AB - Andere Bibliothek 1992


Mathias Greffrath: Montaigne
Charles Mackay: Zeichen und Wunder
Ian Buruma: Der Staub Gottes
A. J. Dunning: Extreme
Johan Turi: Erzählung vom Leben der Lappen
Kobo Abe: Der Schachtelmann
John Gregory Bourke: Das Buch des Unrats
Uwe Wesel: Fast alles was Recht ist
W. G. Sebald: Die Ausgewanderten
Elisabeth Ambras: Fernsteuerung
Claudia Schittek: Der Irrgarten
Ferdinando Galiani und Louise d'Épinay: Helle Briefe


Mathias Greffrath: Montaigne. Ein Panorama

Eichborn 1992, AB 85, 375 S.

Ohne Montaigne geht es nicht. Er spricht, als wäre er der erste, der über die Welt, die er vorfindet, nachdenkt. Er kannte die Autoritäten, doch er hielt sich nicht an sie. Eine sanfte Unbeirrbarkeit zeichnet diesen Schriftsteller aus, ein wohltuender Eigensinn. Seine Freiheit ist keine metaphysische Größe, sondern ein Gut, das er sich durch seinen Mut und seine Beharrlichkeit selbst erworben hat.

An Übersetzungen seiner Essais fehlt es nicht, wenngleich eine über allen Tadel erhabene Gesamtausgabe bis heute nicht existiert. Mathias Greffrath will sie nicht ersetzen, aber er begnügt sich auch nicht mit einer Auswahl der »schönsten Stellen« aus dem riesigen Bestand des Werkes. Unbefangen nimmt er, was ihm brauchbar scheint für unseren eigenen Umgang mit der Welt und mit uns selber. So macht erGebrauch von eben jener Freiheit, die Montaigne für sich in Anspruch nahm. Seine Übersetzung ist frei vom Staub des Historismus.

Acht Glossen sprenkeln diesen Text. Der Herausgeber erlaubt sich also, dort weiterzudenken, wo Montaigne einenPunkt setzte. So macht er ihn zu unserem Zeitgenossen und das Buch zu einem Vademecum - einem Begleiter, den man in die Tasche stecken kann.

Mathias Greffrath, Essayist, Reporter und Redakteur, lebt in Berlin. Michel Montaigne ist 1533 geboren. Die erste Ausgabe seiner Essais erschien im Jahre 1589. Er starb am 13.September 1592, also vor vierhundert Jahren, auf seinem Schloßim Bordelais.


Charles Mackay: Zeichen und Wunder. Aus den Annalen des Wahns

Eichborn 1992, AB 86, 375 S.

In der Geschichte des Aberglaubens, bei der Ausbreitung von Sekten, im Mechanismus der Spekulation und beim Aufstieg von politischen Heilslehren - überall scheint das folgende Gesetz zu gelten: je unwahrscheinlicher ein Versprechen. desto leichter wird ihm Glauben geschenkt; je absurder eine Behauptung. desto mehr Anhänger wird sie finden.

Einer der ersten, denen das auffiel, war der viktorianische Aufklärer Charles Mackay. Er nahm sich vor, die epidemische Ausbreitung von Wahnvorstellungen zu untersuchen und ging daran, eine Reihe von Fallgeschichten zu recherchieren. So die holländische Tulpen-Manie des siebzehnten Jahrhunderts, die am Anfang der europäischen Börsengeschichte stand, und das verheerende Währungsexperiment des genialen Reformers und Hochstaplers John Law, der das Paris Ludwig XIV. in einen phantastischen Taumel versetzte. Aber auch von Wahrsagern, Alchemisten und Magnetiseuren weiß Mackay zu berichten.

Sein amüsantes und kenntnisreiches Buch rollt nicht nur einige verdrängte Kapitel aus der europäischen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte auf. Es hat auch einer Gegenwart manches zu bieten, die - wie sich am Spekulationsfieber der achziger Jahre und an der Blüte esoterischer Wunderheiler zeigte - nichts dazugelernt hat.

Charles Mackay, dessen übrige Werke heute vergessen sind, kam 1814 in Perth zur Welt, gab verschiedene Zeitschriften heraus und berichtete für die Times über den amerikanischen Bürgerkrieg. Er starb 1889 in London.


Ian Buruma: Der Staub Gottes. Asiatische Nachforschungen

Eichborn 1992, AB 87, 351 S.

Kaum jemand versteht, was in Asien geschieht. Das liegt nicht an den berüchtigten »Geheimnissen des Orients«, sondern an den perspektivischen Täuschungen des Westens.

