• Philipp Blom: Sammelwunder, Sammelwahn
• Marie-Luise Scherer: Der Akkordeonspieler
• Sören Kierkegaard: Geheime Papiere
• Ludovico Ariosts Rasender Roland nacherzählt von Italo Calvino
• Lewis Wolpert: Unglaubliche Wissenschaft
• Edmund Hallet Carr: Romantiker der Revolution
• Hans Christoph Buch: Tanzende Schatten
• Gabriele Goettle: Experten
• Robert Byron: Der Weg nach Oxiana
• Gabriele Riedle: Versuch über das wüste Leben
• Jochen Hörisch: Theorie-Apotheke
• Oliver Lubrich: Reisen ins Reich 1933 bis 1945
Eichborn 2004, AB 229, 407 S.
Warum häufen Menschen so viele Dinge auf, die sie nicht brauchen? Millionen von Sammlern geben sich einer Passion hin, die wahnhafte Züge annehmen und doch so hinreißende Triumphe feiern kann. Vielleicht handelt es sich um den heroischen Versuch, Ordnung - irgendeine Ordnung - in das Chaos der Erscheinungen zu bringen?
Von den Wunderkammern und Kunstschränken der Renaissance bis zur Geburt des Museums und zum klassifikatorischen Raptus der neuzeitlichen Wissenschaft verfolgt der Autor die Geschichte dieser Obsession, die in der Demokratie die Massen ergriffen hat. Es gibt kein noch so phantastisches Objekt, das nicht die Begierde eines Sammlers erregt hätte. So sind Drachen und Kinderleichen, Schmetterlinge und Nägel vom Heiligen Kreuz ebenso gehortet worden wie unbezahlbare Gemälde und billige Plastikbecher.
Philipp Blom trägt seine immense Gelehrsamkeit leicht. Sein Buch ist tiefsinnig und unterhaltsam zugleich: eine Porträtgalerie, eine europäische Kulturgeschichte in nuce, ein Kabinett des Spleens und eine Erzählung von der Sammlernatur des Menschen.
Philipp Blom ist 1970 in Hamburg geboren. Er hat in Wien und Oxford studiert und in London als Journalist und Übersetzergearbeitet. Heute lebt er in Paris. Sein Roman »Die Simmons-Papiere« ist 1997 in Berlin erschienen.
Eichborn 2004, AB 230, 407 S.
Zurückgezogener kann eine berühmte Schriftstellerin nicht leben. Marie-Luise Scherer wohnt unweit der alten Zonengrenze in einem Dorf an der Elbe und schreibt. Sie schreibt wenig. Sie verlangt von jedem ihrer Sätze, daß er wie ein Handschuh sitzt. Ein solcher Anspruch macht aber viel Arbeit, und er ist im Journalismus nicht üblich.
Marie-Luise Scherers Geschichten gehören zum Kernbestand der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte. Leise, aber mit gespannten Sehnen, kommen in ihren Texten die Katastrophen daher, so, daß man als Leser erstaunt, und lacht, und erschrickt.
Die Hundegrenze ist wahrscheinlich der definitive literarische Text über den deutschen Zaun, Der Akkordeonspieler die genaueste Innenansicht der Migration. Mit so enormen Themen kann es nur eine große Erzählerin aufnehmen.
Scherers erste Buchveröffentlichung seit 16 Jahren gleicht einem Zeit-Trichter. Ihr Sog läßt den Leser zurückstürzen in ein kriminelles und glamouröses Paris der achtziger und in ein verschwundenes Westdeutschland der siebziger Jahre, wo er dem RAF-Anwalt Otto Schily ebenso begegnet wie Alice Grün, die sich im Teufelsbruch die Hörner abläuft. Marie-Luise Scherer ist, mit einem Wort, die Historikerin des ungeheuren Alltags.
Geboren 1938 in Saarbrücken, war Marie-Luise Scherer über zwanzig Jahre lang Autorin beim Spiegel, der sich ihre Langsamkeit erlaubte und die meisten ihrer Geschichten druckte. 1988 erschien bei Rowohlt ihr bisher einziges Buch, »Ungeheurer Alltag. Geschichten und Reportagen«. 1994 wurde sie mit dem Börne-Preis ausgezeichnet.
