zog 1917 nach Kopenhagen. Später ist er nur noch als Übersetzer und Religionshistoriker hervorgetreten. 1941, in seinem Todesjahr, veröffentlichte er eine radikale Abrechnung mit dem Nationalsozialismus.
Werke: »Historietter«(1898), »Martin Bircks ungdom« (1901), »Främlingarna« (1903), »Doktor Glas« (1905), »Det mörknar över vägen« (1907), »Resan till Rom« (1929).
Eichborn 2000, AB 185, 383 S.
»Vom Leben geglüht, mit Fleiß gehämmert und nicht unzweckmäßig zusammengesetzt«, so bezeichnete Busch seine Bildergeschichten. Man kann es auch, wie Robert Gernhardt, anders ausdrücken: Geschmacklos, kaltblütig, ohne Mitgefühl und Hintersinn hat Busch, dieser Klassiker anderer Art, »niedergemacht, was den Zeitgenossen heilig war: die Ehe, die Kirche, den Sinn des Lebens, die Erziehung, den gepflegten Suff und die holde Kunst«.
Aber der Kunst entgeht man nicht so leicht. Heute erscheint uns der Meister als unfreiwilliger Prophet, von dessen Erfindungen bis heute der Comic zehrt, als bedenkenloser Vorläufer der Amerikaner von Chaplin bis zu den Marx Brothers und als ironischer Pionier der sogenannten Avantgarde.
»Er ist auch ein äußerst erfindungsreicher Regisseur«, sagt Gernhardt ihm nach. »In seinen Bildfolgen gibt es Schwenks, Schnitte, den Wechsel von der Totalen zur Großaufnahme - filmische Techniken also, bevor es den Film gab.«
Robert Gernhardt hält sich an ein ganz elementares Auswahlprinzip: Er zeigt uns, wo Busch »die komische Sau rausläßt«, und nimmt ihn vor allen feinsinnigen Auslegern, an denen es nie gefehlt hat, in Schutz.
Die Ausgabe greift auf frühe Vorlagen zurück, die den Strich des Meisters ohne Verfälschungen zeigen.
Wilhelm Busch, 1832 im hannöverschen Wiedensahl geboren, fing in Groschenblättern an, war 26 Jahre lang als Leistungskomiker aktiv und brachte es zum Welterfolg. Dann hörte er auf zog sich zurück und privatisierte noch 23 Jahre lang als »Einsiedler von Wiedensahl«. 1908 ist er gestorben.
Buschs Werke kennt jeder, aber sein Nachfolger Gernhardt weiß, wo in den sieben dicken Bänden seine schärfsten Momente zu finden sind.
Eichborn 2000, AB 186, 429 S.
Bis tief ins neunzehnte Jahrhundert war der Krieg eine Sache, die nur die Militärs etwas anging. Die Öffentlichkeit hatte bei ihren Entscheidungen nicht mitzureden. Das änderte sich mit dem Aufstieg der Presse. Es war eine Sensation, als die Londoner Times nach dem Ausbruch des Krimkrieges im Jahre 1853 einen Sonderkorrespondenten in die Türkei und nach Rußland schickte. Über Nacht wurde dieser Reporter zu einer europäischen Berühmtheit, und seine Zeitung zu einer politischen Macht. Russells schonungslose Berichte führten in Großbritannien dazu, daß die Regierung von Lord Aberdeen zurücktreten mußte.
Von da an war es um das Informationsprivileg der Generäle geschehen. Russell war immer dort zur Stelle, wo sich ein Waffengang anbahnte. Er berichtete vom Indischen Aufstand, vom amerikanischen Bürgerkrieg, von Königsgrätz, vom Deutsch-Französischen Krieg und vom Feldzug gegen die Zulus.
Russell hat den Typus des Kriegskorrespondenten erschaffen und verkörpert. Er war ein unbestechlicher Beobachter und ein beachtlicher Prosaist. Seine Schilderungen zeichnen sich durch ihre Fairness und ihre Lebendigkeit aus. Man erfährt mehr aus ihnen über die menschlichen und unmenschlichen Seiten des Krieges als aus den meisten Geschichtsbüchern.
Sir William Howard Russell ist anglo-irischer Herkunft; er wurde 1821 in der Nähe von Dublin geboren. Mit zwanzig Jahren veröffentlichte er seine ersten Reportagen. Nach seinen Erfolgen im Krimkrieg wurde er zu einer Art Medienstar. 1895 wurde er geadelt, 1907 ist er gestorben.
