• Johann Wilhelm Wolf: Verschollene Märchen
• Jacob Burckhardt: Historische Fragmente
• Nancy Mitford: Englische Liebschaften
• Gustave Flaubert: Jules und Henry
• Boris Pilnjak: Mahagoni
• Guillaume Raynal, Denis Diderot: Die Geschichte beider Indien
• José Maria Eca de Queirós: Treulose Romane. Basilio und Alves
• Christoph Ransmayr: Die letzte Welt
• Rolf Vollmann: Shakespeares Arche
• Rudolf Brunngraber: Karl und das zwanzigste Jahrhundert
• Henri Joseph du Laurens: Mathieu oder die Ausschweifungen
• Soeren Kierkegaard: Der Augenblick
Greno 1988, AB 37, 334 S.
Der ungeheure Erfolg, der dem großen Märchenbuch der Brüder Grimm beschieden war, hat - paradoxerweise - eine reiche Tradition unter sich begraben. Überall hatten sich zwischen 1830 und 1860 Lehrer, Ärzte, Pfarrer, Schriftsteller aufgemacht, um in den deutschen Provinzen die letzten Reste der mündlichen Literatur einzusammeln, bevor sie der Industrialisierung und der allgemeinen Schulpflicht zum Opfer fiel. Der Ertrag ihrer Arbeit ist heute ganz verschollen.
Ein bezauberndes Beispiel für diese verlorene Überlieferung sind die Märchen, die Johann Wilhelm Wolf und sein Schwager Wilhelm von Ploennies in den Spinnstuben des Odenwalds und in den Wirtshäusern an der Bergstraße notiert haben - Märchen, die dem Eifer der Brüder Grimm entgangen waren, und die nun seit mehr als hundert Jahren niemand mehr gehört hat.
Greno 1988, AB 38, 408 S.
Einen »plastischen Fries von Gestalten und Bildern« hat man Burckhardts Historische Fragmente genannt. Ihre Anordnung folgt der historischen Chonologie - von der Antike über das Mittelalter, die frühe Neuzeit, das 17. und 18. Jahrhundert bis hin zur Französischen Revolution und ins 19. Jahrhundert.
Das Ergebnis: eine Geschichte des Abendlandes in 149 Skizzen, jede von ihnen wenige Seiten, manchmal auch nur wenige Sätze lang, Erkundungen, die mit erstaunlicher Direktheit bei der Sache sind, zum Kern einer Epoche, einer Gestalt, eines Problems vorstoßen. Die Akzente fallen schärfer, klarer, bedenkenloser, persönlicher aus, als es in »Hauptwerken« für gewöhnlich der Fall ist. Wer Jacob Burckhardts Fragmente liest, der blättert in den Skizzenbüchern eines Künstlers der Geschichtsschreibung und genießt alle Reize des ersten Wurfs.
Greno 1988, AB 39, 346 S.
Mit diesem Gesellschaftsroman hat Nancy Mitford der englischen Oberklasse, ihrer eigenen, ein Denkmal gesetzt. Aber ein sehr sonderbares, sehr englisches Denkmal. Es steht auf dem Kopf, und hat lauter Löcher, Gucklöcher, durch die man einen Blick in das Innere der nicht immer bloß feinen englischen Art werfen kann. Sie hat Witz, ein abgefeimtes Gespür für die Komik von Situationen und Charakteren, eine enorme Fähigkeit zur intelligenten Karikatur und einen unnachahmliche einfühlsamen Sakasmus.
Greno 1988, AB 40, 384 S.
Es gibt einen Roman von Flaubert, den keiner kennt. Es ist Flauberts erster Roman. Er heißt Jules und Henry und gilt bei denen, die von ihm gehört haben, als frühe, »kleine« Fassung der Education sentimentale. Aber Jules und Henry ist in Wirklichkeit gar keine »Fassung«, sondern ein völlig selbstständiges, unverwechselbares Werk. Und die Urform hat Reize, die das spätere Werk nicht besitzt.
Greno 1988, AB 41, 333 S.
