AB - Die Andere Bibliothek 2003


Koen Brams: Erfundene Kunst
Jorge Luis Borges: Eine neue Widerlegung der Zeit
Moebius: Zeichenwelt
Edward Gibbon: Der Sieg des Islam
Anonyma: Eine Frau in Berlin
Gustave Flaubert: Bouvard und Pécuchet
Sybille Bedford: Ein Vermächtnis
Dietmar Dath: Höhenrausch
Per Hoejholt: Auricula
Prinz Asfa-Wossen Asserate: Manieren
Cord Riechelmann: Bestiarium
Robert Burton: Die Anatomie der Schwermut


Koen Brams: Erfundene Kunst

Eichborn 2003, AB 217, 375 S.

Nein, hier geht es nicht um Fälschungen, sondern um Kunst in der zweiten Potenz! Die Romanciers und die Dichter haben von jeher Gefallen daran gefunden, alle Sachverständigen der Kunstgeschichte zu übertreffen, und sie haben ein Paralleluniversum erfunden, in dem es von Genies und Schwindlern, Selbstmördern und Größenwahnsinnigen wimmelt.

An diesem Spiel der Spiegelungen haben sich von Shakespeare und Calderón bis Proust und Nabokov, von Goethe und Tolstoj bis Calvino und Sebald, Siegfried Lenz und Botho Strauß viele große Autoren beteiligt. Die merkwürdigsten Überraschungen erwarten den Leser, der in diesem Irrgarten lustwandelt.

Denn er wird hier nicht mit einer gewöhnlichen Anthologie abgespeist, sondern mit Hunderten von witzig nacherzählten Lebensläufen dazu verführt, an eine Kunst jenseits der Museen zu glauben, mit allem, was zu einem seriösen Staudardwerk gehört. Ihn erwarten nicht nur abenteuerliche Biographien; auch die imaginären Werke werden geschildert, die Triumphe und Niederlagen auf dem Markt, die Machenschaften der Kritiker und der Händler...

Fünfhundert Jahre einer alternativen Kunstgeschichte also - um so wahrer, da jedes Wort in diesem Buch erlogen ist.

Koen Brams, geboren 1964, war Herausgeber der Kunstzeitschrift »De Witte Raaf« und ist heute Direktor der Jan-van-Eyck-Akademie in Maastricht.


Jorge Luis Borges: Eine neue Widerlegung der Zeit und 66 andere Essays

Eichborn 2003, AB 218, 431 S.

Die Erzählungen! Immer wieder dieselben, vielzitierten Erzählungen. Doch Borges kann nicht erzählen, ohne zu denken, und nicht denken, ohne zu erzählen. Deshalb sind seine Essays nicht weniger phantastisch, radikal und »fabelhaft« als seine Ficciones - ja, vielleicht steckt in ihnen sogar der eigentliche Kern seiner Autorschaft. Sonderbar, daß sie in keiner handlichen Ausgabe auf dem Markt zu finden sind. Viele von ihnen nennen sich »Historien«, »Träume« oder »Rätsel«, und alle sprengen den hergebrachten Begriff des Essays und verleihen der Gattung einen neuen, irisierenden Glanz.

Die frühesten unter diesen Stücken, kaum bekannt, sind achtzig Jahre alt, und sie wirken so frisch und überraschend wie am ersten Tag. Die Themen sind so vielfältig, daß man sich an den Kopf greift. Von der »Kunst des Schmähens« handeln sie, von der »Dauer der Hölle«, von Kabbalisten und Schildkröten, Denkmaschinen und Engeln.

Bisher unbekannt war hierzulande, was Borges über die Deutschen, die Juden und den Zweiten Weltkrieg schrieb. Diese Texte widerlegen die schwarze Legende, derzufolge man es mit einem unpolitischen oder gar »rechten« Schriftsteller zu tun hat. Es ist kein Zufall, daß Borges sich so gerne mit »Rechtfertigungen« und »Widerlegungen« befaßt hat. Den Zeitgeist hat er stets verachtet, und zum Mainstream wird er nie gehören.

Für eine Kurzbiographie ist Borges zu berühmt; es mag genügen zu sagen, daß er 1899 in Buenos Aires geboren und ebendort 1986 gestorben ist.


Moebius: Zeichenwelt
Von Andreas Platthaus vorgeführt

Eichborn 2003, AB 219, 299 S.