Werke: »The War«, 1855-56; »My Diary in India in 1858-59«, »My Diary, North and South, during the Civil War in America«, 1862; »My Diary during the Last Great War«, 1874; »The Great War with Russia«, 1895.
Eichborn 2000, AB 187, 307 S.
Vor drei Jahren ist, mit verblüffendem Erfolg, Chestertons großer Essay Ketzer erschienen. In diesem Buch hat er sich, mit verheerender Wirkung, über die Materialisten lustig gemacht. Orthodoxie ist keine bloße Fortsetzung dieser Attacke; hier wird die Dosis gesteigert und ein härterer Stoff geboten. Denn nun wird Chesterton positiv; er schildert die Vorzüge des Glaubens, und bekanntlich gibt es für einen Autor keine schwierigere Aufgabe als die Darstellung des Positiven.
Dabei kommt Chesterton die bedenkenlose Frechheit zugute, mit der er die Überzeugungen aller aufgeklärten Zeitgenossen (oder deren Mangel) brüskiert. Er überbietet seine Paradoxien, indem er erklärt: »Ich kenne nichts Verächtlicheres als das bloße Paradox«, und er fährt fort: »Ich bin der Narr dieser Erzählung, und kein Rebell soll mich von meinem Thron stoßen... Ich versuchte, eine Ketzerei zu finden, die mir paßt; und als ich die letzte Hand an sie anlegte, entdeckte ich, daß es die Orthodoxie war.«
Chesterton verteidigt die Tradition, das Wunder, die Phantasie und das Dogma, aber auf eine Art und Weise, die jedem Dogmatiker von Herzen zuwider sein muß; denn er beruft sich dabei einzig und allein auf die alltägliche Erfahrung, den common sense, die Vernunft und die Demokratie. Man kann sein Buch auch als die Autobiographie eines Abenteurers lesen, der mit zwölf ein Heide, mit sechzehn ein Agnostiker war, und den einzig und allein sein wildes Denken zum Glauben führte.
G. K. Chesterton, 1874 in London geboren und 1936 ebendort gestorben, war Zigarrenraucher und Dialektiker, Vielschreiber und Gourmand. Unter seinen hundert Büchern sind die bekanntesten »Der Mann, der Donnerstag war« (1908) und »Die Geschichten von Pater Brown« (1911 bis 1935).
Eichborn 2000, AB 188, 461 S.
Woher kommt es, daß wir aus Scham oder Peinlichkeit erröten? Warum wedeln Hunde mit dem Schwanz? Warum schnurren Katzen? Wir lachen, wenn man uns kitzelt, und beißen, was wir lieben.
Viele Rätsel dieser Art hat Charles Darwin in seinem Bestseller aus dem Jahr 1872 gelöst, und sein Buch beschäftigt die Forschung bis auf den heutigen Tag. Er hat das Verhalten von Babies und kleinen Kindern, von Wahnsinnigen, Menschen aus fernen Kulturen, Katzen, Affen und Hunden studiert, und seine Ergebnisse halten immer noch stand.
Paul Ekman ist die erste kritische Edition dieses Meisterwerks zu verdanken. Nicht nur hat er im Licht von Darwins Aufzeichnungen einen definitiven Text hergestellt und die vielen Illustrationen richtig positioniert; seine Kommentare berücksichtigen auch den neuesten Stand der Forschung.
Darwins glänzende Wissenschaftsprosa zu lesen ist ein Vergnügen. Oliver Sacks rühmt seine »bezaubernden Beobachtungen, seine aufsehenerregenden Theorien und seine bemerkenswerten Fotografien. Nach 125 Jahren zeigt sich dieses Meisterwerk in unverminderter Frische und Bedeutung.« Und Steve Pinker nennt »das Erscheinen dieser neuen Edition ein humanwissenschaftliches Ereignis. Darwins Beobachtungsgabe ist erstaunlich und sein Buch bietet herrliche Einsichten«.
Charles Darwin, 1809 in Shrewsbury geboren, starb 1882 und liegt in der WestminsterAbbey begraben. Seine epochalen Hauptwerke, »On the Origin of Species« und »The Descent of Man«, sind 1859 und 1871 erschienen.
Paul Ekman lehrt als Professor der Psychologie an der Universitiy of California in San Francisco. Sein wichtigstes Buch heißt »Telling Lies: Clues to Deceit in the Marketplace, Politics and Marriage«.
Eichborn 2000, AB 189, 335 S.
