AB - Die Andere Bibliothek 2009


Susanne Röckel - Vergessene Museen
August Strindberg - Unter französischen Bauern
Hugh Trevor-Roper - Der Eremit von Peking
Hazel Rosenstrauch - Wahlverwandt und ebenbürtig
Géza Ottlik - Die Schule an der Grenze
Bernd Jürgen Warneken - Schubart
Manfred Henningsen - Der Mythos Amerika
Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel von - Simplicissimus
Marko Martin - Schlafende Hunde
Cordt Schnibben - Wegelagerer
Raymond Aubert - In Pantoffeln durch den Terror


Susanne Röckel: Vergessene Museen

Eichborn 2009, AB 289, 306 S.

Ein Kabinett kunstvoller Klaustrophobien

Die Lektüre von Susanne Röckels Romanen und Erzählungen ist immer eine Wanderung zwischen zwei Wirklichkeiten: die des Wachens und die des Traumes — und wir können niemals ganz sicher sein, in welcher wir uns gerade aufhalten.

Sechs fragwürdige Helden, sechs Geschichten in Susanne Röckels »Vergessene Museen«, und in jeder einzelnen gelingt der Autorin ein grandioses Kunststück. Mit einer rhythmisierten, präzisen, aber von aller Beengung befreiten Sprache fängt sie den Moment der Entrückung, die Irritationen, die Spiegelungen und Verrätselungen des Rausches ein, in dem zuletzt nur noch die Leuchtkraft der Sprache trägt.

In den »Vergessenen Museen« tauchen wir in irreale Welten ein, die in vieler Hinsicht wirklicher sind als die Tagwirklichkeiten in ihren anderen Geschichten, offener, freier, luftiger, von sanften, manchmal von harten Winden durchweht — wie in der ersten Geschichte von einer hypnotisierend leeren und dennoch heimlich belebten Arktis — und genießen die Freiheit der Traumwirklichkeit, in der sich die kunstvollen Klaustrophobien aufheben, mit denen sie die Leser behexen kann, wie es wenige seit Kafkas epischen Fieberschüben vermochten. Die Virtuosität ihrer Sprache hat sich in diesen Geschichten in eine Musikalität übersetzt, von der wir manchmal fürchteten, sie könne aus dem Deutschen geflohen sein. In Susanne Röckels Prosa ist sie präsent.

Susanne Röckel, 1953 in Darmstadt geboren, lebt heute in München. Sie hat Romane und Erzählungen veröffentlicht und wurde mit zahlreichen Literaturpreisen, u.a. mit dem Gerhard-Fritsch-Literaturpreis, dem Förderpreis des Freistaates Bayern für Literatur sowie dem Mara-Cassens-Preis des Literaturhauses Hamburg ausgezeichnet. Zuletzt veröffentlichte sie den Roman »Aus dem Spiel«.



August Strindberg: Unter französischen Bauern

Eine Reportage

Eichborn 2009, AB 290, 261 S.
Deutsche Fassung von Emil Schering, mit einem Essay und durchgesehen von Thomas Steinfeld

»Ein neugieriger und zugleich melancholischer Blick auf das ländliche Frankreich«

So ziemlich alles hätten wir von Strindberg erwartet: daß sich in einer Stockholmer Dachkammer eine Romanfassung von Fräulein Julie fände, oder ein unterschlagenes Drama aus seinen Pariser Bohème-Jahren, alles: nur nicht die Studie über die Lage der französischen Bauern, die Thomas Steinfeld, einer der hellhörigsten unter den Kennern der skandinavischen Kultur, wiederentdeckt hat. Im Jahre 1912 ist sie zum ersten Mal zugleich in schwedischer und deutscher Sprache erschienen. Aber was trieb Strindberg von Paris aufs Land? Was bewegte ihn, sich für lange Wochen in einem Dorf anzusiedeln und mit den Bauern über ihre Probleme zu diskutieren? Weite Regionen per pedes apostulorum zu durchwandern und hinterher Bibliotheken über die Grundfragen der Landwirtschaft zu durchforschen? Er wurde zum Reporter, weil er wissen wollte, ob es das gibt, was wir als »Fortschritt« begreifen, er suchte das Gespräch mit Darwin und Marx und Lasalle und Haeckel. Ein Glücksfall immerhin, daß er Frankreich als das Bauernland schlechthin entdeckte — und das es in einem Winkel seiner Seele bis heute noch immer ist, zumal am Wochenende, wenn sich Arbeiter und Bürger wie eh und je in ihr Häuschen in der Campagne zurückziehen: bei Strindberg ist es präsent, dieses ländliche Frankreich, das wir lieben.