Ian Buruma, in Holland geboren, hat ein Drittel seines Lebens in Asien zugebracht, vor allem in Japan und Hongkong. Was ihn befähigt, das Andere des Erdteils zu begreifen, ist nicht allein seine Expertise. Es ist vor allem die Erfahrung am eigenen Leib. Was bedeutet es, hin- und hergerissen zu sein zwischen verschiedenen Kulturen, Selbstverständnissen, Traditionen, Loyalitäten? Hellsichtig deutet Buruma diese ebenso gefährliche wie faszinierende Konfusion, die viele asiatische Nationen antreibt und verstört.

Der Staub Gottes ist zugleich Reportage, Meditation und Reiseerzählung. Schonungslos, souverän und sonderbar heiter handelt das Buch in acht Kapiteln von Burma, Thailand, den Philippinen, Malaysien, Singapur, Taiwan, Südkorea und Japan. Stilistisch und methodisch kann Ian Burumas Werk als Seitenstück zu Ach Europa! gelten. Wer sich für den Fernen Osten interessiert, für den dürfte es kaum entbehrlich sein.

Ian Buruma hat jahrelang für die Far Eastern Review, die New York Times und die New York Review of Books gearbeitet. Er lebt heute als Redakteur der Wochenzeitung The Spectator in London; er ist der Autor von Behind the Mask, einer Untersuchung über sexuelle Dämonen, heilige Mütter, Transvestiten, Gangster, Vagabunden und andere Heldenfiguren der japanischen Kultur. Sein erster Roman soll demnächst in deutscher Übersetzung erscheinen.


A. J. Dunning: Extreme. Betrachtungen zum menschlichen Verhalten

Eichborn 1992, AB 88, 333 S.

Die Geschichten, die dieses Buch erzählt, sind nicht neu. Gilles de Rais und die Jungfrau von Orléans, Marat und Charlotte Corday, Verlaine und Rimbaud - das sind legendäre Figuren, die jedermann zu kennen glaubt. Dagegen wissen die wenigsten unter uns, wie Schiffsjungen schmecken. wieviel die Kunst der Oper dem Messer des Chirurgen verdankt, was sich Gustav Mahler und Sigmund Freud zu sagen hatten, bei ihrer einzigen Begegnung, einem Strandspaziergang in Nordwijk aan Zee.

Was hat der Mythos von der unbefleckten Empfängnis mit der Fortpflanzung der Domschwanz-Eidechse zu tun? Wirft der Fastentod der Heiligen Katharina von Siena Licht auf die Anexorie, eine Wohlstandskrankheit, die immer mehr junge Frauen heimsucht? Und wie hängt der Herz-Jesu-Kult mit den Transplantationsmethoden der modernen Chirurgie zusammen?

Was die Erzählungen Dunnings einzigartig macht, ist ihre Perspektive. Biologie und Religion, Medizin und Mariologie, Kriegsgeschichte und Psychoanalyse zieht er mit gleicher Selbstverständlichkeit heran, um extremes menschliches Verhalten zu deuten. Was uns, im Guten und im Bösen,von anderen Tieren unterscheidet, zeigt sich im Extremfall. der unheimlich und rätselhaft, bisweilen auch von makabrer Komik ist: an Verbrechen, Rauschzuständen, Grausamkeiten. Immer wieder tritt dabei das Opfer als zentrale Kategorie hervor. Wissenschaft und Quellenkunde können es beleuchten, aber nicht erklären.

A. J. Dunning ist Kardiologe am Akademisch Ziekenhuis in Amsterdam. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht. Einees davon, Bruder Esel oder die sterbliche Hülle, ist 1989 auch auf deutsch erschienen.


Johan Turi: Erzählung vom Leben der Lappen

Eichborn 1992, AB 89, 280 S.

Johan Turi ist 1854 geboren, zu einer Zeit, da die Verfolgung und Vertreibung seines Volkes aus den angestammten Jagd- und Weidegründen im hohen Norden Finnlands und Norwegens ihren Anfang nahm. Sein einziges - und einzigartiges - Buch hat er jahrzehntelang im Sinn gehabt, ehe es niedergeschrieben wurde. Es ist zum Gedächtnis des ganzen Volkes geworden.