Als besonders wagemutige Leute gelten Polarforscher, Testpiloten, Hochseilartisten. Niemand spricht von den Millionen, die sich auf ein Abenteuer einlassen, das mindestens ebenso gefährlich ist: die Ehe. Die Kriminalstatistik beweist: Zu Mord und Totschlag kommt es am häufigsten nicht im Rotlichtmilieu, sondern am häuslichen Herd.
Es beginnt ganz harmlos. Ein Mißverständnis, eine Irritation, ein kleiner Schauder. Die Eskalation ist nicht unvermeidlich, aber viel fehlt nicht bis zu Betrug und Angst, Ekel- und Schuldgefühlen, Scheidungs- und Selbstmorddrohungen, und am Ende kann sich das glückliche Paar in einer hundsgemeinen, alltäglichen Krimmalgeschichte wiederfinden.
So heimtückisch ist auch das Vademecum aufgebaut, das die beiden Sammler aus vielfältigen Quellen zusammengetragen haben. Sie zitieren die Bibel und Robert Gernhardt, Grimms Märchen und Gerichtsakten, Ovid und Marie-Luise Scherer, Briefe, Tagebücher und Romane.
Der Gebrauchswert eines solchen Expeditionsführers gleicht dem eines Bestimmungsbuches, wie es Pilzsammler verwenden.
Schlimme Ehen ist ein Frühwarnsystern, das nicht der Abschreckung dient, sondern der Schadensbegrenzung. Es hat nicht nur den blassen Trost der Schadenfreude zu bieten. Ex negativo ist es auch eine heimliche Huldigung an alle Ehepaare, die alle Prüfungen bestehen und alle Fallen meiden, von denen dieses Hochzeitsbuch handelt.
Manfred Koch, 1955 in Stuttgart und Angelika Overath, 1957 in Karlsruhe geboren, sind ein kinderreiches Ehepaar. Sie leben in Tübingen. Von Angelika Overath gibt es eine Anthologie, »Das blaue Buch« (1987), und ein Buch mit Reportagen, »Der Händler der verlorenen Farben« (1998). Manfred Koch wurde 1988 mit einer Arbeit über die Memmotechnik des Schönen promoviert.
Eichborn 2000, AB 190, 373 S.
»Es gibt in Deutschland einen großen Dichter, der völlig vergessen ist«, schrieb Hanno Kühnert 1990 in der Zeit. Viel hat sich bis heute daran nicht geändert. Von Martin Beradt haben die wenigsten gehört.
1881 ist dieser Autor als Sohn einer orthodoxen jüdischen Familie in Magdeburg zur Welt gekommen. Bis 1939 lebte er als Anwalt in Berlin; in letzter Minute gelang ihm die Flucht nach London und New York. In seinem Gepäck versteckt konnte er das Manuskript seines Hauptwerkes retten, an dem er, wie er selbst sagte, zwanzig Jahre lang gearbeitet hat. Halb erblindet ist Beradt 1949 gestorben. Einen Verleger hat sein Roman erst sechzehn Jahre nach dem Tod des Autors gefunden, und auch Joachim Mackensens verdienstvoller Neuedition von 1993 war kein großes Echo beschieden.
Heute ist das Buch verschollen wie die Welt, von der es handelt. Das Berliner Scheunenviertel, heute im falschen Glanz der Nostalgie ein Treffpunkt der Szene, war in den zwanziger Jahren die Zuflucht der armen jüdischen Einwanderer aus Osteuropa. Zionistische Vereine, hebräische Buchhandlungen, Talmudschulen und Synagogen Tür an Tür mit Kaschemmen, Puffs und Trödlerläden - niemand hat dieses Großstadtghetto zärtlicher und unbeschönigter beschrieben als Martin Beradt. Stets bedroht von Razzien, Plünderungen und Rollkommandos lebte das Scheunenviertel schon in den zwanziger Jahren im Schatten seiner bevorstehenden Auslöschung, und heute liest sich jede Zeile des Romans, mit Günter Kunerts Worten, wie ein unheimliches Menetekel.
Beradts Werke: » Go« Roman (Berlin 1909); »Der Richter« Herausgegeben von Martin Buber (Berlin 1909) (Neufassung unter dem Titel »Der Deutsche Richter« Berlin 1930. Neudruck 1979); »Eheleute« Roman (Berlin 1910); »Das Kind« Roman (Berlin 1911); »Erdarbeiter. Aufzeichnungen eines Schanzarbeiters« (Berlin 1919) (Neufassung unter dem Titel »Schipper an der Front« Berlin 1929. Neudruck 1985); »Die Verfolgten« Novellen (Berlin 1919) (Neudruck 1979); »Leidenschaft und List« Roman (Berlin 1928), »Die Straße der kleinen Ewigkeit« Roman (Frankfurt am Main 1965).
