AB - Die Andere Bibliothek 2002


Witold Gombrowicz: Sakrilegien
Eric Newby: Ein Spaziergang im Hindukusch
Giacomo Leopardi: Das Massaker der Illusionen
Werner Bartens u.a.: Letztes Lexikon
Jan Stage: Niemandsländer
Stefan Sullivan: Sibirischer Schwindel
Enn Vetemaa, Kat Menschik: Die Nixen von Estland
Hans-Georg Behr: Fast eine Kindheit
Peter Haffner: Grenzfälle
Andreas Urs Sommer: Die Kunst, selber zu denken
Anita Albus: Paradies und Paradox
Konstantin Paustowskij: Der Beginn eines verschwundenen Zeitalters


Witold Gombrowicz: Sakrilegien

Eichborn 2002, AB 205, 363 S.

Nein, Kulturkritik kann man das nicht nennen. Kulturkritik, das hört sich ja so müde an. Dagegen Gombrowicz und seine noble Unverschämtheit! Dieses aggressive Rollenspiel, diese Attacken auf alles und auf jeden, Polen, Franzosen, Argentinier, Deutsche! (Ein besonders schönes Kapitel handelt vom Westberlin der sechziger Jahre.) Wie er schimpft und predigt, wie er sich lustig macht über uns und über sich, das ist inspiriert und hat einen langen Atem.

Nichts ist diesem Tagebuchschreiber heilig. Seine Kennerschaft in Sachen Dummheit ist unübertroffen. Damit provoziert er natürlich Rechte wie Linke, Gerechte wie Ungerechte. Mit größter Lust schlachtet er die Kühe des Patriotismus, der Kirche, der Ideologie, und am allerwenigsten schont er die Kultur und ihren Jahrmarkt der Eitelkeiten.

Nie kann man sicher sein, wie er es meint. Der Ton kippt von der haarsträubenden Komik in den bitteren Ernst. Von der Banalität des Alltags zur philosophischen Menschheitsfrage (und umgekehrt), vom Größenwahn zur bösen Selbstironie (und umgekehrt) ist es nur ein kleiner Schritt. Kein Zufall, daß er im Exil geblieben ist; nur einem ewigen Außenseiter ist eine derartige Perspektive vergönnt. Ihre Kehrseite ist die Egomanie.

Kein Wunder also, daß das vollständige Tagebuch einen über tausendseitigen Folianten füllt. Das ist nicht jedermanns Sache. Deshalb begnügt sich die hier vorgelegte Auswahl auf ein gutes Drittel der Vorlage. Vor mehr als vierzig Jahren geschrieben, sind diese Seiten frisch geblieben wie am ersten Tag. Sie schärfen den Blick, und sie beweisen, daß die Tragikomödie unsterblich ist.

Witold Gombrowicz stammt aus dem kleinpolnischen Landadel. Er wurde 1904 in Maloszyce geboren, studierte Jura und emigrierte 1939 nach Argentinien. Nach dem Krieg kehrte er nach Europa, nicht aber nach Polen zurück. Er starb 1969 in Saint-Paul-de-Vence. Seine wichtigsten Schriften sind, neben dem Tagebuch, »Ferdydurke« (1938), »Transatlantik« (1953) und »Pornografia« (1960). Auf deutsch liegen seine Gesammelten Werke in acht Bänden vor.


Eric Newby: Ein Spaziergang im Hindukusch

Eichborn 2002, AB 206, 359 S.

Im Frühjahr 1956 erreichte Eric Newby, der in einem Haute-Couture-Salon im Londoner Westend arbeitete, ein Telegramm aus Rio de Janeiro: »Kannst du im Juni mit nach Nuristan reisen?« Der Absender war ein Freund Newbys, ein berüchtigter Exzentriker im diplomatischen Dienst Ihrer Majestät.

Es war genau der richtige Moment für zwei Verrückte, um ins Innere von Afghanistan vorzudringen. Die britische Armee hatte das Land verlassen, ebenso wie Jahrhunderte zuvor Dschingis Khan und Timur, und die Rucksacktouristen waren noch nicht angekommen, ganz abgesehen von den russischen Panzern und den fanatischen Taliban. Niemand wollte von dieser gottverlassenen Region etwas wissen.

