AB - Die Andere Bibliothek 2008


Sergio Luzzatto: Il Duce
Rohan Kriwaczek: Eine unvollständige Geschichte der Begräbnis-Violine
Robert Neumann. Die Kinder von Wien
Christine Grän: Heldensterben
Eckart Kleßmann: Universitätsmamsellen
Winston S. Churchill: Kreuzzug gegen das Reich des Mahdi
Robert Olmstead: Der Glanzrappe
Fred Licht: Villa Ginestra
James R. Gaines: Das musikalische Opfer
Klaus-Jürgen Liedtke: Die versunkene Welt
Hans Christoph Buch: Sansibar Blues
Cecil Lewis: Schütze im Steigflug


Sergio Luzzatto: Il Duce

Das Leben nach dem Tod

Eichborn 2008, AB 277, 359 S.

Requiem für eine Leiche

Spät erst wurde dem »Führer« (dank der Filmindustrie) eine gespenstische Auferstehung zuteil. Das makabre Nachleben des Duce begann, als seine Leiche (und die seiner Maitresse Claretta Petacci) auf der Mailänder Piazzale Loreto an den Füßen aufgehängt und Bestialitäten ausgesetzt war, an denen sich die primitivsten Kannibalen entsetzt hätten: ein Horrorspiegel des Kultes, den der Diktator mit dem eigenen Körper und der Faschismus mit der Körperlichkeit seiner jungen Gefolgschaft getrieben hatte. Es ist dieser Körper, so Sergio Luzzatto in seiner brillanten Studie, auf dem Italiens neue Republik gründete. Und das in einem doppelten Sinn: Während die radikale Linke glaubte, nur das tatsächliche Verschwinden Mussolinis (und seiner Anhänger) werde seinen Mythos zertrümmern, klammerte sich die größere Zahl der Mussolini-Verehrer an die Hoffnung, dass ein ordentlich bestatteter Duce zur posthumen Verehrung einladen werde. Zwölf Jahre versteckten italienische Nachkriegsregierungen den Leichnam Mussolinis, um ihr politisches Überleben zu sichern – bis er 1957 nach düsteren Irrfahrten eine letzte Stätte im Familiengrab fand.

Es sind diese beiden Seelen in der Brust Italiens, die für Luzzatto das demokratisch unerfahrene Land geprägt haben und bis heute prägen: »Unversöhnlichkeit und Nachsicht, Radikalismus und trasformismo, die Pflicht der Erinnerung und die Kunst des Vergessens«.

Sergio Luzzatto wurde 1963 geboren. Er ist Professor für moderne Geschichte an der Universität von Turin. Er beschäftigt sich intensiv mit der Französischen Revolution sowie der italienischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und veröffentlichte »Il Terrore ricordato« (1998) und »L'autunno della Rivoluzione« (1994). »Il Corpo del Duce« erschien 1998.



Rohan Kriwaczek: Eine unvollständige Geschichte der Begräbnis-Violine

Eichborn Februar 2008, AB 278, 310 S.

»Zum Sterben schön«

Seit den kulturellen Umwälzungen der Reformations­jahre war sie zu hören – nur von denen nicht, deren tränenreiches Gedenken ihr schmerzlich­schönes Spiel galt, den Toten: die Beerdigungs-Violine (auch »Totengeige«) ersetzte die römisch-katholischen Bestattungsrituale im protestantischen und anglikanischen Europa.

Die Geschichte der melancholischen, zutiefst bewegenden Begräbnis-Kompositionen geriet nach der Gegen­reformation in Vergessenheit, und die Mitglieder der 1586 gegründeten britischen Gilde der Totengeiger verzogen sich vor mehr als 170 Jahren in den Untergrund einer Geheimgesellschaft. In Deutschland, wo es bis zum ersten Weltkrieg von mehreren Künstlern mit besonderer Inbrunst ausgeübt wurde, ist das schaurig-schöne musikalische Genre längst ausgestorben.

