AB - Die Andere Bibliothek 1991


Maurice Joly: Ein Streit in der Hölle
Judith Macheiner: Das grammatische Varieté
R. W. B. McCormack: Tief in Bayern
Volker Erbes: Die Spur des Schwimmers
Karl Schlögel: Das Wunder von Nishnij
Gabriele Goettle: Deutsche Sitten
Tudor Arghezi: Der Friedhof
Harald Hartung: Luftfracht. Internationale Poesie
Luis Martin-Santos: Schweigen über Madrid
Robert Kurz: Der Kollaps der Modernisierung
Emmanuel Berl: Geisterbeschwörung
Gustav von Schlabrendorf: Anti-Napoleon


Maurice Joly: Ein Streit in der Hölle.

Gespräche zwischen Machiavelli und Montesquieu über Macht und Recht

Eichborn 1991, AB 73, 383 S.

Natürlich ist es nicht die christliche Hölle, in der die beiden großen politischen Denker ihren Streit austragen; es ist der antikische Hades, jene Unterwelt, in der sich schon seit Lukian die Geister der Verstorbenen begegnen.

Maurice Joly ist ein auteur maudit. Sein buch erschien 1864 in Brüssel (der Druckvermerk »Genf« war nur ein Tarnmanöver zur Täuschung der Zensur) und wurde sofort beschlagnahmt, denn der Text war ein direkter Angriff auf das autoritäre Regime Napoleons III. Im Streitgespräch beweist Machiavelli seinem Gegner Montesquieu, wie man mit einem Minimum von Gewaltanwendung eine Demokratie von innen heraus zerstören kann, indem man die öffentliche Meinung korrumpiert, den Rechtsstaat zur Fassade macht, den Notstand zum Dauerzustand erklärt und auf kaltem Weg einen Polizeistaat etabliert. Dieses prophetische und immer aktuell bleibende Buch ist ein seltener Glücksfall von literarischer Kraft und politischer Analyse, Faszination und Aufklärung.


Judith Macheiner: Das grammatische Varieté oder

Die Kunst und das Vergnügen, deutsche Sätze zu bilden

Eichborn 1991, AB 74, 407 S.


R. W. B. McCormack: Tief in Bayern

Eichborn 1991, AB 75, 293 S.

Einer gehässigen Definition zufolge ist ein Bayer ein Mensch, der innere Befriedigung dabei empfindet, wenn er Fremden den falschen Weg zum Hofbräuhaus zeigt. Die Methoden der modernen Kulturanthropologie erlauben es dem Amerikaner McCormack, sich den Eingeborenen differenzierter zu nähern. Er beschreibt ihr Dasein in seiner ganzen Vielfalt: das politische System ebenso wie das Paarungsverhalten, die Eßkultur, die vielfältigen Alltagsrituale und das Verhältnis zu den Nachbarstämmen. Seine Kenntnis des Brauchtums ist umfassend, und wenn ein Hauch von Exotik durch die Seiten seines Buches weht, so ist das nicht seine Schuld. Auch täuscht der Eindruck, der sich gelegentlich einstellt, daß er satirische Absichten verfolgt: McCormack hält sich vielmehr an die Tatsachen. An ihnen erweist sich, daß die Bayern ein Volk sind, welches sich dem High-Tech-Denken früh geöffnet hat und doch auf seine Weise Naturvolk geblieben ist.


Volker Erbes: Die Spur des Schwimmers

Eichborn, 1991, AB 76, 327 S.

Ein langer Sommer in Frankfurt am Main, Ender der achtziger Jahre. Ein Phasenübergang steht bevor, der Abschied von einer Idylle. Die Geschichte des Mathematikers Felix Lothringer wird souverän, mit scheinbar leichter Hand erzählt; er ist den Geheimnissen des Chaos auf der Spur, Hedonist aus Berechnung und Forscher aus Begierde. Doch nicht nur die Physik, auch Lothringers privater Phasenraum zeigt die Spur des Irregulären. Volker Erbes hat es nicht auf plumpe Analogien abgesehen. Gleichwohl hat das Beben, das sich in den Naturwissenschaften abzeichnet, mehr mit den Rissen in unserer Lebenswelt zu tun, als wir uns träumen lassen. Der Autor hat den Übergang zum Chaos ins Zentrum seines Romans gerückt, weil es vielleicht, wie er selbst sagt, »dort, wo der leichte Schwindel regiert, am schönsten ist.«


Karl Schlögel: Das Wunder von Nishnij oder Die Rückkehr der Städte

Eichborn 1991, AB 77, 401 S.