Das Ziel der beiden, die vom Bergsteigen keine Ahnung hatten, war ein Sechstausender im Hindukusch. Sie stolperten über reißende Bergflüsse und eisige Pässe am Ende der Welt, litten an Hunger, Dysenterie, Insektenfraß und glühender Hitze. Dabei legten sie einen Humor an den Tag, der vor keiner Katastrophe versagte. Ihr Masochismus mischte sich mit guter Laune und poetischem Entzücken: »Selten in meinem Leben hat mich ein so ekstatisches Glücksgefühl erfüllt«, schreibt Newby am Ende der gescheiterten Expedition.

Auf diese Weise ist ein Klassiker der englischen Reiseliteratur entstanden.

»Lieber Leser«, schrieb Evelyn Waugh über diesen Spaziergang, »wenn Sie etwas übrig haben für das eigentümliche Inselvolk der Briten, werden Sie diesem Kunststück nicht widerstehen können.«

Eric Newby ist 1919 geboren. Er arbeitete in einer Werbeagentur, heuerte auf einem finnischen Viermaster an, kämpfte im Zweiten Weltkrieg auf einer U-Boot-Spezialeinheit vor Sizilien, geriet in deutsche Kriegsgefangenschaft, nahm einen Job in der Modebranche an und wurde zu einem der erfolgreichsten Reiseschriftsteller der englischen Literatur. Werke: »The Last Grain Race« (1956), Slowly »Down the Ganges« (1966), »Love and War in the Appenines« (1971) und »The Big Red Train Ride« (1978).


Giacomo Leopardi: Das Massaker der Illusionen

Eichborn 2002, AB 207, 311 S.

Wie Leopardi zu dem Ruf eines eher harmlosen Klassikers gekommen ist, dem allenfalls ein paar schöne, wehmütige Gedichte zu verdanken sind - das ist einigermaßen schleierhaft. Er war, darin Schopenhauer ebenbürtig, einer der radikalsten Pessimisten des 19.Jahrhunderts, und seine Kritik der Zivilisation erinnert an Nietzsche.

Nur, daß er kein philosophisches »Hauptwerk« hinterlassen hat, sondern ein immenses Sudelheft, den berühmten Zibaldone. Aus diesem dreitausendseitigen Konvolut hat Mario Rigoni die historischen und politischen Reflexionen Leopardis ausgezogen, eine Operation, durch die dessen subversive Kraft mit verblüffender Schärfe hervortritt. Ohne jede Rücksicht auf die Konventionen seiner Zeit, fern von rationalistischen Illusionen und utopischen Versuchungen, nimmt Leopardi Revolution und Reaktion, Demokratie und Diktatur, Fortschritt und Konservativismus ins Visier und führt unbarmherzig ihre Widersprüche vor.

Einerseits erweist dieser Autor sich als genuiner Erbe Machiavellis und Guicciardinis, andererseits greift er den Problemen unserer Tage vor. Er besteht darauf, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, nicht wie sie sein sollten. Das unterscheidet ihn von allen Ideologen, damals wie heute.

Giacomo Graf Leopardi, nach Dante und Petrarca der berühmteste Dichter Italiens, wurde 1798 in einer kleinen Ortschaft unweit von Ancona geboren. Sein unglückliches Leben endete 1837 in Neapel. Seine »Operette morali« erschien 1834, die »Canti« 1831, der »Zibaldone«, von dem es keine vollständige deutsche Übersetzung gibt, erst 1898 bis 1900, lange nach seinem Tod.


Werner Bartens, Martin Halter, Rudolf Walther: Letztes Lexikon

Eichborn 2002, AB 208, 331 S.

Das halblederne Mammut im bürgerlichen Wohnzimmer ist so gut wie ausgestorben. Kaum jemand stellt sich heute noch die 25 Bände eines Lexikons ins Regal. Ein Mausklick genügt, und schon rieselt ein Haufen von Informationen auf den Bildschirm. Unser Wissen kennt keinen Kanon mehr, nur noch Bits und Bytes - Zeit für einen Rückblick auf das, was einst Bildung hieß.