Der englische Musikologe Rohan Kriwaczek - selbst praktizierender Geigenspieler, Flötist und Klezmer-Spezialist - hat einen Zugang zu dem Archiv der Gilde gefunden und eine schier unglaubliche, spannende und fabelhafte Chronik dieser zu Unrecht mißachteten Musikrichtung und ihrer gedemütigten Künstler verfaßt. Das Buch, 2006 in England und in den USA erschienen, erregte ungemeines Aufsehen: Hatte sich der Autor einen komplizierten Scherz erlaubt oder hat er einen historiographischen Coup gelandet, den andere Musik-Historiker ihm neiden? So oder so - der empfindsame, mitfühlende und mithörende Leser dieses unwahrscheinlichen Buches wird die Wahrheit im eigenen Herzen entdecken.

Rohan Kriwaczek ist der Vorsitzende der englischen Gilde der Begräbnisviolinisten. Bis heute hat er über hundert verschiedene Melodien für Beerdigungen gechrieben, erhaben, temperamentvoll, melancholisch oder getragen - je nach Charakter der Toten.



Robert Neumann: Die Kinder von Wien

Eichborn März 2008, AB 279, 238 S.

»Ein Fetzenteppich des Lebens und Überlebens«

Ob Berlin oder Wien: Die strahlenden Städte, in denen wir's uns gemütlich machen, sind in Wahrheit Gespenster­städte, unter dem Asphalt die Trümmer, in denen die Archäologen zu graben beginnen, Totenstädte...

Robert Neumann, der berühmte Parodist und verkannte Romancier, führt uns in einen Wiener Keller im Nachkriegsjahr 1946, in dem ein eigenwilliges Gemisch von Geräuschen und jiddischen, russischen, deutschen und amerikanischen Sprachfetzen zu hören ist, so authentisch, daß auch das Kratzen und Huschen der Ratten auf den nackten Kellerböden von dem Jargon einer Bande Halbwüchsiger nicht übertönt wird. Jid, Goy und Ewa heißen drei der sechs Kinder, die sich stehlend, hurend und hehlend eingerichtet haben im Nachkriegschaos, die vom Glück ihrer anarchistischen Freiheit ebensowenig daher machen wie vom allgegenwärtigen Mangel – weil sie's nicht anders kennen.

Ihre Perspektive ist der Blick nach oben, durch die Schächte zum Licht, und was sie sehen, sind nackte Füße, Sandalen, kaputte Stiefel und den Exnazi in alliierten Diensten, der sie aus ihrem Ruinenkeller zu vertreiben, den schwarzen Armee-Pastor, der sie zu retten versucht...

Die Kinder von Wien ist der kleine-große Roman des Nachkriegs, der dichter als jedes andere Buch von der zweiten Realität erzählt, deren Schatten uns begleiten (ob wir’s wissen oder nicht).

Robert Neumann, geboren 1897 in Wien, gestorben 1975 in München, gehörte mit seinen parodistischen und satirischen Schriften und Romanen zu den produktivsten Schriftstellern in den späten 20er und frühen 30er Jahren in Österreich. Nachdem seine Werke 1933 von den Nazis verboten wurden, emigrierte er 1934 nach Großbritannien. Als einer der wenigen Schriftsteller im Ausland begann Neumann sofort in der englischen Sprache zu schreiben und zu publizieren; er arbeitete für die BBC, war Lektor (und Teilhaber) eines Verlages, der Autoren wie Heinrich Mann ins Englische übersetzte, wurde 1947 britischer Staatsbürger und lebte seit 1958 in Locarno.



 Christine Grän: Heldensterben

Eichborn April 2008, AB 280, 333 S.