Turi hat keine Autobiographie geschrieben, sondern eine Welt dargestellt, die Welt der Jäger und Nomaden: ihre Überlebenstechniken, ihre Medizin, ihr Naturverständnis, ihren Glauben, ihre Geschichte, ihre Literatur, und das heißt, ihre Sagen, Gebete und Lieder. Was heißt es, und wie geht es zu, wenn eine ganze Gesellschaft auf die Symbiose mit einem Tier, dem Ren, angewiesen ist? Wie schützt man die kleinen Kinder vor Kälte? Wie erwehrt man sich der Beamten, die ein fremder König sendet? Wie jagt man Wölfe?

Turi legt Zeugnis ab von einer archaischen Lebensform und von ihrer Bedrohung durch die moderne Zivilisation. Er will sie den skandinavischen Nachbarn erklären, die die Lappen wie »streunende Hunde« behandeln, und dabei wird er, ohne es zu wollen, zum Dichter. Eine eigentümlich klare, nüchterne Poesie durchdringt seine Erzählung: »In den alten Zeiten«, sagt er, »redeten alle Dinge, alle die Tiere, die Bäume und die Steine, und so werden sie wieder zu reden anfangen am Tag des Jüngsten Gerichts.«

Johan Turi war schon über fünfzig Jahre alt, als er eine dänische Künstlerin traf, die nach Lappland gezogen war; sie hat ihn zur Niederschrift seines Buches ermutigt, sie hat es übersetzt und kommentiert und dafür gesorgt, daß es 1910 in einer zweisprachigen Ausgabe in Stockholm gedruckt wurde. Heute gilt es als Klassiker eines Volkes, das sich heute seinen alten Namen zurückerobert hat: der Samen.


Kobo Abe: Der Schachtelmann

Eichborn 1992, AB 90, 239 S.

»Wahnsinn im Pappkarton.«

Ein Schachtelmann zu werden ist gar nicht so schwer. Sie brauchen nur alles, was Sie haben, wegzuschmeißen, Beruf, Familie, Kreditkarte, alles was Sie haben, und eine Schachtel zu finden. Zum Beispiel eine von diesen Pappschachteln, in denen Kühlschränke ausgeliefert werden. Sie reißen den Boden heraus, schneiden ein Guckloch in die Wand und ziehen ein.

Totale Entfremdung, totale Freiheit, totaler Ausstieg aus der Gesellschaft. Sie sind fortan »eine Beleidigung für die Welt«. Aber Sie sind nicht der einzige! Andere, in anderen Schachteln, humpeln durch das Labyrinth der riesigen Stadt. Sie werden verfolgt, mit einem Luftgewehr beschossen; die Krankenschwester will Ihnen Ihre Schachtel abkaufen; Sie weigern sich; die Schwester führt Ihnen einen Striptease vor; Ihr Arzt wird von einem Doppelgänger ermordet; der Mörder schläft mit der Krankenschwester; auch er haust in einer Schachtel, und er wird Ihnen immer ähnlicher...

Kobo Abes Roman handelt von der Normalität des Wahns. Was der Schachtelmann durch sein Guckloch hindurch beobachtet, gleicht der Halluzination. Doch in Tagebuchnotizen und Träumen, Zeitungsmeldungen und Vernehmungsprotokollen, Fotos und Dialogen, zwischen Filmriß und Filmriß blitzt immer wieder auf, was einem bekannt vorkommt: die alltägliche Obdachlosigkeit, die vergebliche Flucht des einzelnen vor sich und vor den anderen.

Kobo Abe, 1924 in Tokio geboren, hat Medizin studiert, aber nie als Arzt gearbeitet. Seine brillante, hypnotische Prosa hat etwas Klinisches behalten. Die extreme Erzähltechnik, die seine Bücher auszeichnet, machte ihn unpopulär und weltberühmt. Die Frau in den Dünen (1962), von Teshiwara Hiroshi verfilmt, und Das Gesicht des Anderen (1966) sind auf deutsch lieferbar (Eichborn, Frankfurt am Main). Weitere Publikationen: Das Schild am Ende der Straße (1948); Das Verbrechen des Herrn S. Karuma (1951); Die zerstörte Landkarte (1969); Die vierte Zwischeneiszeit (1970); Heimliche Begegnungen (1977).


John Gregory Bourke: Das Buch des Unrats

Eichborn 1992, AB 91, 363 S.