»Das Letzte Lexikon ist der Reader's Digest, das lebendige Poesiealbum und der nostalgische Abgesang auf ein großes literarisches Genre«, schreiben die drei Autoren, die ironisch, doch ohne Häme und Besserwisserei einen riesigen Bücherberg durchstöbert haben. Noch einmal führen sie uns die nützlichen Handreichungen und die ideologischen Verirrungen einer 250jährigen Tradition vor Augen.

Martin Halter tummelte sich im Ozean der Hoch- und der Alltagskultur, Werner Bartens taute die eingefrorenen Wissensbestände von Medizin, Technik und Naturwissenschaften auf, und Rudolf Walther fischte in den trüben Gewässern der Politik; ab und zu steigen auch Luftblasen aus Sport, Sexualität oder Theologie auf.

Wer hätte nicht als Kind in einem alten »Konversationslexikon« geschmökert? Bunt und komisch, nüchtern und phantastisch wie auf den knisternden Tafeln, aus denen Max Ernst seine Collagen schuf, zeigt sich der Trümmerhaufen des vergangenen Wissens - ein rührendes und melancholisches Memento mori unserer Weltkenntnis.

Werner Bartens, geboren 1966 in Göttingen, hat Medizin, Geschichte und Germanistik studiert und war lange als Arzt und in der medizinischen Forschung tätig. 1999 ist sein Buch »Die Tyrannei der Gene« erschienen. Seit 2000 ist er Redakteur der Badischen Zeitung.

Martin Halter kam 1953 im Schwarzwald zur Welt. Er lebt als Literatur- und Theaterkritiker in Freiburg.

Rudolf Walther, geboren 1944, lebt in Frankfurt am Main. Fast zwanzig Jahre lang hat er als Redakteur und Autor für das Lexikon »Geschichtliche Grundbegriffe« (1972-1997) gearbeitet; seit 1994 ist erfreier Publizist.


Jan Stage: Niemandsländer

Eichborn 2002, AB 209, 375 S.

Bolivien, Israel, Dogestan, Algerien, Kosovo, Cuba, Königsberg, Afghanistan - das sind einige Stationen der »Reise vom Licht in die Dunkelheit«, die Jan Stage vor 15 Jahren angetreten hat und die kein Ende nimmt. Er benimmt sich weder wie ein Tourist noch wie ein rasender Reporter. Wir haben es mit einem Erzähler vom Schlage Ryszard Kapuscinskis zu tun.

Stets auf das Schlimmste gefaßt, verfällt Stage auch in den gefährlichsten Zonen der Welt nie dem journalistischen Klischee. »Ich bin ein Fremder in meinem eigenen Leben«, sagt er. »Das ist der Preis für all diese Reisen.« Eben dieser Fremdheit ist es zu verdanken; daß er überall überraschende Lebenszeichen findet. Er begegnet Leuten, die sich nicht geschlagen geben und die uns über die Abgründe der Armut und des Krieges hinweg zu verstehen geben, daß wir ihnen gleichen.

»Vor uns landeten die Adler auf der Straße und gingen nur widerwillig zur Seite. Abgesehen von einer unerklärlich großen Menge von Gummischuhen war die Fahrbahn absolut leer. Wie aus dem Wüstengeröll und der welken Vegetation gewachsen, stand plötzlich die Gestalt eines Mannes vor uns. Sein Bart war wohlgepflegt, sein Umhang bestand aus feinster Wolle, und seine Schuhe waren gut geputzt.« So beginnen die hundert politischen und menschlichen Abenteuer, von denen Stage berichtet. jedes von ihnen ist eines großen Romanciers würdig, und jedes von ihnen ist wahr.

