AB - Die Andere Bibliothek 2021


Alexander Kareno: Auto halt!
Grete De Francesco: Die Macht des Charlatans
Karl Leberecht Immermann: Münchhausen
Philippe Monnier: Venedig
Die Erkundung von Selborne durch Reverend Gilbert White
Gregor Hens: Die Stadt und der Erdkreis
Louis Kaplan: Vom jüdischen Witz zum Judenwitz
Georg Hermann: Die Nacht des Dr. Herzfeld & Schnee
• Sabine Appel: Unser Rousseau
• Catherine Gore: Der Geldverleiher



Alexander Kareno: Auto halt!

Aufzeichnungen eines Berliner Chauffeurs

AB – Die Andere Bibliothek 2021, AB 433, 308 S.

Alexander Kareno wird während der Inflation 1926 aus Not zum »Chauffeur«. Er findet sich unter »Gewesenen«: ehemalige Pferdedroschkenkutscher, Absteiger aus der feinen Gesellschaft und Studierte ohne Aussicht auf Einstellung – sie alle besuchen die »Fahrerschule«, um Arbeit zu finden in einer der großen und kleinen Garagen der Stadt.

In seinem Episodenroman schreibt Kareno eine Sittengeschichte der modernen Metropole, denn in seinem Wagen nehmen Haute volée und Halbwelt gleichermaßen Platz.

Vom »Autofieber« der ersten Wochen hinter dem Lenkrad, den Symptomen der neuen Verkehrswelt in der wachsenden Stadt, von Übelkeit, nervöser Anspannung und Schlaflosigkeit, von Unfällen, den Schikanen der Schupos und dem kargen Auskommen der Taxifahrer berichtet er uns.

In drei Partien – »Die am Steuer«, »Die im Wagen« und »Moloch Verkehr« – führt Kareno uns durch die Berliner Milieus der 1920er-Jahre und erzählt alles, was er »als Chauffeur sah, erlebte und erfuhr«. Damen und Herren fährt er nach dem Mittagessen zu ihren Liebschaften und wieder heim zu Ehegatten und Kindern. Die Fahrer werden Zeugen von Eifersuchts­tragödien und -komödien, die sich an den Taxiständen abspielen. Von den Liebesabenteuern auf der Rückbank berichten meist noch »Unterhosenknöpfe und Gummi­waren einer gewissen Art«, die zum Schichtwechsel aus den Fahrzeugen getragen werden. Und die Chauffeure lieben auch selbst und werden geliebt – allein für eine Familie reicht ihr karger Lohn nie.

Unter den vielen russischen Emigranten, Intelligenzlern, die unter den Berufschauffeuren zu bestehen versuchen, ist unser Erzähler selbst eine schillernde Figur, sein Leben ein Schelmenroman: Alexander Kareno ist nur das Pseudonym für einen russischen Philologen, einen Slawisten, der seine wissenschaftliche Arbeit wieder aufzunehmen hofft. Der Professorentitel, mit dem er bei Autoren und Verlegern vorspricht, ist bloß erlogen. Schon bald, ab 1934, wird er eine bescheidene Karriere unter den Nationalsozialisten machen, einer Untergruppe der SA beitreten, für Ribbentrops Auswärtiges Amt Dolmetschdienste leisten – und bald nach dem Krieg aus der Öffentlichkeit verschwinden. In Notizen, die er in den nächtlichen Wartezeiten auf dem Lenkrad festgehalten hat, führt er uns in seinem einzigen je veröffentlichten Buch Szenen der Großstadt vor.

Buchgestaltung: Astrid Nippoldt und Daniela Löbbert



Grete De Francesco: Die Macht des Charlatans

Mit einem biographischen Essay von Volker Breidecker

AB – Die Andere Bibliothek 2021, AB 434, 453 S.