»Nirgendwo wird so schön gestorben wie in Wien«

Die Ränke dieser großen Erzählung beginnen zwar im schäbigen Studio eines Pornoproduzenten, aber die entscheidende Handlung vollzieht sich an offenen Gräbern, an denen die schöne Anna zum strahlenden Star in der Gilde der Beerdigungsredner aufsteigt, die den nichtkirchlichen Bestattungen ihre eigene Würde und Weihe verschaffen.

Verfasserin der bewegenden Reden ist die kleinwüchsige Lucie, selber von Kind auf suizidgefährdet, die in aller Heimlichkeit ihr Lebenswerk schreibt: eine Porträtsammlung von Selbstmördern. Die schöne Anna freilich, allzu lange in den Diensten des schüchternen Regisseurs und Produzenten der X-Filme mit den maskulinen Sexmaschinen, macht sich nichts aus Männern, was nicht weiter erstaunlich ist. Lange unterhielt sie ein Verhältnis mit einer prominenten Politikerin, die den Skandal und das Ende ihrer öffentlichen Karriere nicht überleben wollte. Umso zäher harrt Mama, die Frau Kommerzialrat, in ihrem illustren Altersheim aus, in den Rollstuhl verbannt, der sie nicht davon abhält, sich an der Menschheit mit humanem Lächeln aufs infamste zu rächen...

Christine Grän hat den Wien-Roman schlechthin geschrieben, in dem sich die gloriose Schönheit und die abgrundtiefe Gemeinheit, das unerschöpfliche Vergnügen an der Intrige und die Lust des Fleisches, die unausrottbare Vitalität und der morbide Weltschmerz zu der genialen Mixtur vereinen, die den Geist der Stadt bestimmt. Denn das Herz der Stadt ist nicht der Steffl, nicht die Kärntner Straße, nicht die Staatsoper, nicht das Burgtheater, sondern der Zentralfriedhof. Anders gesagt: Wien lebt nur, wo gestorben und vor allem bestattet wird.

Christine Grän wurde 1952 in Graz geboren und lebte ab 1980 für fünf Jahre in Botswana/Afrika. Dort begann die Journalistin, auch Kriminalromane zu schreiben. So schuf sie mittlerweile viele Krimis um die Klatschreporterin Anna Marx.



Eckart Kleßmann: Universitätsmamsellen

Fünf aufgeklärte Frauen zwischen Rokoko, Revolution und Romantik

Eichborn 2008, AB 281, 353 S.

»Mit Schirm, Charme und Verstand«

Die deutsche Romantik ist wieder ein Thema – und mit ihr Leben und Schicksal von fünf ebenso gescheiten wie attraktiven Göttinger Töchtern, die ihre Angelegenheiten mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit und Willenskraft in die eigenen Hände genommen haben. Dorothea Schlözer zum Beispiel, die als erste Frau in Europa den Titel eines Doktors der Philosophie erhielt, ihre Urkunde aber nicht in Empfang nehmen konnte, weil Frauen die heiligen Räume der Universität nicht betreten durften. Oder ihre Freundin Therese Heyne, die noch recht jung den Weltumsegler Georg Forster heiratete, ihn aber später zugunsten des Schriftstellers Ludwig-Ferdinand Huber verließ. Nach dessen Tod leitete sie sieben Jahre lang die Redaktion von Cottas »Morgenblatt«; vermutlich war sie nicht nur in Deutschland die erste Frau, die ein journalistisches Amt von solchem Einfluß versah. Oder Caroline Schlegel, geborene Michaelis, der in der entstehenden jungen Romantik eine bedeutende Aufgabe zufiel.

Dorothea Schlözer, Therese Heyne, Caroline Michaelis, Meta Forkel und Philippine Gatterer: In fünf eindrucksvollen Porträts entwirft Eckart Kleßmann mit Elan und voller Liebe die Bilder einer Galerie der frühen Emanzipation und dokumentiert ein wichtiges, ernstes und zugleich amüsantes Kapitel der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte, das erst unsere Zeit ganz zu würdigen vermag.