Jan Stage, 1937 in Frederiksborg geboren, lebt mit seiner Frau, der Fotografin Julie Melchior, in Vence und in Stubekobing. Er hat Medizin studiert, war Offizier in der dänischen Armee und Mitbegründer des Kopenhagener Fjol-Teatrets. Garcia Marquez, Che Guevara und Vargas Llosa hat er ins Dänische übersetzt. Seit 1961 ist er als Korrespondent unterwegs in allen Krisenregionen der Welt. Er hat zwei Dutzend Bücher veröffentlicht, Romane, Reportagen und Drehbücher, zuletzt »Kriegskorrespondent« (1997) und »Tilfeldighedens kyst« (1998).


Stefan Sullivan: Sibirischer Schwindel

Eichborn 2002, AB 210, 347 S.

Abenteuerroman? Selbstversuch? Risikospiel? Das alles hat der Autor zu bieten; nur einen Reisebericht kann man dieses Buch nicht nennen. Hier wirft sich ein junger Amerikaner hemmungslos seiner Lieblingsphantasie in die Arme und erlebt ein postkommunistisches Road movie in zwei Versionen: einmal als Filmemacher auf den Spuren des sibirischen Schamanentums, das zweite Mal als Handlanger einer hochstaplerischen Import-Export-Firma.

In diesen beiden Rollen verwandelt er sich nicht nur selber, er erfährt auch die Absurdität und den Zerfall der postsowjetischen Welt. Ein wildes Panoptikum von Spekulanten, Auftragskillern, Bürokraten und Alkoholikern tut sich auf. Sullivan gibt sich, frei von jeder Zensur, aber nicht ohne Humor und Zärtlichkeit, dem Aberwitz der Situationen hin, in die er gerät. Selbst dem Horror kann er noch eine Lebenslust abgewinnen, die sich nicht unterkriegen läßt.

Und obwohl er mit seinen literarischen Ambitionen hinter dem Berg hält, zeigt sich bald, daß Sullivan keineswegs ein naiver Abenteurer ist, sondern ein hoch reflektierter, ausgebuffter Intellektueller, der es allerdings vorzieht, sein Licht unter den Scheffel zu stellen - ein Trick, der ihm glücklicherweise immer wieder mißlingt. So kommt es, daß in der Brust des Autors mindestens zwei Seelen wohnen. Die eine erinnert an Charles Bukowski, die andere an Robert Musil.

Stefan Sullivan, 1966 als Sohn einer deutschen Mutter und eines amerikanischen Vaters geboren, ging 1990 in den Wilden Osten Rußlands; er übernahm Forschungsaufträge für die CIA, war als Hubschrauber-Diplomat im Kaukasus unterwegs und vertrieb Schwerlaster in den Öl- und Gasfeldern Sibiriens. Er schrieb Reportagen und Essays für »Newsweek« und »The Baltimore Sun«. Er lebt in Washington, D.C., wo er jede Woche in der Staccato Piano Bar als Jazzpianist und Sänger auftritt. Übrigens trägt er als Politikwissenschaftler einen Doktorhut der Universität Oxford.


Enn Vetemaa, Kat Menschik: Die Nixen von Estland

Eichborn 2002, AB 211, 336 S.

Estland ist bekanntlich das Heimatland der Nixen. An einer wissenschaftlichen Darstellung dieser Spezies hat es bisher gefehlt. Vetemaas Standardwerk bringt diesen Forschungszweig der Dämonologie auf den neuesten Stand und schließt damit eine empfindliche Lücke.

Keinen Naturfreund werden diese anmutigen Geschöpfe gleichgültig lassen. Auch der Autor zeigt sich von ihren Reizen entflammt, was ihn jedoch nicht daran hindert, eine exakte Taxonomie zu entwerfen. Seine Pionierarbeit unterscheidet erstmals die Schönhaarigen (Euplocamidae) von den Lauthalsigen (Carrulidae) und die Nackttitten von den Heulsusen.

Ohne Kat Menschiks kongeniale Illustrationen, mit denen es üppig ausgestattet ist, wäre dieses Bestimmungsbuch freilich nur halbwegs so verlockend. In ihrer Bearbeitung vermählt sich die strenge Wissenschaft mit der heiteren Kunst. Auf diese Weise ist ein einzigartiges Werk entstanden, ohne das in Zukunft kein Liebhaber der Elementargeister auskommen wird.