Eichborn 2000, AB 191, 399 S.
Jemanden, der drei Jahre lang in eine unbekannte Welt eintaucht - gibt es das im deutschen Journalismus? Eine Autorin, die nicht aufschreibt, was sie gesucht, sondern was sie gefunden hat?
Gabriele Goettles Endlosroman handelt von der Armut. »Sie rückt gefährlich nahe«, schrieb sie 1997 zur Eröffnung ihrer Recherche. »Auf den Fluren der Sozial- und Arbeitsämter, in den Wärmestuben und Nachtasylen kommen die widersprüchlichsten Geschichten zur Sprache. Tragikomische Situationen, atemberaubende Persönlichkeiten, unerwartete Handlungen werden dafür sorgen, daß diese Geschichten nicht langweilig werden.«
Die Reporterin wollte als Bergführerin dienen für den Abstieg nach unten. Dort begegnet man einer Wirklichkeit, die sich am Schreibtisch nicht mehr ausdenken läßt, wie ja auch der altbewährte, mitfühlende Anprangerungs-Journalismus den Leser nicht von seinen gemütlichen Vorurteilen befreien kann. Was da zum Vorschein kommt, sind nicht die klassischen Erniedrigten und Beleidigten. Es ist eine Gesellschaft mit eigenen Spielregeln, Anschauungen, Überlebensstrategien. jenseits der bloßen Opferrolle blicken die Personen der Handlung mit einer Ironie, die an Verachtung grenzt, auf eine Welt, die zum Erfolg verdammt ist.
In dieser Perspektive erscheint nicht der Sozialfall als bizarre Existenz, sondern der Sozialbürokrat. Abnorm ist, wer viel Geld hat, normal die Nachbarin in der Suppenküche. Allmählich ahnt der Leser, daß er verwechselbarer ist als die Unbekannten, Eigensinnigen und Verstörten, mit denen er hier bekannt gemacht wird.
Gabriele Goettle, geboren 1946 in Aschaffenburg, lebt in Berlin und arbeitet als Journalistin.
In der Anderen Bibliothek hat sie bisher veröffentlicht. »Deutsche Sitten« (1991); »Deutsche Bräuche« (1994) und »Deutsche Spuren« (1997).
Die Geschichten dieses Bandes sind in leicht veränderter Form zuerst als Reportagen in der »taz« erschienen.
Eichborn 2000, AB 192, 399 S.
Der Zauber russischer Erzählungen vergeht nicht. Auch nach ein paar Menschenaltern erscheinen sie frischer als das meiste, was der Trend verlangt. Das liegt wahrscheinlich daran, daß sie vom Wichtigsten im Leben, vom Unvorhergesehenen handeln.
Iwan Bunin war mit Tschechow, Turgenjew und Gorki befreundet. Als Sohn eines Gutsbesitzers aus der Provinz begann er mit Dorfgeschichten, die zur Idylle neigten und ein lyrisch geschöntes Bild vom Landleben boten. Erst nach der Revolution von 1917, als er nach Frankreich emigrieren mußte, fand seine Prosa zu einer federnden, rücksichtslosen Kraft, und seine Geschichten wurden immer abgründiger. Fern von den Illusionen des Symbolismus sprechen sie von Chaos, Melancholie, Begierde und Wahnsinn.
Aus Bunins bester Zeit, den Jahren 1916 bis 1944, stammen die Novellen dieses Bandes. Als Kosmopolit wider Willen kannte er die Côte d'Azur und das algerische Constantine so gut wie die sommerlichen Boulevards von Moskau und die Absteigen und Gerichtssäle von Sankt Petersburg. Kleinstädte am Ende der Welt, dunkle Alleen, kaukasische Kurorte sind die Schauplätze der plötzlichen Leidenschaften und der unerklärlichen Verbrechen, von denen er erzählt. Und immer wieder findet sich der Leser an Bord eines Schiffes, eines Wolga-Dampfers, der träge dahingleitet, in einer Luxuskabine auf der Fahrt zur Krim oder mitten im Bürgerkrieg auf einer Arche Noah voller verzweifelter Flüchtlinge.
Iwan Alexejewitsch Bunin kam 1870 in Woronesch zur Welt und starb 1953 in Paris. 1933 wurde er mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Seine gesammelten Werke konnten erst 1965 in Rußland erscheinen. Heute gilt er neben Nabokov als der bedeutendste Autor der russischen Emigration.