August Strindberg, geboren 1849 in Stockholm und auch dort 1912 gestorben, zählt zu den wichtigsten schwedischen Schriftstellern.



Hugh R. Trevor-Roper: Der Eremit von Peking

Die Geschichte eines genialen Fälschers

Eichborn 2009, AB 291, 390 S.
OT »A Hidden Life: The Enigma of Sir Edmund Backhouse«, 1976
Aus dem Englischen von Andrea Ott

»Der Mann, der China erfand«

Jing Shan war ein angesehener Mandschu-Gelehrter aus vornehmer Familie, der mit der chinesischen Kaiserinwitwe verwandt war und in enger Verbindung zu allen wichtigen Persönlichkeiten des Kaiserlichen Hofes stand. Als er im Zuge des Boxeraufstands 1900 ermordet wurde, war es der Sinologe Edmund Backhouse, der Shans Schriftrollen vor den Flammen der Plünderer rettete - darunter ein Tagebuch, das die Ereignisse am Kaiserhof während des Boxeraufstands minutiös beschrieb. Viele Jahre hielt Backhouse seinen Fund geheim, bis er Auszüge davon in China under the Empress Dowager veröffentlichte. Das Buch avancierte zum Klassiker, der heute noch unser Bild von China mitbestimmt. Leider war das Tagebuch gefälscht - von niemand anderem als Edmund Backhouse selbst.

Hugh Trevor-Ropers Rekonstruktion der wirklichen Ereignisse im Kaiserpalast ist ein Coup in einer brillanten Studie über einen Gelehrten und Gentleman, der in Wahrheit ein Meister der Camouflage war. Denn warum sollte ein angesehener Wissenschaftler und Kenner Chinas, der sich durch generöse Schenkungen wertvollster chinesischer Handschriften, Bücher und Dokumente an die berühmte Bodleian in der Universität von Oxford und zwei Standardwerke einen Namen gemacht hat, sich eine solche Räuberpistole ausdenken? Weil, so Trevor-Roper, Edmund Backhouse' Leben eine einzige Räuberpistole war. Er fälschte Dokumente, Tagebücher, Zeugnisse und Empfehlungsschreiben, erfand Freundschaften zu Churchill, Verlaine, Oscar Wilde und Henry James, betrog amerikanische und britische Firmen, kassierte für Waffentransporte, die nicht existierten, hielt Minister und Kriegsherren, aber auch Familie und Freunde mit den absurdesten Geschichten zum Narren. »Der bemerkenswerteste Schurke, den es je in Fernost gegeben hat«, sollte ihm ein amerikanischer Geschäftsmann zornig hinterher rufen. Der Fälscher aber sagte von sich selber: »Ich habe ein aufregendes Leben gehabt, allerdings im Verborgenen...«

Hugh Redvald Trevor-Roper, geboren 1914 und ausgebildeter Historiker, war im Mai 1945 als Geheimdienstoffizier der britischen Königin einer der ersten, die im zerstörten Führerbunker nach Spuren der verschwundenen Nazigrößen suchte und später seinen Bericht veröffentlichte. Von 1957 an war er 33 Jahre lang Professor in Oxford. Seine 1976 veröffentlichte Fallstudie über Sir Edmund Backhouse entlarvte den bis dahin anerkannten Chinaexperten als Fälscher und Phantasten. Hugh Trevor-Roper starb 2003 in Oxford.



Hazel Rosenstrauch: Wahlverwandt und ebenbürtig
Caroline und Wilhelm von Humboldt

Eichborn 2009, AB 292, 335 S.

Das Wunder einer vernünftigen Liebe

Verdanken wir das Ideal einer humanistischen Erziehung dem Alltag einer außergewöhnlichen Beziehung? Hazel Rosenstrauchs kritische und wissensgesättigte Annährung an ein Ehepaar, das seiner Zeit weit voraus war.