Enn Vetemaa ist 1936 in Tallin geboren, wo er heute noch lebt. Seine Karriere als Chemieingenieur hat er zugunsten einer Kompositionslehre aufgegeben; später ist er beim estnischen Fernsehen gelandet. Er hat Lyrik, Prosa und Theaterstücke veröffentlicht, darunter »Die Silberspinne« und »Ach so«. Seine »Kleinen Romane« sind auf deutsch 1981 in der DDR erschienen.

Kat Menschik hingegen, die in Luckenwalde geboren ist, kann ihren 34. Geburtstag in Berlin feiern.


Hans-Georg Behr: Fast eine Kindheit

Eichborn 2002, AB 212, 359 S.

Alle Autobiogrophien lügen. Das sind wir, seit Rousseaus Bekenntnissen, gewöhnt. Nicht immer liegt es an der Eitelkeit der Autoren oder daran, daß sie uns ein X für ein U vormachen wollen. Noch schwerer zu vermeiden ist der Umstand, daß man es hinterher immer anders und womöglich besser zu wissen glaubt. Dieser perspektivischen Falle zu entgehen, dazu braucht es mehr Kunst, ein besseres Gedächtnis und mehr Unbefangenheit, als den meisten von uns beschieden ist.

Behrs Geschichte verzichtet auf die Retrospektive. Er erzählt sie von vorn, so, wie sie sich dem Fünf-, dem Zehn-, dem Vierzehnjährigen dargestellt hat. Das ist eine außergewöhnliche Tour de force. Wir sehen alles mit den Augen einer Person, die »das Kind« oder »der Junge« heißt: die Familiendramen, die Nazi-Zeit, den Krieg, die Besatzung, die Abnormitäten der Normalisierung... Und dabei verfällt Behr niemals in jenen »kindlichen« Tonfall, der bekanntlich die Intelligenz eines jeden Sechsjährigen beleidigt.

Es ist schwer, diesem Jungen etwas vorzumachen. Gerade seine Ahnungslosigkeit macht ihn immun gegen die Lebenslügen seiner großbürgerlichen Familie. Nichts imponiert ihm, weder sein reichsdeutscher Vater, ein Generalmajor im Berliner Luftfahrtministerium, noch »Onkel Hermann«, »Onkel Albert« oder »Onkel Josef«, deren Zunamen zu erraten dem Leser überlassen bleibt. Mehr als für den Bombenkrieg und die Russenangst interessiert sich »das Kind« für den Dieb von Bagdad im Dorfkino, für Doktorspiele und Freßpakete, und selbst das Klosterinternat scheitert daran, es endgültig ab- und zugrunde zu richten.

Hans-Georg Behr ist 1937 in Wien geboren. Er studierte Medizin, klinische Psychologie und Linguistik und schrieb für »Die Zeit«, den »Stern«, das »Kursbuch« und »Trans-Atlantik«. Unter seinen Buchpublikationen sind zu nennen: »Söhne der Wüste« (1975); »Die Moguln« (1970); »Weltmacht Droge« (1980); »Von Hanf ist die Rede« (1982) und »Unsere Unterwelten« (1983). Er lebt in Hamburg und in Wien.


Peter Haffner: Grenzfälle

Eichborn 2002, AB 213, 371 S.

Fünf Jahre lang war Peter Haffner immer wieder als Grenzgänger zwischen Zittau im Dreiländereck und Swinemünde an der Ostsee unterwegs. Einen deutschen Journalisten, der sich auf ein solches Abenteuer eingelassen hätte, kann man mit der Lupe suchen. Vielleicht kann nur ein Schweizer Autor, der sich frei von politischen Erblasten und unberührt von ost-west-deutschen Familienkrächen auf den Weg macht, diese europäische Verwerfungszone unbefangen erforschen.

In ein paar Jahren soll Polen der Europäischen Union beitreten. Niemand ist auf den Fall der Trennlinie wirklich vorbereitet. Wer kennt schon eine deutsche Geisterstadt wie Guben oder die polnische Boomtown Slubice, eine »Weltstadt en miniature«? Wer ist, wie Peter Haffner, den Veteranen und den Rowdys, den Schatzsuchern und den Wisent-Züchtern auf beiden Seiten begegnet, wer kennt die Gräber und die Gefängnisse, die wimmelnden Basare und die einsamen Weiler an Oder und Neiße?