Der Unrat in Sitte, Brauch, Glauben und Gewohnheitsrecht der Völker - unter diesem Titel erschien 1913 im Ethnologischen Verlag zu Leipzig die deutsche Fassung einer monumentalen Forschungsarbeit. »Das Meiste und Beste«, schrieb Freud damals, »was wir über die Rolle der Ausscheidungen im Leben der Menschen wissen, ist in dem Buche zusammengetragen. Es ist daher nicht nur ein mutiges, sondern auch ein verdienstvolles Unternehmen, dieses Werk den deutschen Lesern zugänglich zu machen.«

Davon konnte allerdings kaum die Rede sein. »Privatdruck«, lesen wir im Impressum. »Nur für Gelehrte, nicht für den Buchhandel bestimmt. Wer dieses Buch öffentlich ausstellt oder verleiht, setzt sich der Gefahr einer Verfolgung aus.« So streng waren damals die Sitten. Heute, spätestens seit Dominique Laportes Geschichte der Scheiße (1981, deutsch 1991), sehen wir das anders. Schließlich handelt es sich um ein anthropologisches Faktum ersten Ranges.

John Gregory Bourke (1843-1896) war ein amerikanischer Kavallerie-Offizier, der im Kampf gegen die Indianer einen Kulturschock erfuhr. Bei einem rituellen Reinigungstanz in New Mexico sah er, wie die Medizinmänner der Nehue-Cue Urin tranken und in Ekstase verfielen. Von diesem Trauma hat er sich nie wieder erholt. Er verbrachte ein Jahrzehnt damit, die skatologischen Riten und Bräuche aller Völker der Erde zu erforschen. Er wurde auf verblüffende und unerhörte Weise fündig.

Aus seinem riesigen Standardwerk präsentiert der amerikanische Wissenschaftler Louis Kaplan eine Auswahl, die alle Stämme mit ihren seltsamen Sitten alphabetisch vorführt von A wie Albanien bis V wie Vatikan. Er erschließt ein Dunkelfeld zwischen Anthropologie, Folklore, Sexualforschung und Psychoanalyse. Sachregister und Literaturverzeichnis sorgen dafür, daß der Gebrauchswert nicht zu kurz kommt. Kaplans abschließender Essay geht den Spuren Bourkes nach und ist selbst Muster fröhlicher Wissenschaft.


Uwe Wesel: Fast alles was Recht ist. Jura für Nicht-Juristen

Eichborn 1992, AB 92, 431 S.

Tatsache ist, daß wir, will sagen die meisten, keine Ahnung davon haben. Abgesehen von den Prozeßberichten aus der Zeitung begegnet uns das Rechtssystern nur als vage Drohung: wenn wir eine gerichtliche Vorladung im Briefkasten finden oder einen jener entsetzlichen Anwaltsbriefe, die uns dazu nötigen, unsererseits einen Anwalt zu beschäftigen. Keine Schule dieser Republik hat uns darüber aufgeklärt, was die Juristen eigentlich treiben und was es mit ihren dunklen Begriffen auf sich hat.

Folgerichtig beginnt Uwe Wesels grundlegendes und grundgescheites B uch mit einem Kapitel über die Sprache der Juristen. Dann führt er, und zwar auf die eleganteste, um nicht zu sagen witzigste Weise, die wichtigsten Rechtsgebiete vor, also das Staatsrecht, das Straf- und Privat-, das Arbeits- und Verwaltungsrecht, in exemplarischen Abschnitten, die die Grundbegriffe erklären - nicht die tausend Einzelheiten, sondern jeweils eine Handvoll; er zeigt, was dahinter steht, den springenden Punkt. Rechtsfälle und Urteile machen klar, was der langen Rede kurzer Sinn ist; denn mit ihren Entscheidungen beeinflussen unsere obersten Bundesgerichte das Recht oft stärker als die Gesetze des Bundestages. Am Schluß folgt noch ein Überblick über das, was es sonst noch gibt im Recht, und ein Kapitel über die Theorie und die Methode der Juristen.

Uwe Wesel beschreibt nicht nur, was der Fall ist; er setzt das System, das er beschreibt, der Kritik aus; er denkt darüber nach und befähigt so den Leser, sich selber das zu bilden, was den Juristen so teuer ist: ein Urteil.

Ein solches Buch hat es bisher in deutscher Sprache nicht gegeben. Hier spricht nicht ein Experte, der den blutigen Laien mit Ratschlägen bedient, sondern ein Autor, der das Ganze ins Auge faßt und den Leser für voll nimmt. Zu vermuten ist, daß dieses Buch auch zahllosen überforderten Jura-Studenten als Notanker dienen wird; denn es fragt nach dem, was im öden Repetitorium verlorengeht: nach dem Sinn des Ganzen.