Pilnjak, eigentlich Boris Vogau (1804-1941), ein russischer Erzähler wolgadeutscher Herkunft, war »die beherrschende Gestalt der Sowjetliteratur in den Jahren 1921-1923« (Struve). Wenn man seine Geschichten liest, hat man nicht den Eindruck, daß sie gealtert sind. Eine anarchische Haltung verbindet sich in ihnen mit hochentwickelter formaler Technik. Lineare Handlungen gibt es nicht. Die Komposition ist mosaikartig, die Syntax eigensinnig, der Stil heterodox. Pilnjaks Mittel reichen vom dokumentarischen Zitat bis zur »ornamentalen« Prosa. Seine Erzählungen balancieren zwischen Ironie und Schrecken.
Ein Autor wie Pilnjak hatte im Stalinismus keine Chance. Schon die Titelgeschichte »Mahagoni« (die übrigens zuerst in Berlin gefruckt wurde) trug ihm 1929 wütende Angriffe ein und führte zu seinem Ausschluß aus dem Schriftstellerverband. 1937 wurde Pilnjak verhaftet. 1941 ist er in einem Lager umgekommen. 1957 hat man ihn offiziell »rehabilitiert«. Seine Werke sind in Moskau bis heute kaum zu finden.
Greno 1988, AB 42, 349 S.
Die Philosophische und Politische Geschichte der Besitzungen und der Handlung der Europäer in beiden Indien des Abbé Raynal war neben Voltaires Candide und Rousseaus Nouvelle Héloise der größte Bucherfolg im Frankreich der Aufklärung. Dieser Erfolg verdankt sich der Tatsache, daß Raynal die erste umfassende Geschichte der europäischen Expansion nach Übersee und zugleich die erste politische Kritik des Kolonialismus geschrieben hat. Ein Netz von Informanten, das von Madrid bis Moskau und von Berlin bis Philadelphia reichte, verschaffte Raynal die nötigen Informationen; darüber hinaus fand er in Denis Diderot einen genialen Ghostwriter.
Greno 1988, AB 43, 379 S.
Für alle großen Realisten des neunzehnten Jahrhunderts war der Ehebruch ein zentrales Motiv: was sie daran interessierte, war die Möglichkeit, anhand solcher privater Konstellationen tiefer liegende Verwerfungen ihrer Welt darzustellen.
Das gilt auch für die beiden Treulosen Romane von Eça de Queirós, die einander spiegelbildlich ergänzen; zusammengenommen zeichnen sie, auf äußerst sarkastische Weise, das Porträt einer hoffnungslos stagnierenden Gesellschaft.
Im Lissabon der 1870er Jahre erbeutet der flotte Macho Basilio, eine elegante Null, ein ewiger Sieger, der über Leichen geht, seine naive, glücklich verheiratete Kusine Luisa, eine entfernte Verwandte der Madame Bovary. Neben dem ahnungslosen Ehemann fällt die vierte Hauptrolle einer dämonischen Küchenmagd zu, die ihre Herrin erpreßt. Ein happy end ist in solchen Fällen ausgeschlossen, auch wenn der schwarze Humor des Autors das Melodram auf Schritt und Tritt zersetzt.
In dem Pendant dazu, Alves & Co, wird die Tragikomödie zur Farce. Auch hier geht es um Ehebruch und Mord. Duell und Ruin; aber die Geschichte endet in einer nihilistischen Idylle, und sie zeigt die portugiesischen Sitten in einem so unbarmherzigen Licht, daß der Roman erst aus dem Nachlaß veröffentlicht werden konnte.
Greno 1988, AB 44, 323 S.
Venezianische Garden legen Phosphorbrände an die Fluchtwege der Katakomben, eine Stimme am Telephon spricht vom Zorn des Imperators,. und Ovid, der unglücklichste Dichter der Antike, tritt zur Eröffnung eines Stadions vor einen Strauß Mikrophone und sagt: Bürger von Rom...