Eichborn 2004, AB 231, 303 S.
»Man befürchtet im Augenblick nichts mehr als den totalen Bankerott, dem Europa entgegengeht, und vergißt darüber die weit gefährlichere Zahlungsunfähigkeit in geistiger Hinsicht, die vor der Tür steht.« Das schreibt Kierkegaard 1836 in seinem Tagebuch, und er beginnt, gegen diesen Konkurs anzuschreiben. Er nimmt dabei kein Blatt vor den Mund. Nirgends hat der Philosoph sich radikaler geäußert als in diesen Notizen, die nie zur Veröffentlichung bestimmt waren. Es sind seine Oberlegungen zur Gesellschafts- und Kulturkritik, die hier in einer durchgängig kommentierten Auswahl vorgelegt werden.
Daß er sich im Vormärz als Reaktionär zeigt, nimmt seiner Diagnose nichts von ihrer Tiefenschärfe - im Gegenteil. Hellsichtig analysiert er das anbrechende Medienzeitalter, liefert eine schneidende Kritik des Journalismus und nimmt, ganz im Widerstreit zu den landläufigen Positionen der Konservativen, das Bildungsbürgertum und die Unredlichkeit des akademischen Milieus aufs Korn.
Hagemanns Kommentar ist wissenschaftlich fundiert, doch versteht er sich eher als Begleittext, der das Tagebuch in den Kontext des Gesamtwerks stellt und dabei en passant ein Panorama von Kierkegaards Kopenhagen entwirft.
Eichborn 2004, AB 232, 447 S.
Schade, daß keiner mehr Ariosts Meisterwerk kennt! Der Grund liegt auf der Hand: Gerade die virtuosen Verse sind es, die jedem Zuhörer süß ins Ohr rinnen - aber wer traut es sich heute noch zu, seitenlang solche betörenden Stanzen zu lesen? Italo Calvino ist es, der uns ebenso sanft wie entschlossen an die Hand nimmt und durch die Fabelwelt des Orlando furioso führt. Er kann das, weil er ein geborener Erzähler ist, weil er auf seine Art ebenso zaubern kann wie Ariost.
Es ist ein phantastischer Kosmos, der sich so erschließt. Auf den ersten Blick geht es um den Kampf zweier Kulturen: Ein islamisches Heer steht vor den Toren von Paris, und die christlichen Ritter verteidigen das Abendland. Aber der Autor nimmt den Glaubenskrieg, der zu seiner Zeit schon vier Jahrhunderte zurückliegt, nicht besonders ernst.
Er erzählt ein Märchen, in dem neben Magiern, Feen und Monstern die streit, abenteuer- und liebessüchtigen Menschen seiner eigenen Zeit die Hauptrolle spielen. Das alte Ritterwesen existiert nicht mehr. Egoisten sind es, Verrückte, Einsame, die sich mit der Anarchie und dem Chaos der Renaissance herumschlagen. Die Handlung wuchert, verzweigt sich, irrt im Zickzack umher. So entsteht ein grandioses, farbenprächtiges Panorama, »ein Universum für sich, in dem man kreuz und quer umherreisen und sich verlieren kann«.
Ludovico Ariost, geboren 1474 in Reggio Emilia, starb 1533 in Ferrara; er brachte sein Leben in den Diensten der Herzöge d'Este zu, an deren Hof es ebenso kriegerisch und brutal wie gebildet und luxuriös zuging.
Italo Calvino lebte von 1923 bis 1985; Leser in aller Welt lieben seine Romane und Erzählungen.
Eichborn 2004, AB 233, 312 S.