Uwe Wesel, geboren 1933, ist Professor für Rechtsgeschichte und Zivilrecht an der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen: Der Mythos vom Matriarchat (1980); Aufklärungen über Recht (1981); Juristische Weltkunde (1984); Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften (1985); Recht und Gewalt (1989).


W. G. Sebald: Die Ausgewanderten

Eichborn 1992, AB 93, 359 S.

»Und manche Nebelflecken löst kein Auge auf.«

Ein stiller, aber beharrlicher Ruhm ist Sebald zugewachsen, seitdem er in der ANDEREN BIBLIOTHEK sein Prosabuch Schwindel. Gefühle. veröffentlicht hat. Im Mittelpunkt dieses unheimlichen und betörenden Berichts stand die Figur eines heillos verstörten Erzählers. Sebalds neues Buch verläßt die autobiographische Perspektive; es besteht aus vier langen Erzählungen, die man auch Romane in nuce nennen könnte. Es sind die Lebens- und Todesgeschichten von vier Auswanderern, deren Wege aus der süddeutschen Provinz hinausführen in die Schweiz, nach Frankreich und England und bis in die fernen Wunderstädte New York und Jerusalem.

Bei Sebalds Suche nach vielfach verwischten Spuren geht es darum, wie aus einer jüdischen eine deutsche Geschichte wird - und umgekehrt. »Verschallen« ist ein deutsches Wort, das seit langem verschollen ist: »Im allgemeinen Gebrauch«, sagt das Wörterbuch, ist es »für einen Menschen, von dem man nichts mehr hört, von dem man nicht weiß, was aus ihm geworden ist.«

W. G. Sebald verfügt über einen siebten Sinn für solche Schicksale, vielleicht, weil er selbst seit vielen Jahren im Ausland und auf Wanderschaft ist: Hier blickt ein Ausgewanderter mit den Augen seiner fernen Helden auf die Heimat zurück. Verluste und Einbußen beginnen je länger, desto schwerer zu wiegen. In den Lebensläufen der Verschwundenen und Vergessenen rumort der Phantomschmerz der Erinnerung.

»So also kehren sie wieder, die Toten. Manchmal nach mehr als sieben Jahrzehnten kommen sie heraus aus dem Eis und liegen am Rand der Moräne, ein Häufchen geschliffener Knochen und ein Paar genagelter Schuhe.« Wer sich davongekommen wähnte, wird von Sebalds Funden eingeholt.

W. G. Sebald, geboren 1944 im Allgäu, lebt in England. Veröffentlichungen: Die Beschreibungen des Unglücks. Salzburg 1985; Nach der Natur. Ein Elementargedicht. Nördlingen 1988; Schwindel. Gefühle. Frankfurt am Main 1990; Unheimliche Heimat. Salzburg 1991.


Elisabeth Ambras: Fernsteuerung. Bettgeschichten
(H.M. Enzensberger)

Eichborn 1992, AB 94, 311 S.

»Von der Zeremonie der Paarung.«

Schamlose, verrückte, bizarre Geschichten, die sich immer nur um das Eine drehen. »Ich weiß nicht, wie ich dazu komme«, schreibt die Autorin. »Man erzählt mir alles, fast alles, in Zugabteilen, in Kneipen, in Hotelhallen. Man lädt mich ein in eintönige Wohnküchen und geschmacklose Boudoirs. Ich höre zu. Ich frage nicht nach, doch wehre ich auch nicht ab. Natürlich gebe ich mich nicht der Illusion hin, als ginge es dabei um die sogenannten Tatsachen. Denn das, was man mir eingeflüstert hat, ist nicht wiederzuerkennen, wenn es schließlich schwarz auf weiß auf der Seite erscheint - ganz zu schweigen davon, was der Leser aus den abstoßenden, wunderbaren, banalen Wachträumen macht, die ich ihm überliefere.«

Das könnte langweilig sein, repetitiv; nur daß Elisabeth Ambras nicht dumm genug ist, um in die Falle der Pornographie zu gehen. Dazu ist sie zu witzig, vielleicht auch zu boshaft. Vor allem aber sieht sie, was dem Pornographen entgeht: die Tragikomödie hinter den Zeremonien der Paarung. Die Frauen und Männer in diesen Erzählungen sind ihren unverständlichen Wünschen mehr oder weniger hilflos ausgeliefert. »Die Liebe ist eine Himmelsmacht - und damit basta.« In diesem Sinn steht die Titelgeschichte »Fernsteuerung« für das ganze Buch.