Wer ist Moebius? Schwer zu sagen. Mit seiner Identität hat dieser Künstler ein virtuoses Doppelspiel getrieben. Auch den Namen seines Doubles Jean Giraud kennt außerhalb der Comic-Welt nicht jeder, obwohl es sich um einen der größten Meister dieses Mediums handelt: um einen proteischen Freibeuter, der die Aneignung von Erzähl- und graphischen Mustern aus sämtlichen Regionen der Hoch- und der Populärkultur auf die Spitze getrieben hat.

Zeichnungen aus den Carnets, Entwürfe, Studien, Titelbilder, Detailvergrößerungen schließen die legendäre Welt »Girs« alias Moebius auf-. angefangen mit Blueberry (1963 1983) über Le garage hermétique (1976-1979) bis zu der Space-Saga John Difool (1980 - 1989). All seinen Figuren begegnet Moebius in einer autobiographischen Bildgeschichte, die hier zum ersten Mal erscheint. Sie ist das Herzstück dieses Buches und stellt eine kleine Sensation dar.

Aus dem unerschöpflichen Archiv einer vierzigjährigen Produktion hat Andreas Platthaus für diesen Band wählen können. In einem ersten Durchgang schildert er die Biographie und die ästhetischen Beutezüge des Zeichners und deutet seinen zwiegesichtigen Mythos. Den Abschluß bildet ein weiterer Essay von Platthaus, eine Retrospektive, die bei Windsor McCay beginnt und mit den umstürzenden Entwicklungen der letzten zehn Jahre endet: dem Manga, der Literaturadaption, dem Reportage-Comic. Am Ende stellt sich die Frage nach der Zukunft dieses Mediums. Hat Moebius die Grenzen des Comics so weit ausgelotet, daß jenseits von ihm nur noch Platz für Eklektiker und Epigonen geblieben ist?

Jean Giraud ist 1938 in Fontenay-sous-Bois bei Paris geboren. Über sein bewegtes Leben, das er mit einem Moebius-Band vergleicht, gibt dieses Buch einige Auskunft.

Andreas Platthaus lebt als Redakteur der F.A.Z. in Frankfurt am Main.


Edward Gibbon: Der Sieg des Islam

Eichborn 2003, AB 220, 383 S.

Gibbon - das war doch dieser Engländer, der das berühmte Werk über den Untergang des Römischen Reiches geschrieben hat? Allerdings. Doch offenbar hat kaum jemand seine 3000 Seiten samt 8000 Fußnoten zu Ende gelesen. Sonst hätte das verehrte Publikum bemerkt, daß Gibbon gegen Ende seiner großen Erzählung einen souveränen Bericht über den Aufstieg dieser Weltreligion, über Mohammeds Leben und Tod, die islamischen Eroberungen auf drei Kontinenten, über das Kalifat, seine Triumphe und Niederlagen verfaßt hat.

Gibbons Geschichtsphilosophie steht uns heute näher denn je zuvor, denn er glaubt nicht an irgendwelche ehernen historischen Gesetze. Leidenschaften und Zufälle bestimmen in seinen Augen die Evolution der Menschheit. Er ist einer der Pioniere der Religionswissenschaften, der Sozial- und der Wirtschaftsgeschichte, und dazu noch weiß er besser, spannender und ironischer zu erzählen als die meisten seiner Nachfolger. Den Apologeten und Ideologen des Westens und des Orients zieht er auf diese Weise gleichermaßen den Boden ihrer Vorurteile unter den Füßen weg.

Gibbons Quellenkenntnis war immens. Weil sich in der Forschung aber seit dem 18. Jahrhundert allerhand getan hat, wird seine Darstellung in dieser Ausgabe durch einen ausführlichen Essay von Reinhard Schulze ergänzt, dem Autor eines Standardwerks über die Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert.

Edword Gibbon, 1737 in Putney geboren, ist der berühmteste englische Historiker aller Zeiten. Sein Hauptwerk, die »History of the Decline und Fall of the Roman Empire«, erschien 1776-1788 in London, wo der Autor auch 1794 verschieden ist. Einen umfangreichen Gibbon-Reader hat die ANDERE BIBLIOTHEK 1987 vorgelegt.


Anonyma: Eine Frau in Berlin.
Tagebuchaufzeichnungen vom 20.April bis 22.Juni 1945

Eichborn 2003, AB 221, 297 S.

Wer erfahren will, wie es wirklich war, wird sich an die Frauen halten müssen. Denn die Männer haben sich in den Ruinen als »das schwächere Geschlecht« gezeigt. So sieht es die Autorin dieses Buches, die das Ende des Krieges in Berlin erlebt hat.

