AB - Die Andere Bibliothek 1990


Ernst Moritz Arndt: Märchen aus dem Norden
Gustav Radbruch, Heinrich Gwinner: Geschichte des Verbrechens
W. G. Sebald: Schwindel. Gefühle
Sadeq Hedayat: Die blinde Eule
Hans Magnus Enzensberger: Europa in Ruinen
Bernard de Fontenelle: Totengespräche
Karl Schlögel: Wegzeichen
A. Pfabigan: Die Andere Bibel
Nancy Mitford: Liebe unter kaltem Himmel
Krista Federspiel, Hans Weiss: Arbeit
Ryszard Kapuscinski: Der Fußballkrieg
Die Amouren des Marschalls von Richelieu


Ernst Moritz Arndt: Märchen aus dem Norden

Eichborn 1990, AB 61, 363 S.


Gustav Radbruch, Heinrich Gwinner: Geschichte des Verbrechens

Eichborn 1990, AB 62, 447 S.


W. G. Sebald: Schwindel. Gefühle.

Eichborn 1990, AB 63, 303 S.

»Beziehungswahn« nennen es die Psychologen, wenn eine leicht verletzbare und eigensinnige Person die Erfahrung macht, daß sich in allem, was ihr zustößt, merkwürdige Übereinstimmungen herstellen, so, als gehorche der Zufall einem unbekannten Gesetz. Aber was heißt hier »Wahn«? Vielleicht ist es eben diese Koinzidenz der Ereignisse und der Bilder, die ein eigenes Leben überhaupt erst möglich macht?

W. G. Sebalds Geschichten mit Trauerrand sind alltägliche und unheimliche, minutiöse und ausschweifende Zeugnisse einer hartnäckigen Störung. Aus den Ritzen der Erinnerung treten bald bedrohliche, bald beglückende »Zufälle« hervor. Aber das leise Inferno der Depression macht den Erzähler nicht mundtot; eher scheint es ihn zu einer gesteigerten Wahrnehmung zu befähigen. Im Zeichen der Melancholie ist ihm ein Text von paradoxer Schönheit gelungen.

W. G. Sebald wurde 1944 in Wertach im Allgäu geboren; nach seinem Studium ging er in die französische Schweiz und nach England; er war Schullehrer in St. Gallen und Lektor an der Universität Manchester. Seit 1980 lebt er als Dozent in Norwich.


Sadeq Hedayat: Die blinde Eule

Eichborn 1990, AB 64, 297 S.

Sadeq Hedayat gilt heute als der größte iranische Schriftsteller des Jahrhunderts. Er war ein Gegner der Diktatur Reza-Schahs und lebte viele Jahre im Exil. In seiner Heimat hatte er stets mehr Feinde als Leser. Sein Hauptwerk, Die blinde Eule, ist 1936 in Bombay erschienen - ein Buch der Verwandlungen, eine einzige lange Halluzination, der Opiumtraum eines Verzweifelten. Zeiten und Räume fließen ineinander, Ursache und Wirkung, Realität und Traum sind nicht mehr voneinander zu trennen. Und doch ist das Buch von einer unerbittlichen Logik: ein topologisches Labyrinth, irritierender als alles, was Escher zustande gebracht hat. Vielleicht ist Die blinde Eule das, was man heute einen Fantasy-Roman nennt. Aber vom Disneyland der »östlichen Weisheit« ist seine Vision weit entfernt. Muftis und Gurus nennt Hedayat »Kanaillen«, und die Religion ist für ihn eine »Kinderklapper«. Seine Mystik ist die schwärzeste: sie bietet keinen Notausgang ins Paradies.


Hans Magnus Enzensberger: Europa in Ruinen. Augenzeugenberichte aus den Jahren 1944 bis 1948

Eichborn 1990, AB 65, 303 S.

Wie unser Kontinent am Ende des Zweiten Weltkriegs aussah, das können sich die Nachgeborenen nicht vorstellen, und wer es miterlebte, der hat es längst verdrängt und vergessen.