Lange genug hat der saturierte Westen dem östlichen Europa den Rücken zugekehrt. Einen genaueren, profunderen Kenner dieser Region als Karl Schlögel haben wir in der Bundesrepublik nicht. Seit zehn Jahren erkundet er die Welt, die versunken war und die für immer preisgegeben schien. Seine Reisen führten ihn nach Wilna und Lemberg, Moskau und Czernowitz, Kasan und Nishnij Nowgorod. Ein erstes Resultat: Unter der Eisdecke eines Regimes, das jeder urbanen Zivilisation ein Ende machen wollte, hat die historische Substanz der Städte überlebt.

Schlögels wahres Thema ist jedoch nicht die Topographie, sonder die Zeit - erst die blockierte, stillgestellte, dann die sich rasend beschleunigende Zeit. Die glaubwürdigsten Indikatoren dieser reißenden Entwicklung sind nicht Proklamationen und Beschlüsse, sondern Schwarzmärkte, Verkehrsströme, Baustellen, Demonstrationen. Die Sensation besteht in der mühevollen Rückkehr zur Normalität, einem Prozeß, der unerhörte Gefahren und Möglichkeiten birgt.

Am Ende des Ausnahmezustandes erscheint alles exotisch. Wir werden uns daran zu gewöhnen haben. Wo ein Block, ein Lager, ein geschlossener Raum war, liegt das andere Europa vor unseren Augen, ein weitgestreuter unbekannter Archipel. Karl Schlögels Expeditionen spüren den Risiken und den Wundern nach, die dort ans Licht treten.

Karl Schlögel, 1948 im Allgäu geboren, lebt in Berlin und Konstanz, wo er eine Professur angenommen hat. Zuletzt veröffentlichte er in der ANDEREN BIBLIOTHEK Wegzeichen, einen Essayband aus dem Jahre 1909 über die Krise der russischen Intelligenz. Weitere Publikationen: Moskau lesen. Berlin 1984; Die Mitte liegt ostwärts. Berlin 1986; Das Laboratorium der Moderne. Petersburg 1909-1921. Berlin 1988.


Gabriele Goettle: Deutsche Sitten

Eichborn 1991, AB 78, 385 S.

Gabriele Goettles literarisch ambitionierte Sozialreportagen entlarven auf unspektakuläre, dabei oft atemberaubende Weise eine ganze Reihe deutscher Unsitten. Es stellt sich heraus, daß das Gewöhnliche oft genug auch das Monströse ist. Weil sie nicht kommentiert, gelingen ihr definitive Aussagen über den Mief deutschen Wesens und die Kälte modernen Lebens. Die Nachlaßinventarliste eines verstorbenen Lehrers reicht aus, um deutsche Spießergesinnung ganz im Sinne Tucholskys sozusagen flächendeckend auszubreiten. Am Standardtod im Altenheim erfährt der Leser den wahren Verkehrswert der vielbeschworenen Individualität. Es ist die Wahl der Perspektive und die scheinbare Abwesenheit von Kunst, was die Texte von Gabriele Goettle so außergewöhnlich und so kunstvoll macht.


Tudor Arghezi: Der Friedhof

1991, AB 79, 405 S.

»Es hatte sich ergeben, daß der scheußlichste Mann der Epoche gleichzeitig der Inhaber der umfassendsten Vollmachten zum Herauspressen von Millionen des Staatsetats war. Selten ist eine so erschreckend vom menschlichen Urbild abweichende Gestalt zutage getreten.« Nicht von Ceaucescu ist hier die Rede, denn Arghezis phantastischer Roman stammt aus dem Jahre 1936. Doch die paranoische Welt, die er entwirft, ist fünfzig Jahre später Wirklichkeit geworden.

Was als Satire beginnt, entwickelt sich zum Totentanz, zur Höllenvision, zur metaphysischen Revolte. Ein so maßloses Projekt verlangt dem Autor ganz ungewöhnliche Mittel ab. So ist Arghezi zum Entdecker geworden. Unter seinen Händen hat sich das Rumänische in einen Dialekt der modernen Weltliteratur verwandelt, der dem Irischen eines James Joyce oder dem Deutschen eines Alfred Döblin an Kühnheit kaum nachsteht.


Harald Hartung: Luftfracht.

Internationale Poesie 1940 bis 1990

Eichborn 1991, AB 80, 453 S.

Luftfracht befördert internationale Poesie der letzten fünfzig Jahre - Gedichte der wichtigsten Lyriker samt ihren Begleitpapieren, das heißt samt Paratexten, Kontrafakturen, Kommentaren, Biographien. Ihr Bestimmungsort ist Deutschland, genauer: die deutsche Sprache. Die Gedichte in ihren deutschen Versionen sind mehr als bloße Inhaltsparaphrasen, sie sollten als Lyrik standhalten.