Warum tun sich viele von uns so schwer mit den Naturwissenschaften und mit der Mathematik? Wer ist schuld? Die Schule, der Fachjargon, die Medien? Der wahre Grund - das ist Wolperts These - liegt tiefer. Vieles an der Logik der Wissenschaften leuchtet uns nicht ein, weil sie dem alltäglichen Denken, dem Common sense, zuwiderläuft und unseren Intuitionen hohnspricht. Deshalb hat die Entdeckung, daß sich die Erde um die Sonne dreht, keineswegs alle auf Anhieb überzeugt, und die meisten wird es überraschen, daß es in ihrem kleinen Finger mehr Zellen gibt als Menschen auf der Welt. Selbst auf einfache Fragen aus der Mechanik geben Hochschulabsolventen meistens ganz falsche Antworten, und wenn es um Wahrscheinlichkeiten geht, so tappt, wer sich auf seinen Alltagsverstand verläßt, garantiert in die Falle. Diese Ignoranz hat einen schlichten Grund: »Man kann schließlich auch recht gut ohne die Kenntnis der Newtonschen Gesetze, der DNA und der Zahlentheorie leben«, sagt Wolpert - auch wenn die moderne Gesellschaft ohne dieses Wissen nicht denkbar wäre.
Übrigens ist auch die Verbindung zwischen Wissenschaft und Technik eine moderne Erscheinung. Grundlegende Erfindungen wie das Rad, die Schraube, die Uhrfeder wurden von anonymen Praktikern gemacht, denen theoretische Überlegungen völlig fernlagen. Wolpert erklärt, wie und warum es erst im 19. Jahrhundert zu jenem selbstreflexiven und selbstkritischen Wissenschaftssystem gekommen ist, das auf Kooperation und gnadenlosem Wettbewerb beruht und das unsere Welt bis zur Unkenntlichkeit verändert hat.
Lewis Wolpert, geboren 1929 in Südafrika, lehrt Entwicklungsbiologie im Londoner University College. Seine Forschungen auf dem Gebiet der Embryologie und der Biochemie der Zelle waren wegweisend. Er ist auch als Autor von Wissenschaftssendungen der BBC und als Kolumnist für den »Independent« hervorgetreten.
Eichborn 2004, AB 234, 435 S.
Jeden Tag liefert der Terror neue Schlagzeilen; doch die russischen Anarchisten, die ihn erfunden haben, sind vergessen. Sie wirken heute beinahe wie ehrwürdige Urgroßväter - schöne Seelen, die an ihre politische Moral die höchsten Ansprüche gestellt haben. In ihrem jahrzehntelangen Exil mußten sie einsehen, daß sie gescheitert waren.
Alexander Herzen, Michail Bakunin und Nikolaj Ogarev, genannt »der arme Nick« - ihre Lebensläufe lesen sich wie ein Roman von Turgenjew oder Balzac: Es wimmelt in ihnen von absurden Heldentaten, Familientragödien, Gewissensqualen, Duellen, Intrigen, Liebes-, Spitzel- und Geldgeschichten.
Der berühmte englische Historiker E. H. Carr hat die klassische Biographie dieser überlebensgroßen Figuren geschrieben. Sie ist intim wie ein Familienalbum, und doch schildert sie die Abenteuer ihrer Helden stets vor dem Hintergrund der russischen Geistes- und Gewaltgeschichte.
Carrs Quellenkenntnis ist unschlagbar, aber er trägt sie leicht. Man merkt seinem Schreiben kaum an, wieviel Primärforschung darin steckt. Obwohl dieses Buch sich strikt an die historischen Fakten hält, liest es sich streckenweise wie ein glänzend geschriebener, epischer Thriller.
Edmund Hallet Carr ist 1892 in London geboren und ebendort 1982 gestorben. Zwanzig Jahre lang arbeitete er im Foreign Office, dann war er außenpolitischer Redakteur der »Times«, und schließlich lehrte er Geschichte in Oxford und Cambridge. Sein Hauptwerk ist die monumentale »History of Soviet Russia« (14 Bände, 1950-1978).
Eichborn 2004, AB 235, 323 S.
Haiti - Inbegriff einer Gegenwelt: Voodoo, Terror, exotisches Elend? Nicht nur dies alles, sagt Buch: Haiti ist auch ein schlechtes Spiegelbild Europas, ein Modell im verkleinerten Maßstab dafür, was passiert, wenn eine Gesellschaft aus dem Ruder läuft und im Chaos endet. Irgend etwas läuft schief, und niemand weiß genau, was. Die internationalen Experten rätseln darüber, genau wie die einheimischen Intellektuellen - und wie der Beobachter Buch, der Haiti seit dreißig Jahren kennt.