Wilhelm von Humboldt: der große Reformer unseres Bildungswesens, der Diplomat, der Ästhet, der dem Wesen der Antike auf der Spur war, der Sprach-Philosoph, der Goethe- und Schiller-Freund. Seine Persönlichkeit ist nicht denkbar ohne seine Frau, Caroline von Dacheröden, Mutter seiner fünf Kinder, in den Hauptstädten Europas zu Hause: eine Partnerin, die ihm an Weltneugier, Bildung, Kunstsinn und an tätiger Humanität ebenbürtig war. Die beiden verband keine allzu leidenschaftliche Beziehung, doch eine Liebe »auf gleicher Höhe«. Die »Individualitäten eines jeden Charakters... in einem so engen Verhältnis wie die Ehe respektiert zu sehen«, schrieb sie ihm, »war das einzige, was ich bei dem Mann suchte, dem ich meine Hand geben wollte...« Das entsprach seinem Wunsch »in dem engsten Verhältnis die höchste Freiheit zu behalten«.

Anhand unzähliger Briefe, die sich die beiden über Jahrzehnte geschrieben haben, zeichnet Hazel Rosenstrauch mit kritischer Sympathie das Bild einer selbstbewussten Frau, deren Begriff von Liebe und Partnerschaft weit in die Moderne vorauswies, und das ihres Gefährten, der - an ihrem freien Wesen gewachsen - zu einem der großen liberalen Geister unserer Geschichte wurde.

Hazel Rosenstrauch ist in London geboren und in Wien aufgewachsen, sie studierte Germanistik, Soziologie und Empirische Kulturwissenschaften in Berlin und Tübingen. Arbeit als Journalistin, Redakteurin, Autorin, forschte und lehrte an verschiedenen Universitäten und betreute zuletzt an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften die Zeitschrift »Gegenworte - Hefte für den Disput über Wissen«. Mehrere Buchveröffentlichungen, unter anderem: »Varnhagen und die Kunst des geselligen Lebens. Eine Jugend um 1800«, Berlin 2003.



Géza Ottlik: Die Schule an der Grenze

Eichborn 2009, AB 293, 526 S.
OT »Iskola a Határon«, 1957
Aus dem Ungarischen von Charlotte Ujlaky

Die nachtschwarze Seite der erzieherischen Disziplin

Die »Schule an der Grenze« erschien erstmals drei Jahre nach dem ungarischen Aufstand von 1956 und galt als literarische Sensation: Der wegweisende Roman für die nachwachsende Generation der jungen ungarischen Autoren wie Péter Esterházy oder Peter Nádas.

Die Jungs heißen Gabor, Attila, Medve, Benedek, Orban oder Pal, sind zehn Jahre alt, kommen meist aus wohlhabenden ungarischen Familien und erleben die ersten Wochen in der Kadettenschule in Köszeg. Von einem Augenblick auf dem den anderen müssen sie erfahren, daß alles, was sie zu Individuen macht, was sie im Schoß ihrer Familien geprägt hat, an diesem Ort keine Gültigkeit mehr hat: Anstand, Güte, Demut und Rücksicht, Freundschaften und Beziehungen, ja sogar Sprache und Gestus.

Aus kindlicher Perspektive schildert der Ich-Erzähler die machtversessenen Cliquenbildungen, deren Katalysator die Terrorisierung von Außenseitern ist. Wer dick oder kurzsichtig ist, wer stottert oder vor Heimweh weint, hat schon verloren. Der kühle Tonfall des Erzählers, der eine Quälerei nach der anderen schildert, als handele es sich um unvermeidliche Naturereignisse, erzeugt einen trügerischen Schein von wissenschaftlicher Objektivität; doch genau darin liegt die literarische Kunstfertigkeit des Autors - das Normale, das er schildert, ist das Entsetzliche, und vice versa. Der Leser ist gebannt, zwischen Mitleid und böser Neugier schwankend: Wann nur hört die alltägliche Gemeinheit auf? Géza Ottliks These scheint klar: Sie hört niemals auf.

Géza Ottlik, geboren 1912 und gestorben 1990 in Budapest, war Schriftsteller, Übersetzer, Mathematiker und führender Bridge-Theoretiker. Er besuchte Militärschulen in Köszeg und Budapest und studierte zwischen 1931 und 1935 Mathematik und Physik an der Universität in Budapest. Seine politische Einstellung, die sich auch in dem Roman Die Schule an der Grenze manifestierte, verhinderte eine eigenständige literarische Karriere, sein Einkommen bestritt Ottlik fortan als Übersetzer von Autoren wie Bernhard Shaw, John Osbourne und Evelyn Waugh aus dem Englischen und Thomas Mann und Stefan Zweig aus dem Deutschen - und als Autor spitzfindiger Bridge-Bücher.