Eckart Kleßmann, geboren 1933 in Lemgo, veröffentlichte u.a. Bücher über die deutsche Romantik und mehrere Biographien, darunter E.T.A. Hoffmann (1988), Christiane. Goethes Geliebte und Gefährtin (1992), Napoleon. Ein Charakterbild (2000).
Für seine Darstellungen historischer Themen wurde er 1998 mit dem Lion-Feuchtwanger-Preis der Berliner Akademie der Künste ausgezeichnet. Eckart Kleßmann lebt in Mecklenburg.



Winston S. Churchill: Kreuzzug gegen das Reich des Mahdi

Mit einem Vorwort von Georg Brunold
Eichborn 2008, AB 282, 452 S.
(OT 1899 The River War. A Historical Account of the Reconquest of the Soudan)

Erstmals auf deutsch: Winston Churchill über die Geburtsstunde des modernen politischen Islam und den Wüstenkrieg gegen das Reich des Mahdi

Im Aufstand des Mahdi (1881–1885) zeigt der Islam erstmals das moderne Gesicht einer radikalen politischen Kraft: des militanten Fundamentalismus, wie wir ihn heute zu kennen glauben. Mohammed Ahmed, der Mahdi und Stellvertreter Gottes auf Erden, erobert den Sudan. Er belagert Khartum, wo sich General Charles Gordon, der Bevollmächtigte Commander der britischen Krone verschanzt hat, und stürmt die Stadt nach 352 Tagen. Gordon wird niedergemacht, Karthum Hauptstadt eines islamischen Gottesstaates – eine historische Demütigung für die Briten.

Erst über zehn Jahre später können die Briten sich rächen und das Kalifat zerschlagen. Der ägyptisch-britische Feldzug unter Herbert Kitchener (1896–1898) setzt modernste Technologie gegen die Reiterarmeen der Araber ein und läutet mit einem bis dahin beispiellosen Aufwand industrieller Kriegslogistik in Nordafrika unwiderruflich unsere Gegenwart ein. Winston S. Churchill war bei diesem Feldzug dabei. Der damals 24 jährige führte eine Kavallerieschwadron – sein Buch über den Feldzug wird ein Jahr später zum Bestseller. Churchill beschreibt den Feldzug, die politischen Verhältnisse, aber auch das Land und die Mentalität der Kriegsgegner. Mit erstaunlicher Unvoreingenommenheit kritisiert er die Fehler der Engländer im Umgang mit dem unterworfenen Gegner und diskutiert die uns derzeit so brennende Frage: Woher bezieht der religiöse Fanatismus seine politischen Energien?

»The River War« (so der Originaltitel) erschien nach der Erstausgabe (1899) in mehreren vom Autor selbst gekürzten Ausgaben. Georg Brunold hat in der von ihm edierten und eingeleiteten ersten deutschen Ausgabe von Churchills Buch die zahlreichen Versionen des Textes verglichen und macht uns auch brisante Teile der ursprünglichen Fassung wieder zugänglich, die Churchill selbst gestrichen hatte, als er in die Politik ging.

Winston S. Churchill, 1874 geboren und 1965 gestorben, diente der britischen Regierung in verschiedenen leitenden Funktionen, darunter zweimal (1940-45 und 1951-1955) als Premierminister. 1953 erhielt der Autor zahlreicher Bücher und Schriften den Nobelpreis für Literatur.