Wir lesen die kulturhistorische Analyse einer Gestalt, die in wechselnden Rollen die europäische Geschichte seit dem Altertum heimsucht – geschrieben 1937 von der jüdisch-österreichischen Gelehrten Grete de Francesco. In den verschiedenen Charakterzügen des Scharlatans sind schon seine modernen Nachfolger zu erkennen: Hier die Gier der Homöopathie – „Charlatan ist derjenige, der sich rühmt, zu wissen, was er nicht weiß, und Fähigkeiten zu haben, die er nicht hat“ – , dort der Populist, der mit den Tugenden der Erfolgreichen bricht: „Die Macht des Charlatans bestand darin, daß er alle Unsicherheiten einer religiösen, geistigen, historischen oder ökonomischen Situation durch mannigfaltige Fälschungen so auszunützen und zu lenken wußte, daß eine Wertwelt enstand, in der seine eigenen Unwerte zu Werten wurden.“

De Francesco reist durch Wort und Bild durch die Jahrhunderte und entdeckt uns einen markanten Akteur unserer Kultur: In den Taschenspielertricks der Wunderheiler und den Maskenspielen der Verwandlungskünstler auf den Jahrmärkten des 18. Jahrhunderts lassen sich schon die Mechanismen entdecken, die zu späterer Zeit in verheerender Weise die Massen zu beeinflussen und zu beherrschen vermögen. Die Beispiele, die sie in Literatur und Bildkunst für die habsüchtigen und opportunistischen Wahrheitsbeuger findet, fügen sich in eine Erzählung von der Verführbarkeit des Menschen.

Von den Alchimisten und Goldmachern zu den Salbenkrämern und Schwarzkünstlern geht de Francesco durch die Bilderwelten von Renaissance und Barock und präsentiert uns die Meister der Fälschung und auch – ihr Publikum. Denn ihr Buch ist ebenso kultur- und kunstgeschichtliche Studie wie soziologische Untersuchung: Der Tinkturenmischer braucht sein Publikum, es braucht ihn. Die Scharlatanerie ist ein Spiel mit den Hoffnungen des Publikums und der Massen. „Die Hauptkonsumentin der gefälschten Stoffe, die Masse, will sich billig jene Güter zu eigen machen, deren Besitz wegen Teuerkeit die Wenigen, eben die Besitzenden charakterisiert; sie will vermittels der Fälschung etwas scheinen, was sie nicht ist und taucht diesen Wunsch vor sich selber und vor anderen in Geheimnis.“

Von den Geheimtränken ist es nur ein Schritt zum Betrug mit wissenschaftlichen Methoden, wie de Francesco mit Verweis auf die Erkenntnisse der Humanisten zeigt. Im 18. Jahrhundert wusste man schon vom Blendwerk auch im Politischen: „Dort Elixiere, hier Meinungen – am Ende läuft es auf eins heraus.“

Buchgestaltung: Martin Steiner



Karl Leberecht Immermann: Münchhausen

Eine Geschichte in Arabesken

Mit einem Nachwort bereichert von Tilman Spreckelsen


AB – Die Andere Bibliothek 2021, AB 435, 851 S.

Die »Münchhausiade« von Karl Leberecht Immermann (1796-1840) steht in einer langen Tradition: Sie ist die groteske Variant der Ur-Münchhausen-Legende aus dem 18. Jahrhundert, die von den Kriegs-, Jagd- und Reiseabenteuern des volkstümlichen Freiherrn von Münchhausen auf Bodenwerder fabuliert.

Immermann verwandelt die phantastischen Legenden des berühmten »Lügenbarons« zu einer in der deutschen Literatur bis dahin unbekannten Form des Romans: zeithistorisch, gesellschaftskritisch, komisch und scharf-satirisch, eine anspielungsreiche, schillernde Verbindung aus Zeit- und Kulturkritik. Immermanns Münchhausen erneuert den Roman seiner Zeit und ist eines der bedeutendsten epischen Werke der deutschen Literatur.

Karl Leberecht Immermann, heute fast vergessen, nimmt Abschied vom Bildungs- und Erziehungsroman der klassischen und romantischen Literatur. 1838/39 erschienen und nicht nur von Heinrich Heine bewundert, ist sein origineller Münchhausen eine virtuos verschlungene »Geschichte in Arabesken«.

Bei Immermann ist Münchhausen ein »Erzwindbeutel«, ein »Cäsar der Lügen« und ein »Don Juan der Erfindung« – einer, der in seinem Tun und Erzählen die Wahrheit beansprucht und den Leser, angesprochen und immer wieder ins Geschehen einbezogen, zur Wahrheitsfindung auffordert. Laurence Sternes komischer Roman Tristram Shandy ist dabei das große, vom Erzähler herbeizitierte Vorbild.