Mit normalen literarischen Techniken ist einem tropischen Paradies, das sich in eine Hölle verwandelt, nicht beizukommen. Deshalb respektiert dieses Buch keine Genre-Grenzen. Es ist Roman, Essay, Reportage, Auto- und Biographie. Es treten auf. Petit Pierre, Propagandist und Handlanger von Papa Doc Duvalier, Tante Jeanne, Robespierre, eine amerikanische Botschafterin, Napoleon Bonaparte, aufständische Sklaven, mörderische Polizisten, Priester, Huren und Reporter.
Zusammengehalten wird diese liebevolle, grausame Autopsie einer Region der Extreme durch die Überlegungen des Autors, die uns das ferne Phantasma, das Haiti heißt, näher bringen, als es uns lieb sein kann. Denn es sieht ganz so aus, als wiederhole dieses Land die politischen Torheiten und die historischen Illusionen der Metropolen als Karikatur, als Parodie und als blutiger Grand Guignol.
Hans Christoph Buch, Erzähler, Essayist und Reporter, wurde 1944 in Wetzlar geboren. Er lebt, wenn er nicht gerade unterwegs ist, in Berlin. Zuletzt sind von ihm die folgenden Bücher erschienen: »Die neue Weltunordnung« (1996), »Traum am frühen Morgen« (1999), »Kain und Abel in Afrika« (2001), »Wie Karl May Adolf Hitler traf« (2003) und, als Band der Anderen Bibliothek, »Blut im Schuh« (2001).
Eichborn 2004, AB 236, 437 S.
Daß Experten Menschen »wie du und ich« wären, fällt schwer zu glauben. Hätten sie sonst diesen Titel überhaupt verdient? In den Augen des Laien haftet ihnen etwas Extremes an; denn wer die gesellschaftliche Arbeitsteilung auf die Spitze treibt, gilt zwar als unentbehrlich, doch zugleich ist und bleibt er ein Außenseiter. Gabriele Goettle hat über dreißig Vertreter dieser scheuen Spezies zum Reden gebracht. Man erfährt viel über das eigentümliche Amalgam aus Funktionsweise und Privatleben, das den Experten auszeichnet, aber auch über das Feld, das er beackert, und das Pfund, mit dem er wuchert.
Den Fachmann, dem niemand etwas vormachen kann, gibt es auf allen sozialen Etagen, vom Plasmaphysiker bis zum Kanalarbeiter; und während der Spezialist für die Herstellung von Schneekugeln beinah anachronistisch anmutet, macht sich der Hirnforscher auf den Weg in eine unbekannte Zukunft. Ein Rohrpostmeister wird sich mit einem Topologen nicht leicht verständigen können, und die Ärztin aus dem Schlachthof bewundert vielleicht den Zauberer, der sich seinerseits schwer vorstellen kann, daß ein anderer sein Berufsleben ganz und gar den Maden widmet. Auch gibt es nicht nur in der Linguistik, sondern auch unter den Huren Expertinnen, denen so leicht keiner das Wasser reicht.
Berühmte und Unbekannte - Gabriele Goettle hat sie alle besucht und uns Zugang verschafft zu allerhand Geheimwissen, das in den Synapsen unserer Gesellschaft floriert, und zu denen, die es hüten.
Gabriele Goettle, 1946 in Aschaffenburg geboren, lebt in Berlin und arbeitet vor allem für die taz, in der ihre Reportagen regelmäßig erscheinen. In der Anderen Bibliothek sind von ihr erschienen: »Deutsche Sitten« (1991), »Deutsche Bräuche« (1994), »Deutsche Spuren« (1997) und »DieÄrmsten!Wahre Geschichten aus dem arbeitslosen Leben« (2000).
Eichborn 2004, AB 237, 439 S.
»Unübertroffen«, »the best travel book ever«, »der Ulysses der Reiseliteratur«: Mit solchen Superlativen der englischen Kritik brauchen wir uns nicht aufzuhalten.