Robert Olmstead: Der Glanzrappe

Eichborn 2008, AB 283, 261 S.
(OT 2006 Coal Black Horse)

»Wer wollte nicht eines Tages aufwachen und plötzlich so schreiben können wie Olmstead?« Richard Ford

Robey Childs ist vierzehn Jahre alt, als er von seiner Mutter von zu Hause weggeschickt wird, um seinen Vater aus dem Bürgerkrieg heimzuholen. Ein alter Farmer, den Robey am Anfang seines Weges nach Gettysburg trifft, schenkt ihm einen ungewöhnlich schönen Rappen. Auf seiner Reise durch die von Krieg und Zerstörung geschundenen Landschaften stößt Robey auf am Wegrand abgestellte Wagenladungen mit Verstümmelten und Toten, er begegnet skrupellosen Plünderern und entlaufenen Sklaven. Und er muß eine Reihe haarsträubender Prüfungen und Herausforderungen bestehen: sein Rappe wird gestohlen, Robey wird als Spion gefangengenommen und entkommt, er muß die Vergewaltigung eines jungen Mädchens mitansehen und gerät in einen blutigen Überfall. Doch wie durch ein Wunder überlebt er – mehr noch, er findet auch sein Pferd wieder. Tage später erreicht er die Schlachtfelder von Gettysburg...

Mit magisch-dunkler literarischer Kraft erzählt Robert Olmstead die Geschichte eines jungen Mannes, der in der Grausamkeit des Kriegs erwachsen wird – ohne seine Menschlichkeit zu verlieren. Ein Roman von außerordentlicher Phantasie und Intensität, gewalttätig, bedrohlich, kompromißlos und leidenschaftlich – wie der amerikanische Bürgerkrieg.

Robert Olmstead, 1954 geboren und aufgewachsen auf einer Farm in New Hampshire, unterrichtet Kreatives Schreiben an einem amerikanischen College, hat aber auch schon als Tellerwäscher, Teppichleger und Englischlehrer gearbeitet, Vieh gezüchtet und eine Baufirma betrieben. Außerdem hat er zahlreiche, von der Literaturkritik hochgelobte Romane veröffentlicht, von denen u.a. Spuren von Herzblut, wohin wir auch gehen (1994) und Geh nicht fort. Eine Erinnerung (1997) ins Deutsche übersetzt wurden.



Fred Licht: Villa Ginestra

Eichborn 2008, AB 284, 453 S.

»Dieser Roman ist eine erhabene Feier von Extravaganz, Leichtigkeit und Verschwendung - und dem Schmerz über ihr Verschwinden. Ein subtil-ironischer Blick in die Psyche des europäischen Geldbürgertums«

Es ist eine eigenwillige Gesellschaft, die sich in den dreißiger Jahren in der florentinischen »Villa Ginestra« gefunden hat: Die exzentrische Besitzerin und Gastgeberin Renée, die dem alten europäischen Geldadel entstammt und ihr Talent für gewinnbringende finanzielle Investitionen mit der selbstlosen Förderung von Kunst und Kultur verbindet. Ihr Neffe Harry, der seine Tante für ihre Großzügigkeit bewundert und sich zugleich den Erwartungen seiner Eltern durch die Sorglosigkeit eines jungenhaften Müßiggängers entzieht. Und Craig Perrin, ein scharfzüngiger Engländer, der seine Rolle als professioneller Gast mit all der entwaffnenden Dreistigkeit spielt, die seine finanzielle Mittellosigkeit verlangt.

Was die drei verbindet, ist der Wille, der äußeren Welt im faschistischen Italien einen Ort entgegenzusetzen, an dem die Nomaden, die Gestrandeten und Verfolgten der europäischen Intelligenz, für eine Weile Zuflucht finden. Doch je mehr Freunde und Gäste der »Villa Ginestra« der Bedrohung des heraufziehenden Weltkrieges durch die schützende Routine von Frühstück, Arbeit und kultureller Zerstreuung trotzen wollen, je mehr das Alltagsleben zum unverzichtbaren Schmerzmittel gegen Angst und Mißtrauen wird, desto brüchiger wird der Kitt von Menschlichkeit und Würde, der die »Villa Ginestra« von dem Pessimismus der Wirklichkeit trennt.