Ihre Aufzeichnungen sind frei von jeder Selbstzensur. Ohne die geringste Retouche sind sie 1959 in einem kleinen Schweizer Verlag erschienen. Seitdem waren sie nicht mehr zugänglich; erst nach dem Tod der Verfasserin ist eine Neuausgabe möglich geworden. Nicht das Ungewöhnliche wird in diesem einzigartigen Dokument geschildert, sondern das, was Millionen von Frauen erlebt haben: zuerst das Überleben in den Trümmern, ohne Wasser, Gas und Strom, geprägt von Hunger, Angst und Ekel, und dann, nach der Schlacht um Berlin, die Rache der Sieger.

Von jenem Selbstmitleid, an dem die geschlagenen Deutschen litten, fehlt hier jede Spur. Illusionslose Kaltblütigkeit, unbestechliche Reflexion, schonungslose Beobachtung und makabrer Humor zeichnen das Tagebuch aus. Lakonisch stellt die Autorin fest: »Die Geschichte ist sehr lästig.« Auch darin zeigt sich ihre innere Überlegenheit, daß sie sogar unter den vergewaltigenden und plündernden russischen Soldaten noch sehr genau zu differenzieren weiß.

Neben Ruth Andreas-Friedrich und Margret Boveri tritt hier eine dritte Zeugin auf, deren Bericht jahrzehntelang verschollen war. Niemand, der ihn liest, wird ihn wieder vergessen.


Gustave Flaubert: Bouvard und Pécuchet

Eichborn 2003, AB 222, 501 S.

Zwei kleine Büroangestellte, an ihr Schreibpult gefesselt, sind durch eine unerwartete Erbschaft reich geworden. Aber in diesen armseligen Kopisten steckt ein Ehrgeiz, der vor nichts zurückschreckt. Sie ziehen sich aufs Land zurück und machen sich daran, sämtliche Wissenschaften der Moderne zu durchmustern. Zwar sieht Pécuchet schwarz für die Zukunft der Menschheit; aber dafür malt Bouvard sich den Fortschritt in den rosigsten Farben. Am Ende haben die beiden Maulwürfe alles durchprobiert: Landwirtschaft und Schnapsbrennerei, Chemie und Medizin (samt Ayurveda), Geologie und Geschichte, Archäologie und Literatur, politische Ökonomie und Fitneßtraining, Esoterik und leider auch Theologie. Jedem heißen Bemühen folgt ein Mißerfolg, und jedesmal gehen die beiden aus der Pleite verjüngt hervor. Sie fühlen sich neugeboren, genau so wie Sades Justine nach jeder Ausschweifung. Doch am Ende ihrer Irrfahrt kehren sie, vielleicht nicht klüger, aber weiser geworden, an ihr Kopistenpult zurück.

Weit vor Joyce läutet dieses Buch, Flauberts Opus magnum aus dem Jahr 1881, unwiderruflich die Moderne ein. Es ist ein satirisches, komisches und rührendes Kompendium ihrer Urgeschichte aus der Sicht zweier »Kellerasseln«. Für eine neue, an den handschriftlichen Materialien und Entwürfen orientierte Übersetzung war es höchste Zeit. Der Übersetzer wird in folgenden Editionen das zum ersten Mal vollständig ans Licht bringen, was die beiden melancholischen Käuze im Lauf ihres Lebens so alles abgeschrieben haben: Flauberts ausladende Enzyklopädie der menschlichen Dummheit.

Über Gustave Flaubert (1821-1880) kein weiteres Wort. Hans-Horst Henschen ist wahrscheinlich der kenntnisreichste unter den deutschen Flaubertianern. Übersetzt hat er unter vielen anderen Roland Barthes, Claude Lévi-Strauss, Aldous Huxley und Michael Walzer. In der ANDEREN BIBLIOTHEK ist 1991 seine deutsche Version der »Totengespräche « von Bernard de Fontenelle erschienen.

Noch ein kurzes Wort zur Ausgabe: Das Buch enthält einige Abbildungen, um die es einen Rechtsstreit gab. Die Folge war, daß in einem großen Teil der Ausgabe diese wenigen Abbildungen verdeckt, genauer, überklebt wurden: somit gibt es also zensierte und ein kleinerer Teil unzensierte Exemplare, die an Abonnenten gingen.


Sybille Bedford: Ein Vermächtnis

Eichborn 2003, AB 223, 399 S.