Wer weiß schon, wo Oxiana liegt? Diese Region ist nach dem mächtigen Grenzfluß Oxus benannt, den Alexander der Große 328 vor Christus überquerte; heute heißt er Amu Darya, und die Sowjets mußten ihn überwinden, als sie in Afghanistan einmarschierten.
Als von den Taliban noch keine Rede war, machte sich ein 28jähriger Nachkomme Lord Byrons auf den Weg dorthin. Man schrieb das Jahr 1933. Venedig, Zypern, Beirut, Jerusalem, Bagdad, Teheran, Kabul - das waren die Stationen seiner Forschungsreise.
Die europäischen Klassiker langweilten diesen gelehrten Dandy; verliebt war er in die byzantinische und islamische Kultur. »Verglichen damit ist New York nur ein Ameisenhaufen«, sagte er. Weder Wolkenbrüche noch Zöllner und Flöhe konnten ihn aufhalten. Aus seinen scheinbar hingeworfenen Notizen spricht eine beinah unheimliche politische Hellsicht, und seine enorme Kennerschaft trägt dieser Autor mit sardonischem Witz. Von solchen Reisen kann die Gegenwart nur noch träumen.
Robert Byron, ein Nachkomme Lord Byrons, geboren 1905, studierte in Oxford, brachte es aber nie zu einem akademischen Grad. Seine umfassenden Kenntnisse in der Kunst- und Architekturgeschichte erwarb er auf eigene Faust, indem er mit der Kamera in der Hand durch Europa und den Orient reiste. Sein erstes Buch, »Europa 1925« von der Reise nach Italien und Griechenland, erschien 2016 als Band 373 in der Anderen Bibliothek.
Er starb wie sein berühmter Vorfahr mit 36 Jahren.
Eichborn 2004, AB 238, 303 S.
Mit diesem Buch hat Gabriele Riedle nichts Geringeres gewagt als eine faustische Inspektion der globalisierten Körper, Seelen und Geister an der Schwelle zum 21. Jahrhundert eine Suchbewegung, die das Treibgut der Gedanken und Gefühle, Ideologeme und Phantasmagorien einer ganzen Generation aufwühlt.
Eine Art Mephisto-Figur schickt die Erzählerin zu ihren Freunden in ein norddeutsches Waldidyll. Die abgelegene Lichtung wird jedoch von Gespenstern heimgesucht: von Mördern und verlorenen Göttern, Georgiern und Rumänen, Terroristen und toten Vätern, aber auch von höchst lebendigen Gestalten aus dem Trinkerterritorium jenseits der Elbe. Deshalb flüchtet diese kleine Gruppe von Versprengten ans Ende der Welt, auf die Galapagos-Inseln, dorthin, wo Darwin dem Geheimnis der Evolution auf die Spur gekommen ist. Aber dem Scheitern entgeht sie nicht; denn auch dieses Paradies ist längst zur Hölle geworden.
Riedles Prosa ist mit allen Wassern der Reflexion gewaschen und voller übermütiger Kapriolen, ihr Tempo ist furios und ihre Ambition vermessen. Wo gibt es noch Ruhe, wo Rausch, Grenzüberschreitung, Selbstbefreiung, Entfesselung - und Demut? Wo endet die Reise? »Wenn ich gewußt hätte«, sagt die Autorin, »daß ich bei den ganz großen Fragen landen würde, hätte ich dieses Buch erst gar nicht angefangen.« Es gehört Verwegenheit dazu, eine Geschichte zu erfinden, die so entschieden mit aller Beschaulichkeit bricht. Wer sich ihrem Sog überläßt, wird sie nicht aus der Hand legen, auch wenn es spät geworden ist.
Gabriele Riedle, 1958 in Stuttgart geboren, lebt seit 1979 in Berlin. Sie hat zahlreiche Reportagen aus allen Weltgegenden veröffentlicht. 1998 erschien »Fluß«, ein Roman, der gemeinsam mit Viktor Jerofejew entstand. Nie zuvor wurden Texte eines russischen Autors und einer Deutschen zu einem großen Ganzen zusammengefügt.
Eichborn 2004, AB 239, 327 S.