Während Krieg und Faschismus Europa überziehen, bleibt die Villa Ginestra mitsamt ihrem Publikum und ihren Gästen das magische Zentrum von Harrys Sehnsucht, ein Paradies und ein verwunschener Ort, aus dem ihn vielerlei Sendschreiben erreichen, die immer wieder einen noch ungeahnten Aspekt von Renées Person beleuchten. Indem der Ich-Erzähler stets weitere Schichten des Beziehungsgeflechts dieser Frau ergründet, erforscht er mit subtiler Ironie die schillernden Facetten einer Mentalität: die Psyche des amerikanisch-europäischen Geld- und Bildungsbürgertums im 20. Jahrhundert. Ein wunderbar leichter, von eleganter Prosa funkelnder Roman.

Fred Licht ist Kurator an der Peggy-Guggenheim-Sammlung in Venedig. Als Dozent an den Universitäten von Princeton und Brown verfaßte er mehrere Studien über Goya und Canova. Außerdem veröffentlichte er zahlreiche Aufsätze über moderne Kunst in Art of America und Arts Magazine.



James R. Gaines: Das musikalische Opfer

Johann Sebastian Bach trifft Friedrich den Großen am Abend der Aufklärung

Eichborn 2008, AB 285, 379 S.
(OT 2005 Evening in the Palace of Reason. Bach Meets Frederick the Great in the Age of Enlightenment.)

»Eine Welt bricht aus den Fugen«

Als Johann Sebastian Bach im Jahr 1747 einer Einladung des jungen Königs von Preußen folgte, der noch nicht als »Friedrich der Große« in den Geschichtsbüchern zur Marmorbüste erstarrt war, begegneten sich in Potsdam zwei unvereinbare Charaktere – der eine ein tiefgläubiger Protestant mit schier göttlichen Gaben, der andere ein zynisch- machiavellistischer Herrscher und aufgeklärter Monarch. Einzig Friedrichs Liebe zur Musik öffnete ein Fenster in eine andere, bessere Seite seines Wesens. Bach verblüfft den kompositorisch dilettierenden Gastgeber mit fugalen Improvisationen über ein königliches Thema – bis der König ihn bittet, eine sechsstimmige Fuge zu extemporieren.

An dieser Stelle setzt das meisterhafte historische Sachbuch des amerikanischen Publizisten Gaines ein – als Doppelbiographie eines musikalischen und eines militärischen Genies, die zugleich gelesen werden kann als die Geschichte eines kulturellen Konflikts zwischen Religion und Aufklärung, zwischen Glauben und kalter, rationalistischer Skepsis. Das Erbe der Reformation und die machtpolitischen Herausforderungen der Neuzeit diktieren die Dramaturgie dieses fesselnden Buches, dessen literarische Architektur selbst einer Fuge gleicht.

James R. Gaines, geboren 1947, hat eine vielversprechende Karriere als Pianist zugunsten einer journalistischen Laufbahn aufgegeben - zunächst bei Saturday Review, Newsweek und People, später als Herausgeber und Chefredakteur des Time-Life Magazine. Sein Interesse für Politik und Kulturgeschichte hat er auch als Autor verschiedener Sachbücher genutzt. James R. Gaines lebt mit seiner Familie in Paris.



Klaus-Jürgen Liedtke: Die versunkene Welt.

Ein ostpreußisches Dorf in Erzählungen der Leute

Eichborn 2008, AB 286, 425 S.

»Poetisch und kraftvoll erzählt, ohne Klischees, realistisch und historisch genau. Ein Buch, in dem ich die Erzählungen meines Großvaters wiedererkenne, das die Welt und die Sprache meiner ostpreußischen Vorfahren lebendig werden läßt«
Klaus Bednarz

Das Bild einer Zeit, einer Landschaft, menschlicher Schicksale: Die Lebensgeschichte der Bewohner von sieben Höfen des kleinen Dorfes Neu-Kermuschienen in Ostpreußen in den Jahren von 1914 bis 1944, von der ersten bis zur zweiten, endgültigen Flucht. Ein vielstimmiges Requiem auf eine versunkene Welt, zusammengetragen aus den Erzählungen der Leute und verdichtet in einer Arbeit von zwanzig Jahren.