Münchhausen ist zugleich ein Doppelroman, der auch vom »Oberhof«, einem reichen westfälischen Gutshof, und vom Kosmos der damaligen ländlichen Lebenswelt erzählt; im Zentrum der »Hofschulze« und ein »Jäger Oswald« – die Gegenwelt zur verfallenden Welt des Adels, in der der Münchhausen-Enkel und sein Diener Karl Buttervogel vor dem Herrn von »Schloss Schnick-Schnack-Schnurr«, vor Tochter und Dorfschulmeister schwadronieren. Eingebunden wird das ausschweifende Geschehen in eine Ehe- und Liebesgeschichte, erzählt werden die ineinander verschlungenen Welten in einem Zeitraum von wenigen Wochen.

Buchgestaltung: Ute Henkel



Philippe Monnier: Venedig

    im achtzehnten Jahrhundert

Aus dem Französischen übersetzt von Rudolf Engel, mit einem Nachwort von Hanns-Josef Ortheil

OT: Venise au XVIIIe sciècle (1907)
AB – Die Andere Bibliothek 2021, AB 436, 485 S.

»Venedig. Im achtzehnten Jahrhundert« ist kein praktischer »Reiseguide«. Es ist die Lektüre davor oder danach. Philippe Monnier hat anderes, Anschaulicheres, Atmosphärisches vor Augen: Er schreibt vor dem Hintergrund der genauen Kenntnis von vierzehn Jahrhunderten Republikgeschichte über ihr letztes – als nach der Abdankung des letzten Dogen in der Nacht vom 14. auf den 15. Mai 1797 »3231 Mann« napoleonischer Regimenter auf »vierzig Schaluppen« anlandeten.

»Wer die zehn Jahre vor der Revolution nicht gekannt hat, hat das Glück zu leben nicht gekannt«, versicherte Talleyrand. »In Venedig, der Heimat des leichten Lebens und dem Spiegelbild Italiens, scheint dieses Glück zu leben beseligender gewesen zu sein als anderswo.«

Monnier schreibt nicht Geschichte von Ereignis zu Ereignis – er erzählt in eleganter, stilvoller, ganz eigensinnig worttrunkener Prosa und dabei zugleich auch präzis informierend in 14 Kapiteln vornehmlich, was wir heute wohl »Kultur- und Sozialgeschichte« nennen.

Nach dem Ersten Kapitel, das das verzaubernde Venedig als ein Eden, die anziehende Oase einer alten europäischen Lebensform beschreibt, folgen Kapitel wie etwa: »Das leichte Leben«, »Die Feste, der Karneval und der Landaufenthalt«, »Die Frauen, die Liebe und der Cicisbeo«, »Die Schriftsteller, Gasparo Gozzi«, »Die musikalische Leidenschaft«, »Die venezianischen Meister (der Malerei)«, »Das venezianische Theater und das italienische Lustspiel«,  »Die Abenteurer und Casanova«, »Die Bürger« und »Das Volk«.

»Venedig. Im achtzehnten Jahrhundert« ist ein einzigartiges Buch – und bis auf den heutigen Tag unbekannt. Verfasst wurde es von dem aus Genf stammenden Philippe Monnier, Rechtwissenschaftler und literarischer Autor, der mit seinen Genfer Chroniken bekannt wurde (1864–1911).

Die Kenntnis der Quellen, der Literatur, des Theaters und der Malerei sind immens; es scheint nichts zu geben, was dieser Autor nicht kennt und in einem weiten Anmerkungsapparat auflistet; hinzu kommen ein Glossar zum venezianischen Dialekt und ca. 50 Abbildungen aus dem 18. Jahrhundert.

Buchgestaltung: Léon Giogoli



Die Erkundung von Selborne durch Reverend Gilbert White

Eine illustrierte Naturgeschichte

Aus dem Englischen von Rolf Schönlau
Mit einem Essay von Virginia Woolf und einer Einführung von June E. Chatfield

AB – Die Andere Bibliothek 2021, AB 437, 397 S.