Analytische Philosophie, Dekonstruktion, Strukturalismus, Iconic turn, System-, Diskurs- und Simulationstheorie ... ja, wer heute die Tempel oder die Rostlauben der früher sogenannten Geisteswissenschaften betritt, der hat es nicht leicht. Ein verwirrendes Angebot von Ansätzen, Methoden, Theorie-Designs, Trends und Moden stellt ihm die Freiheit, aber auch die Qual der Wahl in Aussicht.
Theorien sind dazu da, die Wahrheit. zu sagen. Aber nicht allein im Deutschen ist »Wahrheit« ein Wort, das sich nur widerstrebend in den Plural setzen läßt. Theorien gibt es hingegen nicht im Singular. Das macht ihren Vertretern schwer zu schaffen, schon weil sie dazu neigen, ihre Theorien allzu ernst zu nehmen.
Jochen Hörisch geht von der Erkenntnis aus, daß an die Stelle der großen konkurrierenden Erzählungen viele kleinere getreten sind. Er stellt in diesem konzisen Buch die Grundbausteine der einflußreichsten Theorien vor, rekonstruiert ihre Baupläne und testet sie auf ihre Brauchbarkeit hin. Auf welche Probleme sprechen sie an? Mit welchen Risiken, Nebenwirkungen, Kontraindikationen und Verfallsdaten muß rechnen, wer sich ihnen anvertraut?
Einer solchen Handreichung liegt ein apothekarischer Wahrheitsbegriff zugrunde.Wahr sind ihm zufolge Theoreme, die uns mit neuen Kräften versehen, uns helfen und erfrischen, und Theorien, die es eher auf Heilung als auf das Heil der Letztbegründung abgesehen haben.
Jochen Hörisch, geboren 1951 in Bad Oldesloe, lehrt Literatur und Medienwissenschaften an der Universität Mannheim. Seine wichtigsten Publikationen sind: »Gott, Geld und Glück« (1983), »Die Wut des Verstehens« (1988), »Brot und Wein« (1992), »Kopf oder Zahl« (1996),»Ende der Vorstellung - Die Poesie der Medien« (1999), »Gott, Geld und Medien« (2004). In der ANDEREN BIBLIOTHEK liegt vor: »Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien« (2001).
Eichborn 2004, AB 240, 431 S.
Der fremde Blick - das ist das Thema dieses Buches. Wie nahm die Außenwelt dieses entfesselte, der Katastrophe entgegentaumelnde Deutschland wahr? Was fiel Schriftstellern, Journalisten und anderen Augenzeugen auf?
Es ist ein höchst widersprüchliches Bild, das diese bisher kaum genutzten Quellen zeichnen. Nicht die politische Analyse steht dabei im Vordergrund, sondern die unmittelbare Alltagserfahrung.
Manche Besucher waren anfangs von der Dynamik des »Dritten Reiches« fasziniert. Einige blieben bis zum Ende Sympathisanten des Regimes; andere schildern den Prozeß ihrer allmählichen Desillusionierung. Dagegen legten die kühleren Köpfe von Anfang an eine Hellsicht an den Tag, die beeindruckend ist. (So sah der schwedische Dichter Gunnar Ekelöf schon kurz nach der Machtergreifung den Zivilisationsbruch voraus, und die Amerikanerin Martha Dodd kam bereits 1938 zu dem Schluß, daß die Verfolgung der Juden in einer planmäßigen Vernichtungspolitik gipfeln würde.)
Die Liste der Zeugen ist eindrucksvoll: Samuel Beckett, Thomas Wolfe, Jean Genet, Max Frisch, Jean-Paul. Sartre, Karen Blixen, Georges Simenon, Virginia Woolf und Albert Camus waren in Deutschland; aber nicht weniger aufschlußreich sind die Beobachtungen von Vergessenen, von Unbekannten und von Exoten wie Shi Min oder József Nyírö die hier - meist zum ersten Mal - in deutscher Sprache erscheinen.
Oliver Lubrich, 1970 in Berlin geboren, lehrt Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Er war Kurator der Ausstellung »Zeichen des Alltags«, die in jüdischen Museen Deutschlands und Österreichs zu sehen war. Publikationen: »Shakespeares Selbstdekonstruktion« (2001), »Postkoloniale Poetiken« (2004).