Bernd Jürgen Warneken: Schubart - Der unbürgerliche Bürger

Eichborn 2009, AB 294, 419 S.

»O es wär eine Freude, so eines Mannes Freund zu sein.« Friedrich Hölderlin

Schubart, Christian Daniel Friedrich Schubart. Populärer Volksdichter, streitbarer Journalist und unbürgerlicher Aufklärer. Und zu Unrecht vergessen.

Christian Friedrich Daniel Schubart, geboren 1739, gestorben 1791: ein virtuoser Orgelspieler, ein genialer Stegreifdichter, vor allem aber ein großer Journalist. Sein »Volkston« ist keine Volkstümlichkeit von oben herab, sondern eine Verweigerung von arroganter Distanz. Schubart will die Provinz, das flache Land, die bildungsärmeren Schichten für den sich anbahnenden politischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Aufbruch öffnen. Seine Deutsche Chronik wird von Schiller und Hölderlin ebenso gelesen wie von Wirten, Friseuren, Bauern, Handwerksburschen und Bediensteten.

Für die Pressefreiheiten, die er sich herausnahm, büßte er mit einer zehnjährigen Haft ohne Anklage und Urteil. Danach blieben ihm nur noch vier Jahre. Das hat die Biographie des Mannes vom Hohenasperg vor sein Werk geschoben.

Das Buch von Bernd Jürgen Warneken führt beides wieder zusammen: Es zeigt einen eigensinnigen Aufklärer, der die bürgerliche Emanzipation mit »Wucht und Wärme« (Hermann Hesse) vorantreibt, das bürgerliche Habitusideal jedoch bewusst verfehlt. Resigniert schrieb in seinem Todesjahr die Zensurbehörde, der Schubarts »freie Schreibart« von Anfang an missfallen hat: »Allein - sein Ton gefiel dem Publico.«

Bernd Jürgen Warneken, geboren 1945 in Jena, lehrt an der Universität Tübingen Empirische Kulturwissenschaft. Nach einem Studium der Germanistik, Philosophie, Geschichte und Allgemeinen Rhetorik promovierte er 1975 mit einer literaturtheoretischen Arbeit; seine Habilitation 1983 verband Literatur- mit volkskundlicher Kulturwissenschaft. Er vertritt eine quellen- und  feldforschende Binnenethnologie, die sich vor allem mit den unteren Bildungs- und Sozialgruppen beschäftigt. Er ist Mitbegründer des »Forschungsinstituts für Arbeit, Technik und Kultur« in Tübingen und Mitherausgeber der Buchreihe »Forum Europäische Ethnologie«.



Manfred Henningsen: Der Mythos Amerika

Eichborn 2009, AB 295, 357 S.

Der amerikanische Patient

Allen Krisen zum Trotz: Die politischen Eliten Amerikas pflegen das Selbstbild eines auserwählten Amerikas. Manfred Henningsen über die fatalen Folgen eines überlebten Mythos und die Chancen der wichtigsten Weltmacht, sich endlich der Wirklichkeit zu stellen.

Demokratisches Sendungsbewusstsein und machtpolitischer Anspruch auf strategische und ökonomische Vorherrschaft prägen das amerikanische Selbstbild. Das Selbstverständnis der Vereinigten Staaten entspringt einem populären, heroischen Geschichtsbild, in dem die dunklen Seiten der eigenen Vergangenheit nur am Rand auftauchen. Die latente Weigerung, die gewalttätige eigene Gründungsgeschichte samt ihren genozidalen Aktionen gegen die indianischen Völker des Kontinents, der Sklaverei und des Rassismus als Erblast des Amerikanismus anzuerkennen, verstellt immer noch den Blick der politischen Elite auf das eigene Land. Nicht Folter und Rechtsbruch im Kampf gegen den Terrorismus prägen den politischen Diskurs, sondern die klangvolle Rhetorik amerikanischer Auserwähltheit und der Chance jedes einzelnen, den amerikanischen Traum zu leben.

Manfred Henningsen, der seit vielen Jahrzehnten in Amerika lebt und arbeitet, zeichnet anhand vieler historischer Ereignisse und vor allem am Beispiel des jahrhundertealten Rassismus gegenüber der schwarzen Bevölkerung die Entwicklung des amerikanischen Selbstbildes nach und zeigt auf, warum die Amerikaner sich so schwer damit tun, sich den Anforderungen der Gegenwart zu stellen - auch unter Obama. »Der Mythos Amerika« ist eine kritische Bestandsaufnahme der Vereinigten Staaten - und zugleich ein geistiges Zeugnis für die Fähigkeit des Landes zur Selbstbesinnung und Selbstkorrektur.