Die Jahre, bevor in Europa die Lichter ausgingen, sind merkwürdig unterbelichtet geblieben. Kein deutscher Erzähler, mit Ausnahme von Thomas Mann, hat uns einen großen Gesellschaftsroman hinterlassen, der uns diese reiche, ahnungslose, schwer begreifliche Zeit fühlbar machen könnte. Nicht zufällig ist es eine Emigrantin, gebürtig in Berlin, aufgewachsen zwischen Deutschland, Frankreich und England, die diese Lücke geschlossen hat. Vertraut mit der Atmosphäre der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, mit dem jüdischen Großbürgertum Berlins ebenso wie mit dem badischen Landadel, entwirft Sybille Bedford ein Diorama dieser fernen Welt. Auf brillante Weise verbindet sie Elemente des Bildungs- und des Familienromans mit der politischen Kolportage. Boom und Ruin, Antisemitismus und Kulturkampf, militärischer Wahn und liberales Aufsteigertum bilden den historischen Hintergrund des Romans, dessen Handlung ein halbes Jahrhundert umspannt.

Julius von Felden, der Vater der Erzählerin, ist ein adeliger Kosmopolit, der das wilhelminische Preußen verabscheut und mit stoischer Würde den Schicksalsschlägen und Skandalen begegnet, mit welchen die Epoche ihn belästigt. Seiner Tochter kommt ein erstaunliches autobiographisches Gedächtnis zugute, das, auf beinah Proustsche Weise, die sprechenden Details einer verlorenen Zeit bewahrt hat. Wie genau sich der ebenso spannende wie komplexe Roman an die historische Realität hält, geht aus einem Dossier hervor, das Reinhard Kaiser zusammengestellt hat und das mit überraschenden Funden aufwartet. In England gilt A Legacy seit langem als ein Klassiker der Moderne.

Sybille Bedford ist 1911 in Berlin geboren, nach langen Jahren in Frankreich, Spanien und Italien lebte sie in London, wo sie 1993 verstorben ist. Ihre wichtigsten Werke sind.»A Visit to Don Octavio« (1953, deutsch 1960), »A Compass Error« (1968, deutsch 1969), »Aldous Huxley. A Biography« (1973) und »Jigsaw« (1989, deutsch 1992).


Dietmar Dath: Höhenrausch. Die Mathematik des XX. Jahrhunderts in zwanzig Gehirnen.

Eichborn 2003, AB 224, 447 S.

Keine Angst! Dies ist kein Fachbuch. Es verlangt keine mathematischen Vorkenntnisse - nur die Bereitschaft des Lesers, die Welt, in der er lebt, als eine zu entziffern, die mit Mathematik durchtränkt ist. Das zwanzigste Jahrhundert war ein goldenes Zeitalter dieser Wissenschaft. Ihre abstrakten Strukturen werden hier an Hand von Lebensgeschichten erzählt und »begehbar« gemacht. Cantor, Hilbert und Poincaré sind die Portalfiguren des Jahrhunderts; aber wer kennt Emmy Noether, Dirac, Chaitin, Stephen Wolfram und Edward Witten, wer wüßte zu sagen, was sie entdeckt haben? Zwanzig Gehirne, das sind auch zwanzig Schicksale.

Hier ist mit braven Nacherzählungen nichts auszurichten. Dietmar Dath erlaubt sich Tonfälle, die dem landläufigen Wissenschaftsjournalismus nicht zu Gebote stehen. Neben dem klassischen Essay verfügt er über ein reiches Register von Darstellungsweisen: die Briefform, den Dialog, die Science-fiction-Geschichte... Ein Psychiater unterhält sich mit Prinz Hamlet über Poincaré; Kolmogorov wird mit einem Auftritt Joseph Stalins vorgestellt; zwei coole Frauen unterhalten sich über die irrationale Zahl 0; Gödel wird an Hand einer Gespenstergeschichte diskutiert, die am theologischen Seminar der Universität Princeton spielt; und Turing erscheint in einer E-Mail-Korrespondenz über Sex und künstliche Intelligenz.

Wer es genauer wissen möchte, für den hat der Autor Textinseln mit Illustrationen, Erläuterungen und Beispielen eingerichtet. Wer Formeln haßt, wird sie überlesen; mutige Leser werden sich daran ergötzen.