Überraschendes findet unser Gewährsmann, jenseits aller Politikerreden und Medienklischees, hier wie dort. »Deutschland«, stellt er fest, »lebt mit dem Rücken zur Grenze, während Polen sich auf den Nachbarn eingestellt hat und blühende Geschäfte macht. In gewissem Sinne haben sich die Verhältnisse von Arm und Reich umgekehrt: Polen, obzwar weniger betucht, ist ungleich initiativer als Ostdeutschland.«

Haffner geht mit den Mitteln der literarischen Reportage vor. In vier Exkursen bringt er die historischen Hintergründe in Erinnerung; doch lebendig wird die Geschichte dieser verwundeten Region dadurch, daß er Leute zum Sprechen bringt, die außer ihm noch keiner gefragt hat.

Peter Haffner, 1953 in Zürich geboren, hat in seiner Heimatstadt Philosophie und Geschichte studiert, war ein Jahrzehnt lang freier Journalist und ist seit 1991 Redakteur beim NZZ-Folio, dem monatlichen Magazin der »Neuen Zürcher Zeitung«. Für seine Reportagen wurde er mit dem Kisch-Preis und mit manchen anderen Ehrungen ausgezeichnet.


Andreas Urs Sommer: Die Kunst, selber zu denken

Eichborn 2002, AB 214, 297 S.

Ein junger Schweizer Philosoph, der noch dazu im tiefen Osten Deutschlands lebt, tritt hier mit souveräner Chuzpe auf den Plan. Es ist kein manierierter Einfall, daß dieses Buch sich Dictionnaire nennt, statt, wie andere seiner Art, ein Philosophisches Wörterbuch. Denn es ist nicht zum Nachschlagen da, sondern zum Lesen. Damit huldigt der Verfasser einer verloren geglaubten Tradition und Vorläufern wie Pierre Bayle und Voltaire. Diese Philosophen schrieben nämlich weniger für ihre Kollegen als für ein Publikum, das gewohnt war, außerhalb der Seminare zu denken; und das heißt, sie schrieben höflich, witzig und ohne Respekt für die Usancen des akademischen Betriebs.

So hält es hier Andreas Urs Sommer, der uns nicht von irgendeiner eigenen fixen Idee überzeugen, sondern in eine Debatte verwickeln will, bei der wir vermutlich ebenso hin- und hergerissen sind wie der Autor.

»Der Verfasser hat gerade beschlossen, überhaupt jede Verantwortung für das vorliegende Buch von sich zu weisen.« So steht es bereits auf der dritten Seite, und Sommer beruft sich dabei auf die Bibel, wo es heißt: »Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben.« (Johannes 19,22) Eine Frechheit!

Unter den Stichworten des Dictionnaires findet sich neben Gott, Genom und Emanzipation auch der Bauch des Philosophen, ferner Duzen, Sex, Klatsch und Schweizer Banken.

Man wird sich also auf eine Lektüre gefaßt machen müssen, die der Unterhaltung ebenso zugute kommt wie dem intellektuellen Training; daß einem dabei manchmal ein wenig schwindlig wird, könnte daran liegen, daß der kurvenreiche Weg von der Apokalyptik bis zum Zynismus einer Achterbahn gleicht.

Andreas Urs Sommer, 1972 in Zofingen geboren, habilitiert sich soeben mit einerArbeit über Geschichtsphilosophie und Theologie im 18. Jahrhundert. Er hat Philosophie, Literaturwissenschaft, Kirchen- und Dogmengeschichte studiert und unter anderem einen großen Nietzsche-Kommentar verfaßt. Heute lehrt er in Greifswald.
Ein weiterer Band von ihm erschien 2012 in der Anderen Bibliothek: AB 326 »Lexikon der imaginären philosophischen Werke«.


Anita Albus: Paradies und Paradox

Eichborn 2002, AB 215, 327 S.