Als Georg Forster 1772 an Bord von Captain Cooks Weltumseglungsschiff ging, arbeitete Gilbert White schon seit über zwei Jahrzehnten fern von allen Akademien an seinen eigenen naturkundlichen Beobachtungen.

Vor allem an seinem Geburtsort Selborne in Hampshire in Südengland, in dem er als Kaplan die umliegenden Pfarreien betreute, führte er Tagebuch über die Wind- und Witterungsverhältnisse. Er verfolgte die Jahreszeiten und machte sich präzise Notizen zur Selborne’schen Pflanzen- und besonders der Tierwelt.

Mit dem Stapel seiner Notizen wuchs auch seine Sammlung von in Brandy konservierten Präparaten, die seinen Besuchern den Artenreichtum der örtlichen Fauna augenfällig machte.

In der Tradition der englischen »Pastoren-Naturhistoriker«, die die zoologischen und botanischen Nomenklaturen von Carl von Linné füllten, machte sich Gilbert White an die Erkundung jener Landstriche, die er sich wandernd erschließen konnte: Weideland, Kreideformationen, Heiden, Acker- und Kulturböden, Tümpel, Weiher und Flüsse, Sümpfe und Trockengebiete. Seine Feldforschung im Allernächsten brachte Erstaunliches zutage: Er gilt als Entdecker der Zwergmaus als eigenständiger Art, hat als Erster Zilpzalp, Fitislaubensänger und Waldlaubensänger anhand ihres Gesangs als drei verschiedene Vogelarten unterschieden und festgehalten, dass Eulen in B-Dur schreien.

Mit Anteilnahme verfolgte er das Schicksal ortsansässiger Arten: ob Krähe, Kuckuck oder Nachtschwalben, Grillen, Heimchen – oder auch die Schildkröte seiner Tante. Als ein mächtiger Eichenbaum gefällt wird, beschreibt er die Not einer Rabenfamilie, die ebendiesen Baum seit Generationen zur Heimstatt hatte; noch während die Säge ihr Werk tut, sitzt die Rabenmutter im frisch bestellten Nest …

Aus den Briefwechseln mit seinerzeit weit über England hinaus bekannten Naturforschern komponiert der Hobby-Zoologe White fast 40 Jahre lang sein Buch, das erst 1789, wenige Jahre vor seinem Tod, erscheint. Anders als seine längst vergessenen Kollegen fand »Reverend« White eine sprachliche Form, die seine Naturgeschichte von Selborne zu einem zeitlosen Klassiker der englischen Literatur machte. Nach Hunderten Ausgaben in Großbritannien und Übersee brachte es seinem Heimatdorf Selborne einigen Ruhm und Bekanntheit – heute ist das Gilbert White House mit angegliedertem naturkundlichem Museum Ziel von Touristen aus aller Welt.

Buchgestaltung: Anja Sicka, Claudia Schenk



Gregor Hens: Die Stadt und der Erdkreis

Erkundungen

AB – Die Andere Bibliothek 2021, AB 438, 306 S.

Gregor Hens ist in der Stadt wie in der Bibliothek zu Hause, und wenn es dunkel wird, steigt er auf das Dach seines Hauses in Berlin und richtet das Teleskop auf die Sterne. »Urbi et orbi«, der Blick schweift über die Stadt und den Erdkreis und findet Halt im Universum.

Wie nehmen wir die Stadt wahr? Wie nimmt sie uns wahr? Wird die Stadt ihre Bewohner vermissen, wenn sie eines Tages nicht mehr da sind?

Als Lesender, als Gehender und sogar als Schwimmender durchmisst Hens die Metropolen dieser Welt, von Berlin über Las Vegas bis Shenzhen, von den äußersten Randgebieten bis in die blinden Räume touristisch vermarkteter Stadtzentren. Es sind urbane Räume, in denen Gregor Hens heimisch ist, wie in seiner Geburtsstadt Köln oder wie in Berlin, wo sich der Stadtplan mit den Situationen eigenen Lebens verbindet und er sich tags wie nächtens durch »Stadtlandschaften« bewegt. Es sind vertraute Metropolen in der Ferne, die er als Reisender erkundet hat, oder solche, von denen wir nur deutliche Bilder haben oder die wir im kollektiven Gedächtnis bewahren; oder es sind Megastädte irgendwo, die nur Namen tragen.