Die letzte Welt, von der hier die Rede ist, hat ihren Ursprung im Feuer. Es ist eigentlich nur ein Zimmerbrand, der die Schreibstube einer römischen Villa verwüstet. Was dieses Feuer unvergeßlich macht, ist der Umstand, daß es von Ovid entfacht wurde; was da brennt, ist sein Hauptwerk, die Metamorphosen, eine grausame Enzyklopädie der antiken Verwandlungsmythen.
Der Dichter verbrennt sein Werk aus Protest, aus Verzweiflung darüber, daß er Rom verlassen muß. Augustus verbannt ihn in die Wildnis der Schwarzmeerküste, in die barbarische Stadt Tomi. Viele Jahre später erreicht das Gerücht von seinem Tod die Residenz.
War es nur eine Abschrift, was in jenem Feuer zu Asche wurde? Oder ist das Original für immer verglüht, und mit ihm die Summe der Mythen? Wird der verbotene und verbannte Dichter, wie üblich, nach seinem Tode rehabilitiert? Wer war der ehrgeizige Römer, der sich aufgemacht hat, um die Wahrheit über den Verbannten zu erforschen, und was hat er an jener barbarischen Küste entdeckt?
Greno 1988, AB 45, 523 S.
Niemand - es ist kein Risiko, das zu behaupten - kann Shakespeares Welt im Kopf behalten. Dazu ist sie zu groß, zu reich, zu mannigfaltig: ein ganzes Universum, eine parallele Schöpfung. Auch wer in diesem Buch nur blättert, um etwas nachzuschlagen, wird sich in seinen kunstvollen Netzen verheddern und weiterlesen, kreuz und quer, bis er sich im Shakespearischen Gewimmel verirrt hat.
Rolf Vollmann hat sich vorgesetzt, diese Welt zu beschreiben, mit allem, was sie enthält: mit ihren Frauen und Männern, Königen und Schurken, Herren und Dienern, Göttern und Geistern, Bestien und Chimären, und dazu noch ihren Schauplätzen, Schlössern, Städten, Inseln. Und zwar vollständig, von A bis Z, so lückenlos, daß auch der letzte Pferdeknecht zu seinem Recht kommt.
Auf diese Weise ist ein unentbehrliches Shakespeare-Handbuch, ein Kompendium entstanden. Nur daß der Verfasser kein neutraler, anonymer Lexikon-Knecht ist, sondern ein witziger, kenntnisreicher Erzähler, und daß wir hier keine Datenbank vor uns haben, sondern eine Arche, aus der uns eine endlose Reihe von Figuren entgegentritt. Vollmann führt sie uns konzis, amüsant und spannend vor Augen, so, als hätten wir es nicht mit Gestalten aus der Literaturgeschichte zu tun, sondern mit lebendigen Bewohnern einer phatastischen Welt.
Greno 1988, AB 46, 277 S.
Hat es »Die Neue Sachlichkeit«, jenseits der Schlagworte, wirklich gegeben? Der Österreicher Rudolf Brunngraber war vielleicht der einzige. der ihr Konzept in einem Roman verwirklicht hat. Karl oder das zwanzigste Jahrhundert ist in diesem Sinn ein Extremfall. Das zeigt sich schon an den ersten Sätzen des Buches: »Als Frederick W.Taylor (Philadelphia) 1880 als Erster konsequent den Gedanken der Rationalisierung faßte. war der Wiener Karl Lakner noch nicht unter den Lebenden. Das entschied sich zu seinem Nachteil.«
Der Held des Romans wird zeit seines Lebens nicht verstehen, von welchen anonymen Kräften sein Los bestimmt wird. Er ist proletarischer Herkunft und versucht aufzusteigen. Brunngraber, selbst ein Maurersohn aus den Wiener Vorstädten, schreibt noch einmal einen Entwicklungsroman mit autobiographischen Zügen, aber er führt diese Gattung ad absurdum. Denn es sind nicht Lakners Handlungen, die den Ausschlag geben, sondern Kapitalbewegungen, industrielle Prozesse, Börsenmanöver, Strategien der Technik und der Aufrüstung. Als sich Karl im Februar 1931 vor einen Zug stürzt, ist das nur die Konsequenz aus einer aussichtslosen Lage, die er mit Millionen von Arbeitslosen teilt.