Auch wenn es manchmal danach aussieht: Kunst muß nicht unwissend, Gelehrsamkeit nicht öde sein. Anita Albus lädt mit diesem Buch zu einem Spaziergang durch fünf Jahrhunderte ein, auf dem es zu wunderbaren Begegnungen zwischen Malern und Philosophen, Schriftstellern und Forschern kommt.

Dieser Parcours beginnt in der Spätrenaissance. Dort trifft sich der Miniaturist Joris Hoefhagel mit dem Kosmographen Abraham Ortelius, dem christlichen Kabbalisten Guillaume Postel und anderen Gelehrten, Sammlern und Nomaden des 16. Jahrhunderts. Im 17. Jahrhundert folgt Maria Sibylla Merian ihren »Grillen« bis nach Surinam. Was Gott schuf, ordnete Carl von Linné im 18. Jahrhundert. Biographische Skizzen berühmter Botaniker schließen sich an. Wie Naturforscher beobachten die Brüder Goncourt ihre Zeitgenossen im 19. Jahrhundert. In der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust geht Anita Albus den Geheimnissen Vermeers nach, und am Ende erscheint der junge Vladimir Nabokov im Spiegel einer Sperbereule, um die zwei Schmetterlinge von Hoefnagel flattern.

Im Geiste Panofskys legen diese Geschichten verschüttete Traditionen frei. Die Autorin selber erweist sich als brillante Vertreterin der Spezies, die sie beschreibt: indem sie schreibt und malt, betreibt sie eine fröhliche Wissenschaft, die manches Rätsel löst und überraschende Entdeckungen macht.

Ein üppig illustrierter Prachtband mit vielen Bildern, die man noch nie gesehen hat.

Anita Albus lebt in München und im Burgund. Für die ANDERE BIBLIOTHEK hat sie Porträts aus den Tagebüchern der Goncourts übersetzt (Blitzlichter, 1989) und Werke von Rudolf Borchardt und Claude Levi-Strauss illustriert. 1997 erschien ihr bisheriges Hauptwerk: »Die Kunst der Künste. Erinnerungen an die Malerei«. Weitere Publikationen: »Der Garten der Lieder« (1974); »Farfallone« (Roman, 1989); »Liebesbande« (Erzählungen, 1993).


Konstantin Paustowskij: Der Beginn eines verschwundenen Zeitalters

Eichborn 2002, AB 216, 527 S.

Paustowskijs berühmte Autobiogrophie erreicht ihren dramatischen Höhepunkt mit dem Ausbruch der Februar-Revolution. Dieses Ereignis überrascht im Kiew des Jahres 1917 einen ahnungslosen fünfundzwanzigjährigen Taugenichts ohne festen Beruf, der im Ersten Weltkrieg seine Haut als Sanitäter gerettet hat und nun in den Strudel einer Umwälzung gerät, bei der man jederzeit aus reinem Zufall erschossen werden kann.

In den Wirren des Bürgerkriegs landet Paustowskij in Isaak Babels Odessa, wo er die panische Flucht der weißen Emigranten miterlebt. Nach der Blockade der Stadt tritt eine große Stille ein, und in Jalta und Batumi erlebt der angehende Schriftsteller Momente einer trügerischen Idylle.

Paustowskij ist alles andere als ein Ideologe. Er versteht sich nicht als Akteur, sondern als Zuschauer des welthistorischen Dramas. Die atmosphärische Dichte seiner Erzählung, seine Fähigkeit, große Ereignisse en miniature zu beschreiben, und vor allem eine unerklärliche Heiterkeit machen eine verschwundene Zeit lebendig, ohne die auch das heutige Rußland nicht zu verstehen ist.

Konstantin Georgiewitsch Paustowskij ist 1892 in Moskau geboren und ebendort 1968 gestorben. Er führte lange Zeit ein vagabundierendes Dasein, bis er sich schließlich 1925 als Schriftsteller behaupten konnte. Sein Hauptwerk ist sicherlich die »Erzählung vom Leben«, eine Autobiographie in sechs Bänden.´


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© Ralf 2006