Gregor Hens erkundet unsere globale Städtewelt in der Tradition der Psychogeografie, liest Virginia Woolf, Guy Debord oder Rem Koolhaas, bohrt sich in die tiefsten Schichten der Stadt und steigt mit dem Kameraauge auf, bis sie ihm zu Füßen liegt in ihrer ganzen Komplexität und Schönheit: als Bild, als Karte, von Kindern staunend bespielt und manchmal auch erstarrt vor der Katastrophe. Städte und ihre Gegenentwürfe, die Gregor Hens in den Objekten der Land Art ausmacht, in Michael Heizers Wüstenskulpturen und Walter De Marias Extrembohrungen, sind komplexe Gebilde, bestehend aus unzähligen ästhetischen Momenten. Gregor Hens’ Prosa, die sich ihrer annimmt, liest sich wie ein Falk-Plan, der die überraschendsten Anschlüsse und Bezüge bietet.

Buchgestaltung: Bettina Arlt und Lena Kleiner, favoritbuero, München



Louis Kaplan: Vom jüdischen Witz zum Judenwitz

Eine Kunst wird entwendet

Aus dem amerikanischen Englisch von Jacqueline Csuss

OT: At Wit's End: The Deadly Discourse on the Jewish Joke (2020)
AB – Die Andere Bibliothek 2021, AB 439, 415 S.

Louis Kaplan bestellt ein vielfach umgepflügtes Feld, das spätestens seit Sigmund Freuds Behandlung des jüdischen Witzes in seiner Studie Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten von 1905 zu einer regelrechten Wissenschaft geworden ist: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschien eine ganze Reihe von mal philosophischen, mal psychoanalytischen, mal soziologischen Abhandlungen, die allesamt zum Ziel hatten, den Zauber oder Gehalt dessen zu erklären, was den Schreibern Rätsel aufgab: das »vielgestaltige Wesen des jüdischen Witzes«.

Diesen kulturhistorischen, politisch-literarischen und geistesgeschichtlichen Verwicklungen geht Kaplan nach. Er erzählt eine vor allem jüdisch-deutsche Geschichte von Assimilation und Ausgrenzung, Emanzipation und Übernahme kultureller »Codes« und nicht zuletzt vom Antisemitismus, der an der unbestimmten Grenze zwischen »jüdischem Witz« und »Judenwitz« wuchs und gedieh.

Das 19. Jahrhundert und das erste Drittel des 20. Jahrhunderts sind in deutschsprachigen Ländern voll von Witzbüchern, Kabarettstücken und ganzen Vaudeville-Programmen, die eine je unterschiedliche Art dessen vorstellen, was als »jüdischer« Schalk und Scherz vorgestellt – oder dafür gehalten worden ist. Der Vorwurf an die Adresse der jüdischen Schwank- und Witzerzähler lautete zu jeder Epoche gleich: dass sie nämlich mit ihren selbstironischen oder gegen sich und andere Juden gerichteten Späßen den Antisemiten Waffen an die Hand gäben. Noch in den 1960er-Jahren entbrannte um das Erfolgsbuch Der jüdische Witz von Salcia Landmann eine öffentliche Kontroverse um die Frage, ob Landmanns Anthologie nicht in plumpester Weise antisemitische Klischees reproduziere.

Der Geschichte des Antisemitismus in Deutschland und Europa zum Trotz haben sich die verschiedenen Varianten jüdischer Komik ihre Widerständigkeit bewahrt: In ihren modernen Formen in der Populärkultur unserer Tage (etwa den filmischen Husarenstücken von Sacha Baron Cohen oder Jon Stewarts The Daily Show) erkennt Kaplan die bittere Ironie jüdischer Witzbücher aus den 1920er-Jahren wieder – wie auch der zeitgenössische jüdische Humor in den USA ein wichtiger Bezugspunkt des Buches ist.

Im chronologischen Fortschreiten durch sein üppiges Material (neben Texten vor allem Bilder und Karikaturen) ordnet Kaplan uns das Wissen um eine Kulturtechnik, die so nur unter den Bedingungen der Diaspora entstehen konnte.