Dieses Buch ist ein Mirakel: die Auferstehung einer scheinbar vergessenen Welt, deren Bilder für immer vergangen, deren Stimmen für immer verweht zu sein schienen. Klaus Jürgen Liedtke erweckte sie nach zwanzig langen Jahren des Zuhörens, des Aufschreibens, des Sammelns und Sortierens wieder zum Leben, in einer großen Erzählung über Heimat, Flucht und Vertreibung, zusammengewebt aus tausend kleinen Geschichten, in der Schwebe zwischen Fakten und Fiktionen. Wir sehen die Menschen der sieben Höfe eines ostpreußischen Dorfes, Kermuschienen hieß es, wir hören den unverkennbaren Tonfall ihrer Sprache, nehmen ihre Züge wahr, folgen ihren Geschicken von der ersten Flucht im Herbst 1914, als die Armee des Zaren über das Land hereinbrach, bis zur zweiten und letzten Flucht im Januar 1945, als die Rote Armee jenen Winkel der Welt eroberte, bis danach die Häuser zerfielen und die Regungen menschlichen Daseins spärlich wurden. Die Idee des Buches sei »im Grunde eine absurde«, sagte Liedtke, nämlich das »Unmögliche zu versuchen«. Es ist ihm geglückt. Er hat die kleine große Welt, von der nur noch »einige Grund Mauern blieben, Scherben, Brocken von menschlichem Leben«, in die Gegenwart herübergeholt.

Klaus-Jürgen Liedtke erweckt die Stimmen der Dorfbewohner, Schicksale und Bilder nach zwanzig langen Jahren des Zuhörens, des Aufschreibens, des Sammelns und Sortierens wieder zum Leben, in einer großen Erzählung über Heimat, Flucht und Vertreibung, zusammengewebt aus tausend kleinen Geschichten, in der Schwebe zwischen Fakten und Fiktionen.

Klaus-Jürgen Liedtke, geboren 1950 in Enge/Südtondern (Schleswig), studierte Skandinavistik, Germanistik und Amerikanistik, übersetzte zahlreiche Bücher vor allem aus dem Schwedischen und machte sich auch als Lyriker einen Namen. 2005 wurde er mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnet. Für dieses ungewöhnliche Projekt, die versunkene Welt eines untergegangenen ostpreußischen Dorfes wieder lebendig werden zu lassen, hat er über zwanzig Jahre Material gesammelt, Gespräche geführt und in Archiven und vor Ort recherchiert. Klaus-Jürgen Liedtke lebt in Berlin.



Hans Christoph Buch: Sansibar Blues

oder: Wie ich Livingstone fand

Eichborn 2008, AB 287, 246 S.

»Sklavenhandel, blutige Revolution und Kalter Krieg -
ein deutsches Jahrhundert auf Sansibar«

Sansibar. Schon der Name evoziert eine Vielzahl von Bildern, Gerüchen und Traumwelten - kein Wunder, dass Hans Christoph Buch sich ans Werk machte, die Verknüpfungen der geheimnisvollen, ja mythischen Insel im Indischen Ozean mit deutscher Geschichte zu entdecken. Dank seiner originellen und heiteren Beschwörung trat eine phantastische, ins Surreale wuchernde Realität ins halbe Licht, bevölkert von Gestalten wie dem berüchtigten Sklavenhändler Tippu Tipp, der Stanley und Livingstone durchs dunkle Afrika führte, bis zur Tochter des Sultans von Sansibar, Salme, deren Entführung aus dem Serail durch einen Hamburger Kaufmann eine politische Krise heraufbeschwor. Nach dem frühen Tod ihres Mannes lebte Salme in Hamburg und Berlin, wo sie als exotische Kuriosität bestaunt und von Bismark in einem diplomatischen Ränkespiel benutzt wurde.