Weder die Roman- noch die Memoirenliteratur kann das Unvorstellbare jener Jahre vergegenwärtigen. Wer wissen will, wie es war, muß auf die unmittelbaren Eindrücke der Zeitgenossen zurückgreifen. Die schärfsten Bilder haben Autoren geliefert, die den siegreichen Armeen der Alliierten folgten. Unter ihnen ragen die besten Reporter Amerikas hervor: Martha Gellborn, Edmund Wilson und Janet Fanner. Später kamen die Neutralen dazu, Schweden und Schweizer. Sie kamen aus Ländern, die der Krieg weitgehend verschont hatte: Außenseiter, die ihren Augen nicht trauten. Die Szenen, die sie überliefern, sind brutal und exzentrisch, furchterregend und bewegend: es sind Botschaften, wie sie uns heute aus der sogenannten Dritten Welt erreichen.


Bernard de Fontenelle: Totengespräche

Eichborn 1991, AB 66, 427 S

Merkwürdig: Fontenelle, dieser freie Geist - Diderot und Chamfort haben ihn bewundert, und noch Nietzsche wußte ihn zu schätzen -, Fontenelle ist der vergessenste aller Klassiker; die letzte deutsche Übersetzung seines Hauptwerks stammt aus dem Jahr 1727. In seinen Dialogen bricht die Morgenröte der Aufklärung an. Vielleicht war er zu gescheit für seine Zeitgenossen, vielleicht ist er zu früh geboren. Im Paris des Jahres 1683 herrschte in der Literatur und in der Philosophie noch die höfische Etikette. Er hat mit ihr gebrochen. Den Sieg seiner Denkweise hat er noch erlebt, denn er wurde genau hundert Jahre alt.

Die vierundzwanzig Totengespräche sind dem Andenken Lukians gewidmet, und der ganze Witz des großen Vorgängers zeichnet sie aus. Dessen Methode, »die Toten als Dolmetscher für die Probleme der Lebenden« herbeizurufen, hat er zugespitzt durch die verblüffende Paarung der Gesprächspartner und durch den gezielten Anachronismus. So unterhält sich im Reich der Toten der Kaiser Augustus mit dem Skandal-Schriftsteller Pietro Aretino über den Ruhm; die lesbische Dichterin Sappho streitet mit Laura, der Bedichteten, über die Liebe; und eine berühmte Kurtisane beweist Alexander dem Großen, daß ihre Eroberungen interessanter waren als die seinigen.


Karl Schlögel: Wegzeichen. Zur Krise der russischen Intelligenz

Eichborn 1990, AB 67, 348 S.

Nach dem Debakel der ersten russischen Revolution von 1905 - das Imperium stand am Rand einer Katastrophe - unternahmen sieben namhafte Autoren einen Frontalangriff auf die hieligen Kühe der fortschrittlichen Intelligenz. Ihr Buch, Vechi, zu deutsch: Wegzeichen oder Wegmarken (Moskau 1909), war eine Sensation. Es wurde als Verrat an allen »linken« Traditionen aufgefaßt und rief mehr als 250 wütende Repliken hervor.

Ein Auszug aus dem Register der Vorwürfe, die die Vechi-Autoren ihren Weggenossen machten: Fanatische Intoleranz, Bekennertum, rigoroser Moralismus; Märtyrerallüren und messianische Verblendung; Prinzipienreiterei, Verachtung für die praktische Arbeit, ökonomische Ignoranz; mangelndes Rechtsbewußtsein und fehlendes Verständnis für demokratische Institutionen. Gegen die Tyrannei des Politischen nahmen die Vechi-Autoren das Individuum, seine schöpferischen Fähigkeiten und metaphysischen Bedürfnisse in Schutz. Sie traten für den Rechtsstaat und für eine Ethik der Toleranz ein. Diese Auseinandersetzung ist von mehr als historischem Interesse.


A. Pfabigan: Die Andere Bibel

Eichborn 1990, AB 68, 388 S.

Alfred Pfabigan, 1947 in Wien geboren, arbeitet am Philosophischen Institut der dortigen Universität. Die Andere Bibel schöpft aus dem riesigen Fundus der sogenannten »Apokryphen«, jener altjüdischen, koptischen und aramäischen Quellen, die bei der jahrhundertelangen Redaktion dessen, was als »Bibel« auf uns gekommen ist, unter den Tisch fielen, deren Einfluß zu ihrer Zeit aber oft sehr groß war. In ihrem Aufbau und in ihrem Tonfall folgt die Andere Bibel dem Buch der Bücher. Sie besteht aus einem Alten und einem Neuen Testament, beginnt mit fünf Büchern zur Schöpfungs- und Urgeschichte, bietet fremdartige Evangelien und Apostelgeschichten und endet mit einer Apokalypse. Wie ihr Vorbild steckt sie voller Überraschungen und Widersprüche, voller spannender, rätselhafter, auch amüsanter Geschichten. Ein anderes Christentum hat sie nicht vorzuschlagen, aber einen weniger ängstlichen Umgang mit unserer Tradition.