In sechs Kapiteln besieht Kaplan die Weimarer und die österreichische Republik (1918–1933), das Dritte Reich (1933–1945) und die Zeit nach der Shoah (1945–1964) und präsentiert uns zentrale Texte und Schlüsselstellen in der Geschichte jüdisch-deutschen Kulturtransfers.

Buchgestaltung: BANK™, Berlin



Georg Hermann: Die Nacht des Dr. Herzfeld & Schnee

Mit einem Nachwort von Lothar Müller

AB – Die Andere Bibliothek 2021, AB 442, 525 S.

Mit seinem psychologisch-realistischen Gesellschaftsroman Jettchen Gebert und dessen Fortsetzung Henriette Jacoby (1906/08) wurde Georg Hermann zur literarischen Berühmtheit.

Sein Zeitroman Kubinke von 1910 (in der Anderen Bibliothek 2019) erzählt die Lebensgeschichte eines »kleinen Mannes«. Nach der Lektüre haben wir Emil Kubinke, den schüchternen Friseurgehilfen, der im Berliner Westen Fuß zu fassen versucht und dabei untergeht, nie vergessen.

1912 erschien Die Nacht des Dr. Herzfeld und 1921 die mitten im Ersten Weltkrieg handelnde Fortsetzung Schnee, ein Doppelroman. Zwischen den Romanen liegen ein Krieg und Welten – aber es ist der Tonfall wehmütiger Heiterkeit, der sie verbindet. Georg Hermann ist der essayistisch lustvoll erzählende große Chronist einer jüdisch-bürgerlichen Lebenswelt und sein Dr. Herzfeld Vertreter eines großstädtischen, gebildeten Judentums. Georg Hermanns Romane schaffen impressionistische Wahrnehmungstableaus aus dem Metropolenleben.

In seiner Dachwohnung im Gartenhaus lebt Dr. Alwin Herzfeld, seinen fünfzig Lebensjahren nah, eine Eigenbrötlerexistenz. Die Wohnung im Parterre hält Hermann Gutzeit mit seiner Familie, Gesprächspartner während langer Gänge durch die Metropole. Herzfeld ist akademisch gebildeter Schriftsteller, Kritiker, »nachdenklich wie alle, deren Wissenschaft das Leben ist« – vor allem aber skurriler Sammler von Kunst und den Erregungen des flüchtigen Augenblicks. Herzfeld ist ein Augenmensch, ein Ästhet. Immerfort räsoniert er, ein brillant eloquenter Schöngeist, der mit seinem Nachbarn, einem erfolglosen kleinen Zeitungsschreiber, durch Berlins Straßen um 1910 lustwandelt, Kurfürstendamm mit seinen »Protzenburgen«, Anhalter Bahnhof, Villenviertel, blühende Vorgärten. Sie sind ein ungleiches Paar, immer in plaudernder Konversation, aber beide vom Leben lädiert.

Am nachtschwärmenden Flaneur Herzfeld zieht die Stadt mit ihrem neuen Reichtum vorbei, der »Sudkessel « der Bohème, die er liebt, die Caféterrassen, Erinnerungen, Begegnungen – sein Leben ist wie ein fortwährender innerer Monolog, ein impressionistischer Reigen, ein nie versiegender Strom des Bewusstseins inmitten der Atmosphäre der großen Stadt mit ihren unendlichen Reizen, in denen sich Herzfeld träumend verliert. Auf die »Nacht des Dr. Herzfeld« lässt Georg Hermann neun Jahre später den Antikriegsroman »Schnee« folgen, auf Sommernächte folgt der Novemberhimmel über Berlin.

Über die Schienen, auf die er aus seinem Fenster sieht, rollen erst die Truppentransporte, dann leuchten auf den Waggons die »roten Kreuze auf dem weißen Feld«. Dr. Herzfeld hat die jungen Freunde verloren, die älteren haben sich mit dem Krieg abgefunden, unter den Schneeschleiern über Berlin ist es einsam um den großen Individualisten geworden, der Krieg hat ihn »aus seinem Zentrum geworfen«, die letzten Illusionen sind zerstoben.

Buchgestaltung: editienne, Christine Gundelach, Berlin


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Ausblick:
















© Ralf 2021