Nach der Entlassung in die Unabhängigkeit 1964 wurde Sansibar zum Schauplatz einer blutigen Revolution, die mit der Anerkennung der DDR begann und mit der Vertreibung der hier seit Jahrhunderten ansässigen Araber endete: eine mörderische Verschwörung, bei der die Stasi, aber auch die CIA, Kuba und China ihre Hände im schmutzigen Spiel hatten. Ein historisches Verwirrspiel und politisches Kaleidoskop aus der heißen Phase des Kalten Krieges, das, so unglaublich es klingt, Fakten spiegelt und nicht Fiktion ist.

Hans Christoph Buch, geboren 1944 in Wetzlar, ist Erzähler, Essayist und Reporter. In der ANDEREN BIBLIOTHEK veröffentlichte er zuletzt »Blut im Schuh« (2001) und »Tanzende Schatten oder Der Zombie bin ich« (2004). Für »Sansibar Blues« hat Hans Christoph Buch die bizarren Details der Geschichte gründlich an Ort und Stelle recherchiert. Der Autor lebt, wenn er nicht gerade unterwegs ist, in Berlin.



Cecil Lewis: Schütze im Steigflug

Eichborn 2008, AB 288, 405 S.
(OT 1936 Sagittarius Rising)

»Das ist ein Buch, das jeder lesen sollte. Lewis ist ein Denker, ein Meister des Wortes und so etwas wie ein Dichter.«
George Bernhard Shaw

Man hat die Jagdflieger des Ersten Weltkrieges die letzten Ritter genannt. Und es waren vor allem die Briten, die mit ihrer Neigung zu einer Romantisierung der Kriege die Fliegerei und ihre Helden, wie den »Roten Baron« Manfred von Richthofen mit seinen 80 Abschüssen, zur Legende verklärten. Zumal die Söhne des Landadels scheinbar mit der Annahme ins Feld zogen, an einer berittenen Fuchsjagd teil zu nehmen. Cecil Lewis jedenfalls schaute, wie er im Vorwort schrieb, auf die Abenteuer des kaum achtzehnjährigen Piloten zurück wie »auf eine Landschaft aus zehntausend Fuß Höhe an einem wolkenlosen Tag«. Indes, auch in dem angeblich noch so frisch-fromm-fröhlichen Krieg jener »Ritter der Lüfte« blühte nicht nur die Glorie: der Preis des Ruhmes war oft genug der Tod. Der blutjunge Lewis verbuchte in acht Monaten 350 Flugstunden, hauptsächlich über den Schlachtfeldern an der Somme, schoß acht Gegner ab und retirierte dann als Fluglehrer in die Etappe. Bei Kriegsende war er 20 Jahre alt, ein erfahrener Pilot und doch - ein Kind.

Es gibt Bücher, die eine Art literarischen »Irrtum« darstellen. Dieses Buch gehört dazu, aber gerade darin liegt sein Reiz. Erst bei der Niederschrift seiner Memoiren verstand Lewis, daß er am Aufbruch in den Wahnsinn des 20. Jahrhundert teilgenommen hatte. Als Artillerie-Beobachter über der Front war er vom elenden Massensterben dort unten gnädig weit entrückt - zu weit, um den Krieg als das zu erleben, was er in Wirklichkeit war: eine Vernichtungsmaschine, in der Menschenleben nur noch als »Material« dienten.

Cecil Lewis, geboren 1898, meldete sich mit siebzehn Jahren bei den Royal Flying Corps, um als Pilot im Ersten Weltkrieg gegen »the huns« zu kämpfen. Als er 1936 seine Memoiren veröffentlichte, war der nächste Krieg bereits absehbar. Schütze im Steigflug wurde 1976 unter dem Titel Schlacht in den Wolken verfilmt. Cecil Lewis starb 1997 in London.


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© Ralf 2008