Dietmar Dath, geboren 1970, lebt in Freiburg im Breisgau und in Frankfurt am Main. Als Autor arbeitet er an der Schnittstelle zwischen den »zwei Kulturen«. Von 1998 bis 2000 war er Chefredakteur der Zeitschrift Spex. Er hat mehrere Romane publiziert. »Die Ehre des Rudels« (1996); »Phonon« (2001); »Schwester Mitternacht« (2002); ferner ein Sachbuch: »Schöner Rechnen. Die Zukunft der Computer« (2002). Seit2001 ist er Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.


Per Højholt: Auricula

Eichborn 2003, AB 225, 411 S.

Die Hauptpersonen dieses unverschämten Romans sind keine Menschen, sondern auriculae, zu deutsch: Ohren. Højholt hat die Stirn, zu behaupten, in Europa habe am 7. September 1915 die Zeit stillgestanden, einen Moment lang, zu kurz, daß es jemandem aufgefallen wäre. Die Kinder, die in dieser Zeitlücke gezeugt wurden, kamen neun Monate später nicht allein zur Welt. Mit ihnen erblickten zahlreiche Ohren das Licht, die sich selbständig machten und auf die Wanderschaft begaben. Heimlich durchstreiften sie in kleinen Trupps das zwanzigste Jahrhundert, beobachteten seine Katastrophen und inspirierten seine Kunst und seine Wissenschaft. Überall nisteten sich diese sonderbaren Wesen ein. Sie suchten Kafka und Einstein, Duchamp und Joyce heim und spionierten die gesamte Moderne aus. Der Autor weiht uns in die Biologie, die Psychologie und das Sexualleben der Ohren ein und läßt uns an ihren bizarren Abenteuern teilnehmen. Über seine literarischen Vorgänger läßt er uns nicht im unklaren; sie heißen Lawrence Sterne, Lewis Carroll und Jorge Luis Borges; seine Chuzpe aber gehört ihm allein. Højholt, das Enfant terrible der dänischen Literatur, erschreckt und amüsiert uns mit seinem Hauptwerk, an dem er zwanzig Jahre lang geschrieben hat.

Auricula ist ein wahnsinnig gewordener Unterhaltungsroman, eine auf den Kopf gestellte Enzyklopädie, ein hysterisch kichernder Essay. Subtil und lüstern, minutiös und rührend, konsequent und munter trotzt dieses Buch allen Regeln der Kunst und schreibt sie neu.

Per Højholt ist angeblich 1928 in Esbjerg geboren. Er soll heute in Silkeborg, einer kleinen Stadt in Jütland, leben. Seine über fünfunddreißig Bücher aufzuzählen fehlt uns der Mut; lassen wir es bewenden mit »Poetens hoved« (1963), »Digte« 1963-1979 (1982) und »Praxis 1-12« (1977-1998). Auf deutsch ist erschienen: »Der Kopf des Poeten. Gedichte« und die CD »Straelen« 1998.


Prinz Asfa-Wossen Asserate: Manieren

Eichborn 2003, AB 226, 391 S.

»Der beste Kenner eines Landes und seiner Gesellschaft«, schrieb einst der große Soziologe Georg Simmel, »ist der Fremde, der bleibt.« DerAutor dieses Buches, ein äthiopischer Prinz, der seit Jahrzehnten in Deutschland lebt, ist ein solcher Fremder.

Die europäischen Sitten in ihrer deutschen Spielart sagen mehr über uns, als wir, in unserem Mißtrauen gegen die Tradition, gemeinhin glauben. Über die Zähigkeit der Manieren kann man sich wundern, ärgern oder freuen. Radikale Demokraten betrachten sie als eine Art stillen Skandal, weil sie gegen das heilige Gebot der Gleichheit verstoßen. Andere verteidigen die Höflichkeit gegen ihre Verächter. Fest steht nur, daß sich Manieren nie einwandfrei begründen lassen; sie sind der leibhaftige Anachronismus. Und da kein Mensch und keine Gesellschaft mit sich selber gleichzeitig sein kann, lohnt es sich, intelligent mit ihnen umzugehen.

Manieren ist kein Anstandsbuch. Es liegt dem Autor fern, dem Leser Vorschriften zu machen. Doch die ungeschriebenen Regeln faßt er genau ins Auge. Ist der Handkuß peinlich? Kann man den Spießer loben? Sind Contenance und Diskretion Fremdwörter? Hatten auch die Kommunisten Manieren? Stirbt das Kompliment aus? Wie vulgär ist die Mode? Gibt es Damen und Herren oder nur Männer und Frauen? Solche und hundert andere Fragen werden hier erörtert.