Mit diesem Buch aus dem Jahre 1932, das lange verschollen war, hat Rudolf Brunngraber etwas geschaffen, was in der deutschen Literatur ziemlich einzigartig ist: einen Roman, der zeigt, daß (um mit Rathenau zu sprechen) die Wirtschaft zum Schicksal des 20. Jahrhunderts geworden ist.
Greno 1988, AB 47, 509 S.
Ein verschollenes, ein zensuriertes. ein verbotenes Buch, das in der Hölle der Literaturgeschichte schmort, ebenso wie sein Autor, jener Abbé Henri Joseph du Laurens (1719 bis 1797), der zwanzig Jahre in einem deutschen Gefängnis zugebracht hat und dort elend gestorben ist.
Mathieu oder Die Ausschweifimgen des menschlichen Geistes, 1765 »unter dem Mantel« erschienen, nicht in London, wie das Titelblatt behauptet, sondern in Holland, ist ein Roman, der seinem Titel alle Ehre macht: aus- und abschweifend, wild. abenteuerlich, verrückt wie seine drei Protagonisten, die einen absurden, tragikomischen Kampf gegen Gott und die Welt führen. »Der Gevatter Mathieu«, so heißt es etwas süßsauer in einer zeitgenössischen Kritik aus der berühmten Grimmschen Korrespondenz, »ist ein Halunke. der sich mit einem andern Halunken zusammentut - und diese beiden Halunken sind Philosophen. Sie rechtfertigen ihre Gaunereien, indem sie sich auf die moralischen Anschauungen der berühmtesten französischen Philosophen berufen. Unterwegs begegnen sie einem dritten Halunken. einem bigotten Spanier. der sich alle nur denkbaren Infamien erlaubt, ohne je seine religiösen Pflichten zu versäumen. Man sollte den Autor ehrenhalber ins Irrenhaus schicken«.
Zynisch, respektlos, komisch, arm, durchtrieben, schlagen sich die Helden des Romans, die allesamt Verlierer sind, in einem Strudel von Scharmützeln, Schiffbrüchen und Verhaftungen durch; sie bringen alle Autoritäten gegen sich auf, nicht nur die Kirche, sondern auch die Orthodoxie der rechtgläubigen Aufklärung: und wie drei Stehaufmännchen tauchen sie aus jeder Katastrophe wieder auf...
Greno 1988, AB 48, 327 S.
Am 24. Mai 1855 erschien in Kopenhagen, damals noch einer recht beschaulichen, biedermeierlichen Stadt, die erste Nummer einer Zeitschrift, die von einem einzigen Mann erdacht, herausgegeben und verfaßt wurde: von Søren Kierkegaard. Von diesem unscheinbaren Heft wurde nur eine Auflage von wenig hundert Exemplaren gedruckt. Es war Kierkegaards letzte und verzweifeltste publizistische Unternehmung. Er starb, bevor er die letzte Nummer zum Druck geben konnte.
Der Augenblick ist eine Abrechnung mit dem organisierten Christentum, die sich bis zu einer unerhörten Schärfe steigert. (In der vorletzten Nummer steht ein Essay zum Beweis dessen, »daß die Priester Menschenfresser sind«.) Aber über die christliche Problematik hinaus wirft Kierkegaards Denken eine Frage auf, die allgemeiner gefaßt werden kann: Was geschieht, wenn man eine Überzeugung, einem Glauben, eine unbedingte Forderung ernst nimmt? In diesem Sinn ist seine Schrift eine rücksichtslose Abrechnung mit jeder Form der Heuchelei.
Der Augenblick, ein unerreichbares Beispiel nadelfeiner und vernichtender Polemik, wurde zum Vorbild der Fackel, die Karl Kraus ein Menschenalter später gegründet hat.