Manfred Henningsen, 1938 geboren, promovierte 1967 mit einer Arbeit über die Geschichtsphilosophie Toynbees; seit 1970 ist er Professor für Politische Wissenschaft an der Universität von Hawaii. Über viele Jahre hinweg publizierte er regelmäßig in der Zeitschrift »Merkur«. Zu seinen Büchern zählen »Menschheit und Geschichte« (1967) und »Der Fall Amerika« (1974).



Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch

übertragen von Reinhard Kaiser

Eichborn 2009, AB 296/297, 762 S.

»Der großartigste deutsche Roman, der noch zu entdecken bleibt«

Ein Roman über den Krieg und das Geld, über das Leben und Lieben, das Hauen und Stechen in einer verkehrten Welt, in der es drunter und drüber geht - ein Weltbuch und Zeitbild, das nichts auslässt und auf der literarischen Klaviatur alle Register zum Klingen bringt.  

Ein »Literatur- und Lebensdenkmal der seltensten Art« nannte Thomas Mann diesen ersten großen Roman in deutscher Sprache, in dem es »bunt, wild, roh, amüsant, verliebt und verlumpt« zugehe, »kochend von Leben, mit Tod und Teufel auf Du und Du«. Die Titelfigur und den Namen des Dichters kennt jeder — nur gelesen hat das gewaltige Buch so gut wie niemand, denn das barocke Deutsch des Autors ist uns inzwischen fast unzugänglich geworden.

Reinhard Kaiser hat das Wagnis unternommen, dieses erste große Volksbuch der Deutschen wieder unters Volk zu bringen: in einer Sprache, die uns nahe ist. Ihm ist das Kunststück geglückt, Rhythmus, Ton und Geist des ursprünglichen Textes, seine Tiefe und seinen übersprudelnden Witz wieder präsent werden zu lassen.
Für seine Übertragung des »Simplicissimus« aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts in eine allgemein verständliche Sprache erhält Reinhard Kaiser den Grimmelshausen-Sonderpreis 2009.

Dies ist der Auftakt der simplicianischen Schriften. Im Herbst 2010 sind als AB 310 zwei weitere Romane der simplicianischen Schriften erschienen, nämlich die Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörzerin Courage und Der seltsame Springinsfeld. Den Abschluß macht dann Band 328 der Anderen Bibliothek mit den letzten beiden Büchern des simplicianischen Zyklus Das wunderbarliche Vogelnest.


Marko Martin: Schlafende Hunde

Erzählungen

Eichborn 2009, AB 298, 382 S.

 

Motivisch verbundene Geschichten aus Teheran, Prag, Mexico-City, Nizza, Israel, dem Kongo und anderswo: Liebe, Sex und Leben  in einer globalisierten Welt.

Junge Männer aus der iranischen Upper-Class, die sich aus der Enge einer geschlossenen Gesellschaft in eine nicht weniger formierte Privatexistenz flüchten; junge Israelis, die sich plötzlich in die Realität von Terroranschlägen und zweiter Intifada katapultiert sehen; ein homosexueller Museumsführer aus Berlin, der seine traumatische DDR-Vergangenheit Jahr für Jahr in zwei glamourösen Urlaubswochen an der Côte d'Azur vergessen will:
Marko Martins Erzählungen demonstrieren eine hierzulande seltene Welthaftigkeit und eine unerschöpfliche Neugier, die aus der Faszination des Erotischen nicht das geringste Geheimnis macht.

Selten dominierte sie ein Buch mit solch souveräner Selbstverständlichkeit: Liebe ist Liebe, ob in England, in Mexiko, in Israel oder in Deutschland, im Glück, im Unglück. Keine der Amouren, die so unterschiedliche und bunte Gesellschaften durchdringen, schließt sich in abgeschiedenen Zirkeln ein: im Gegenteil, sie öffnen die Fremde - auch dank des mitreißenden Temperaments der Sprache Marko Martins.

Marko Martin, geboren 1970 in Burgstädt/ Sachsen, verließ als Kriegsdienstverweigerer im Mai 1989 die DDR. Abitur am Bodensee, Studium der Germanistik, Politikwissenschaft und Geschichte in Berlin, langjähriger Aufenthalt in Paris. Marko Martin lebt und arbeitet als Schriftsteller in Berlin. Als Band 345 erschien 2013 in der Anderen Bibliothek das Buch »Die Nacht von San Salvador« .