Luftfracht enthält, nach Jahrzehnten gegliedert, fünf Magazine. Im Mit- und Gegeneinander bewahren die Gedichte den Geist der Epoche, ohne an Genießbarkeit und Lebendigkeit einzubüßen.

In den Magazinen von Luftfracht stehen Gedichte aus verschiedenen Weltgegenden, Ländern und Sprachen nebeneinander. Es geht dabei nicht um eine Aneinanderreihung von nationalen Anthologien, um eine lyrische Olympiade. Das einzelne Gedicht, der einzelne Autor beanspruchen Aufmerksamkeit - nicht seine Nationalität.

Die Begleitpapiere von Luftfracht sollen anregen, Zusammenhängen nachzugehen. Sie geben Nachricht über die poetologischen Ansichten der Autoren und über Entstehungszusammenhänge von Gedichten. Kurzporträts der Autoren und ausführliche bibliographische Nachweise möchten den Leser zu weiterer Lektüre animieren.

Harald Hartung, geboren 1931 in Herne/Westfalen, lebt in Berlin. Er hat fünf Gedichtbände veröffentlicht, zuletzt Traum im Deutschen Museum. Gedichte 1965-1985. München: Piper 1986; ferner: Experimentelle Literatur und konkrete Poesie. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1975 und deutsche Lyrik seit 1965. Tendenzen, Porträts, Beispiele. München: Piper 1987.


Luis Martin-Santos: Schweigen über Madrid

Eichborn 1991, AB 81, 348 S.

In Spanien weiß man es, in Deutschland nicht: mit Martín-Santos hat sich die spanische Prosa aus dem Staub des Bürgerkrieges und aus der literarischen Einöde der Franco-Zeit erhoben. Der Roman Schweigen über Madrid, eines der einflußreichsten Bücher der Epoche, hat unlängst seine 35. Auflage erlebt. Dieser Ruhm kommt nicht von ungefähr.

Ein junger Biologe begibt sich auf eine absurde Odyssee, die ihn durch die Salons und die Bordelle, die philosophischen Zirkel und die wüsten Slums einer erstickten Metropole führt. Das Labor braucht Mäuse. Es geht um Krebsgene und Viren. Aber es sind nicht die Mäuse, es ist der Forscher, der sich auf der Suche nach ihnen in einem Labyrinth verirrt, aus dem es kein Entkommen gibt.

Das Madrid der fünfziger Jahre erscheint hier selber als ein infernalisches Laboratorium, eine geschlossene Anstalt. Seinen deformierten Insassen ist mit dem hergebrachten sozialkritischen Realismus nicht mehr beizukommen. Daher die Verwegenheit, mit der Martín-Santos vorgeht. Seine Bilderwelt läßt an Goyas Desastres denken; sprachlich greift er auf verschüttete Möglichkeiten der spanischen Prosa, auf Delicado und Quevedo zurück. Doch zugleich wirkt seine Thematik bedrückend aktuell und sein Tonfall, nach 30 Jahren, atemberaubend.

Luis Martín-Santos, geboren 1924 in Marokko, ist 1964, kaum 40jährig, durch einen Unfall ums Leben gekommen. Nach einem Medizinstudium in Salamanca, Madrid und Heidelberg arbeitete er als Psychiater in San Sebastián. Zu seinen Lebzeiten hat er, abgesehen von wissenschaftlichen Arbeiten, nur Tiempo de Silencio, seinen einzigen Roman, publiziert.


Robert Kurz: Der Kollaps der Modernisierung.

Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie

Eichborn 1991, AB 82, 289 S.

»Soviel Ende war nie.« Mit diesem Satz beginnt eine furiose Analyse der Weltökonomie am Ende des 20. Jahrhunderts. Und was niemand mehr für möglich gehalten hätte: die theoretische Keimzelle, aus der Robert Kurz seine Auseinandersetzung entwickelt, ist die politische Ökonomie eines gewissen Karl Marx, geboren 1818 in Trier und zum wiederholten Mal beerdigt in den Jahren 1989/91.

Es ist verblüffend zu sehen, welche analytische Kraft nach wie vor in diesem Konzept steckt, wenn ein überlegener Kopf damit arbeitet - was allerdings in den letzten Jahrzehnten kaum vorgekommen ist. Kurz jedenfalls wendet es nicht nur auf den Kapitalismus an, sondern mit derselben Entschiedenheit auf die Regimes der Zweiten und Dritten Welt. Und siehe da - nicht nur auf das Ende des »real existierenden Sozialismus« fällt plötzlich ein neues Licht, sondern auch auf seine Zerfallsprodukte.