Nancy Mitford: Liebe unter kaltem Himmel

Eichborn 1990, AB 69, 399 S.

Der dokumentarische Wert dieser ebenso kühlen wie komischen, ebenso melancholischen wie snobistischen Liebesgeschichten ist ziemlich gering. Sie spielen in einem England, das es nicht mehr gibt und von dem man bezweifeln kann, daß es je existiert hat. Die leicht verschrobene Welt jener upper crust, von der Evelyn Waughs Romane und zahllose Filme zehren, gehört wohl eher der Legende an. Aber niemand hat den Ton, die Atmosphäre, den Charme dieser Welt, kurz vor dem Untergang des Empire, genauer getroffen als Nancy Mitford. Das leicht verklärte Bild, das sie von den Lordschaften entwirft, ist immer wieder durch Ironie, Witz und Bosheit gebrochen. Das macht ihre Qualität aus und macht es möglich, daß wir uns ohne Gewissensbisse an ihnen weiden.


Krista Federspiel, Hans Weiss: Arbeit

Eichborn 1990, AB 70, 323 S.

Fünfzig Deutsche aus Ost und West geben in diesem Buch Auskunft über ihr Leben, und das heißt vor allem: über ihre Arbeit. Ein Bäcker aus Ravensburg, ein Kombinatsdirektor aus Halle, eine Telefon-Hosteß aus Berlin, ein Arbeitsloser aus Köln, eine Hebamme aus München - Junge und Alte, Reiche und Arme, Sebstständige und Abhängige, Prominente und Unbekannte erzählen, was sie tun, warum sie es tun, wie sie damit zurechtkommen, und es ist eine der Überraschungen dieser Enquete, daß die meisten mit ihrer Arbeit zufrieden sind.

Krista Federspiel und Hans Weiss waren zwei Jahre lang unterwegs vom Hunsrück bis in die Wettiner Lande. Sie haben viel Merkwürdiges erfahren, weil sie das Vertrauen ihrer Gewährsleute zu gewinnen wußten und weil sie auf dem langen Weg von der Tonbandabschrift bis zum gedruckten Wort keine Mühe gescheut haben.


Ryszard Kapuscinski: Der Fußballkrieg

Eichborn 1990, AB 71, 339 S.

Ryszard Kapuściński hat ein Dutzend Aufstände, Bürgerkriege und Revolutionen miterlebt. Er ist nicht bloß Korrespondent, er ist ein Autor vom Schlage Joseph Conrads und Bruce Chatwins. Die Reportage wird in seiner Hand zur Parabel, zur Erzählung, zum Balanceakt und literarischer Imagination.

»Ich stamme aus einem verlorenen Nest in Weißrußland«, sagt Kapuściński, »in Paris und London fühle ich mich unbehaglich. Die Dritte Welt, das bin ich selber. Davon lebt meine Arbeit. Ich verstehe, was in San Salvador, im Iran oder in Äthiopien passiert, weil ich ein Pole bin.«


Die Amouren des Marschalls von Richelieu

Eichborn 1990, AB 72, 357 S.

Mit Proben aus der Geheimen Lebensgeschichte, Rezensionen von Nicolas Chamfort und Choderlos de Laclos und einem Essay von Bernedetta Craveri.

Der Marschall von Richelieu (1696-1788) war eine ebenso imponierende wie abstoßende Figur: ein faszinierender Repräsentant des Ancien régime. Den ersten von vielen Skandalen erregte er, als er sich, kaum fünfzehn Jahre alt, mit der Tochter des Königs vergnügte. Er war Feldherr, Diplomat und Theaterdirektor, aber seine eigentliche Karriere war die eines Verführers.

Frauen aus allen Ständen waren seine Beute, von den höchsten Rängen der Aristokratie bis zu den Grisetten aus der Vorstadt. Doch unterwarf er seine Leidenschaften stets einem strikten Kalkül. Man nennte ihn eine »galante Maschine«. Seine Strategien waren von unerhörter Kaltblütigkeit. Dreimal mußte er in der Bastille für seine Abenteuer büßen. Die Laufbahn als Libertin setzte er bis ins hohe Alter von zweiundneunzig Jahren fort.


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© Ralf 2006