Cordt Schnibben (Hrsg.): Wegelagerer

Die besten Storys der SPIEGEL-Reporter

Eichborn 2009, AB 299, 391 S.

Minutiös recherchiert, originell erzählt: Reportagen aus dem »Spiegel«

Was einen guten Reporter ausmacht? Zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, die unerzählte Geschichte zu finden und sie so aufzuschreiben, als wäre der Leser dabei gewesen.

Eine gute Reportage, meint Martin Walser, schafft eine Tatsachennähe, »die nicht zur Meinung schrumpft, sondern zur Erfahrung wird«, und mit diesem Auftrag ziehen Reporter des »Spiegel« los, auf der Suche nach Geschichten, die so Auskunft geben über die Lage der Welt, dass die Leser dem Reporter bei der Arbeit über die Schulter gucken. Die besten Reportagen sind zeitlos, sie lassen Zeit gerinnen und sich - mit Abstand -  betrachten wie ein gefangener Augenblick.

Die in diesem Reportageband versammelten Glanzstücke von Ullrich Fichtner, Dirk Kurbjuweit, Alexander Osang, Cordt Schnibben, Alexander Smoltczyk und anderen mehrfach ausgezeichneten »Spiegel«-Reportern sind Lehrstücke der modernen Reportage, originell im Thema, gut recherchiert, sprachlich unverwechselbar. Wenn die Knochen von Che Guevara gefunden werden, wenn deutsche Nazis durch Afrika wandern, wenn in afghanischen Gerichtssälen Recht gebrochen wird, wenn ein Altkleiderhemd von Hamburg um die Welt zieht, wenn die US-Armee den Irakern westliche Werte aufzwingen will, schreiben es diese Reporter so auf, dass Wirklichkeit zum Lesevergnügen wird.

Cordt Schnibben, geboren 1952, leitet das Reportagen-Ressort »Gesellschaft« des SPIEGEL. Von 1984 bis 1988 war er Redakteur bei der ZEIT, seither ist er Reporter beim SPIEGEL. Er ist außerdem Autor zahlreicher Bücher und wurde unter anderem mit dem Theodor-Wolff-Preis, dem Egon-Erwin-Kisch-Preis und dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet.


Raymond Aubert: In Pantoffeln durch den Terror

Das Revolutionstagebuch des Pariser Bürgers Célestin Guittard

Aus dem Französischen von Claudia Preuschoft, ausgewählt und eingeleitet von Wolfgang Müller und mit einem Essay von Volker Ullrich

Eichborn 2009, AB 300, 430 S.

Ein einmaliges privates Zeugnis aus den Pariser Revolutionsjahren

Es ist kaum zu begreifen, dass dieses einzigartige Dokument bislang noch nicht ins Deutsche übertragen wurde: das Revolutionstagebuch des Bürgers Célestin Guittard, der seinem Namen gern ein vornehmes »de Floreban« anhängte. Er war 66 Jahre alt, als er mit seinen Aufzeichnungen über den Alltag in jenen Jahren des Aufbruchs und des Terrors begann. Der wohlgelaunte Witwer im besten Mannesalter, mit guten Renten versehen, wusste die Gunst einer hübschen und pikanten Dame namens »Dasel«, nicht halb so alt wie er, durchaus zu schätzen und versah die Tage des gemeinsamen Vergnügens stets mit einem Kreuzchen. Er beschrieb die Jakobiner-Versammlungen und den ersten öffentlichen Gottesdienst der Protestanten und vermerkte die Einführung der Brotkarten und die Ausgabe von Personalausweisen mit demselben Stoizismus wie die Erfindung der Guillotine und, dann doch etwas erschüttert, Namen und Stand der vielen Geköpften.

Für die Andere Bibliothek traf Wolfgang Müller, lange Jahre Herausgeber der Rowohlt-Monographien, eine Auswahl der Texte und leitet sie ein. Claudia Preuschoft übersetzte die Tagebucheinträge. Der Historiker Volker Ullrich, Autor von glänzenden Studien zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, rückt in seinem Essay die Notizen des »Bürgers« aus dem täglichen Leben während der Französischen Revolution in den großen Zusammenhang und erschließt damit die historische und mentalitätsgeschichtliche Bedeutung dieser unschätzbar originellen Chronik.


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© Ralf 2009