Prinz Asfa-Wossen Asserate, 1948 in Addis Abeba geboren, ließ sich nach der äthiopischen Revolution von 1974 in Deutschland nieder. Er hat in Tübingen und Cambridge studiert und in Frankfurt/M. promoviert. Dort war er auch als Pressechef der Messegesellschaft tätig; heute arbeitet er als Unternehmensberater für Afrika und den Mittleren Osten.


Cord Riechelmann: Bestiarium

Eichborn 2003, AB 227, 351 S.

Es ist nun schon hundertvierzig Jahre her, daß der liebe Brehm sein "Illustriertes Thierleben" vorgelegt hat. Die moderne Verhaltensforschung hat mit seinen anthropomorphen Kurzschlüssen gründlich aufgeräumt. Cord Riechelmann folgt weniger unserm Blick auf die Tiere als dem Blick der Tiere auf ihre Welt. Das ist nicht nur lehrreich, es kann auch äußerst amüsant sein. Aber wir lachen nicht über die Tiere; es wäre uns lieber, könnten die Tiere mit uns und über unsere Beobachtungen lachen.

Als Versuchsgelände dient dem Autor der Berliner Zoo, ein Ambiente, das die Illusion der Unmittelbarkeit von vornherein ausschließt. Dennoch fallen Riechelmann immer wieder Ähnlichkeiten zwischen dem Homo sapiens und anderen Arten auf. So, wenn ein Schwarzer Panther mit seiner Pflegerin ums Zu-Bett-Gehen streitet oder wenn ihn der Tanz des Kranichs an die Arbeiten von Johann Kresnik erinnert. Den rationalistischen Ton der Ethologie konterkariert Riechelmann durch die Bildsprache der Indianer und die Mythen der australischen Aborigines.

Über hundert Arten passieren in diesem Buch Revue; auch mit weniger bekannten Geschöpfen wie dem Dschelada, dem Komodowaran und dem Rennkuckuck kann der Leser Bekanntschaft schließen. Und die herrlichen kolorierten Stiche aus dem 18. Jahrhundert verleihen mit ihrer rührenden Präzision dem Band einen Hauch von historischer Tiefe.

Cord Riechelmann, 1960 in Celle geboren, studierte Biologie und Philosophie in Berlin. 1999 bis 2002 war er Kolumnist für die Berliner Seiten der F.A.Z. Er lebt in Berlin.


Robert Burton: Die Anatomie der Schwermut

Eichborn 2003, AB 228, 431 S.

Burtons Riesenwerk handelt von einem Leiden, das jeder kennt. Die moderne Medizin möchte es auf den klinischen Begriff der Depression reduzieren, aber damit ist es nicht getan. Denn die Melancholie ist von der Condition humaine nicht zu trennen; nur dem Stumpfsinnigen ist sie unbekannt.

Der Autor dieses Buches spricht zu uns aus einer Distanz von mehr als dreihundert Jahren; doch es fällt uns nicht schwer, unsere eigenen Erfahrungen in den seinigen wiederzuerkennen. Seine lebenslange Schwermut äußert sich empört, aber nicht verbittert, illusionslos, aber im Gesprächston eines Menschen, dem man vertrauen kann. Was er uns hinterlassen hat, ist keine medizinische Abhandlung, sondern ein Weltpanorama, in dem von Liebe und Religion, Wahn und Sex, Politik und Krieg ebenso die Rede ist wie von der »schwarzen Galle«.

Burton ist ein glänzender Erzähler und ein scharfsinniger Psychologe. Paradoxerweise ist sein Werk zu einem Unterhaltungsschlager der englischen Literatur geworden. Noch im Jahre 2001 hat ein Kritiker behauptet, es sei »the book to end all books«. Es ist höchste Zeit, dem deutschen Publikum diesen Text wieder zugänglich zu machen.

Ulrich Horstmann, selbst ein Melancholiker von hohen Graden, hat aus den 1400 Seiten des Originals einen philologisch getreuen Extrakt gezogen und einen klugen Essay beigesteuert.

Über Robert Burtons Leben ist nicht viel zu sagen. Geboren 1577, war er sein Leben lang als Geistlicher und Gelehrter am Christ Church College zu Oxford tätig und ist daselbst 1640 gestorben. Ulrich Horstmann lehrt Anglistik an der Universität Gießen. Seine wichtigsten Publikationen sind: »Das Untier« (1983); »Patzer. Roman« (1990); »Abtrift. Neue Essays« (2000) und »J. Ein Halbweltroman« (2001).



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© Ralf 2006