Was Robert Kurz vorbringt, ist von größter Aktualität - ob es um den Aufstieg Japans und die Wiedervereinigung Deutschlands geht oder um Schuldenkrisen und Börsenkräche. Doch seine Tiefenschärfe gewinnt das Buch daraus, daß es den Prozeß der Modernisierung insgesamt ins Auge faßt. In dieser Sicht erscheint die Arbeiterbewegung als Fossil und der Triumph der Marktwirtschaft als Illusion.

Robert Kurz, geboren 1943, lebt in Nürnberg. Er gibt, zusammen mit drei Mitarbeitern, die Erlanger Zeitschrift Krisis heraus. Im Frühjahr 1991 erschien seine Streitschrift Honeckers Rache. Zur politischen Ökonomie des wiedervereinigten Deutschland.


Emmanuel Berl: Geisterbeschwörung

Eichborn 1991, AB 83, 341 S.

Am Vorabend einer schweren Operation denkt ein Sechzigjähriger an die Toten, die er gekannt hat: verlorene Freunde, halbvergessene Begegnungen, Gespenster aus einer anderen Zeit. Manche sind erstarrt wie Marmorfiguren auf einem Sarkophag, andere unter Erinnerungen begraben. Es sind Berühmte unter ihnen wie Marcel Proust und Colette und Unbekannte wie Mademoiselle Juliette, die bucklige Gärtnerin mit der allzu hohen Stirn... Wie kann man seinen Frieden mit den Toten machen, ohne ihre Ruhe zu stören?

Im zweiten Teil des Buches setzt Emmanuel Berl seine Geisterbeschwörung fort. Acht Frauen, denen er begegnet ist, tauchen darin auf, erst schattenhaft wie auf einem Polaroid, dann immer deutlicher. Er nennt sie seine Grazien oder seine Gnaden - im Französischen sind diese Worte einsbedeutend. Mary, die englische Dichterin, eine viktorianische Fee; Thamar, die stolze russische Emigrantin, die sich prostituiert; Julia, die tugendhafte Revolutionärin; die wollüstige und großerzige Rachel, eine Zufallsbekanntschaft im Schnellzug vor einem halben Jahrhundert - alle diese Verschollenen kehren wieder, oder suchen sie den Autor heim?

Diese Texte halten zwischen Erzählung und Autobiographie die Schwebe und verbinden die Präzision von Momentaufnahmen mit der schillernden Mehrdeutigkeit des Traums.

Emmanuel Berl, 1892 in Paris geboren, starb ebendort im Jahre 1976. Sein umfangreiches Werk ist in Deutschland völlig unbekannt geblieben. In Frankreich gilt er heute als ein grand écrivain seiner Epoche.


Gustav von Schlabrendorf: Anti-Napoleon.

Eichborn 1991, AB 84, 317 S.

»Diese Schrift«, schrieb ein berühmter Rezensent, »wird viele Leser finden, die sie auch verdient.« Goethe, denn er war es, hat Unrecht behalten. »Das berühmte Buch Napoleon Bonaparte und das französische Volk unter seinem Copnsulate, welches zu seiner Zeit am trüben politischen Himmel wie ein Lichtmeteor erschien«, ist seitdem nie wieder gedruckt worden.

Schon die erste Ausgabe hatte ein merkwürdiges Schicksal. Sie erschien anonym und trug den Vermerk: Germanien, im Jahr 1804. Der Verleger Campe mußte vor der Zensur auf der Hut sein.

Schlabrendrofs Abrechnung mit Napoleon war einzigartig, denn sie ist gänzlich frei von chauvinistischen und reaktionären Zügen. Sie kann als das früheste Beispiel einer radikalen demokratischen Kritik an Diktatur und Personenkult, Zentralismus und totaler Herrschaft gelten. Eine weitere Zuspitzung erfuhr die Argumentation des »Diogenes von Paris« in dem Pamphlet Sendschreiben an Bonaparte, dessen Abdruck einer neuentdeckung gleichkommt.

Gustav von Schlabrendorf, 1750 in Stettin geboren, emigrierte 1783 nach England, ging 1789 nach Paris und wurde Augenzeuge der Französischen Revolution. Er war, wie Varnhagen sagt, »mit einer unglaublichen Geschichts- und Weltkenntnis ausgerüstet« und »sprach schafsinnig, ja prophetisch über die politischen Gegenstände«. Der Guillotine ist er nur um Haaresbreite entkommen. Er starb verarmt und halb vergessen 1824 in Batignole.


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© Ralf 2006