Elisabeth Ambras ist ein Pseudonym. »Mein Mann möchte, daß ich auf etwas Rücksicht nehme, das er seine ›gesellschaftliche Position‹ nennt. Ich erfülle diese Bitte gern, wenngleich ich nicht sicher bin, was er damit meint. Literatur als Beruf liegt mir fern. Ich bin Amateurin und schreibe zu meinem eigenen Vergnügen, meinem eigenen Verdruß. Ich bin kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Schweiz geboren, wurde in England erzogen und führe ein eher nomadisches Leben. Und so weiter... Aber beim Schreiben eines Lebenslaufes hätte ich bald das Gefühl, ich wäre in eine Geschichte von Elisabeth Ambras geraten. Dies ist ein Los, das ich mir ersparen möchte.«


Claudia Schittek: Der Irrgarten. Ein Buch voller Rätsel

Eichborn 1992, AB 95

»Flog ein Vogel federlos... «

Rätsel gehörenwie Zaubersprüche und Sagen, zur ältesten Überlieferung der Menschheit. »Heute aber«, sagt Claudia Schittek, »sind sie fremder als je; sind sie doch gerade diejenigen Formen der Sprache, die, zunächst einmal, keine Mitteilung zu machen haben, die zu nichts taugen, die nicht kommunikativ und effizient sind, sondern aus Prinzip bockig, unsinnig, unmöglich, irreführend, anders und sind doch seit Jahrhundenen geduldet und sogar gepflegt worden.«

Über 700 dieser widerspenstigen, magischen, fremdartigen Gebilde hat Claudia Schittek aus vielen Quellen gesammelt, getreu einem Motto von Theodor W. Adorno: »Wahr sind nur die Gedanken, die sich selbst nicht verstehen.«

Und es sind manche darunter, an denen man sich die Zähne ausbeißen kann, zum Beispiel: »Ein Nagel hält ein Eisen, ein Eisen ein Pferd, ein Mann ein Schloß, ein Schloß ein Land.« Niemand hat die Lösung gefunden. Für fast alle anderen hingegen ist der Schlüssel im Anhang zu finden.

Zu dem Vergnügen, sich in diesem Irrgarten zu verlieren, tragen auch die Illustrationen bei. Es sind Holzschnitte aus dem Jahre 1565. Unbekannt ist nicht nur der Künstler. Die Bilder haben bisher auch allen Versuchen widerstanden, sie zu entschlüsseln. Auch bei ihnen also handelt es sich um ungelöste Rätsel.

Claudia Schittek, geboren 1951, studierte Literatur- und Religionswissenschaften in Tübingen und Berlin, arbeitete lange Jahre in Italien und lebt heute in Andernach . Ein großer Essay von ihrer Hand, der dem Rätsel der Rätsel auf die Spur zu kommen sucht, ist 1989 bei Hanser in München erschienen: Flog ein Vogel federlos. Was uns die Rätsel sagen.


Ferdinando Galiani und Louise d'Épinay: Helle Briefe

Eichborn 1992, AB 96, 359 S.

»Hoch oben schweben und Krallen haben... «

Er war ein zwergenhafter, buckliger Abbé aus Neapel und doch einer der freiesten Geister seines Jahrhunderts. Als er Paris verlassen und in seine Heimat zurückkehren mußte, wäre ihm schier das Herz gebrochen. Aber hatte er ein Herz? Sein Briefwechsel mit Madame d'Épinay läßt diese Frage offen. Aber er ist eins der aufschlußreichsten und amüsantesten Zeugnisse, die uns aus der großen Zeit der Aufklärung geblieben sind.

Mit dem linientreuen Optimismus vieler Zeitgenossen hatte der Abbé freilich nichts im Sinn. Mit seinem skeptischen und zuweilen zynischen Realismus kann er als krassester Antipode Rousseaus gelten. Sich etwas vorzumachen galt ihm als Todsünde des Intellekts. Jeder Heilserwartung begegnete er mit dem Satz: »Wir und unsere Kinder - der Rest ist Träumerei.«

Doch seine Freunde, Diderot und d'Alembert, Holbach und Grimm, vergaß er nie, und seiner Freundin Madame d'Épinay hielt er die zärtlichste Treue. Sie antwortete ihm mit gleicher Münze. Galianis radikale Anthropologie, seine Vorstellung von der Selbstorganisation des Universums, seine politischen und ökonomischen Ideen lesen sich heute wie Vorgriffe auf Theorien der Gegenwart. Nietzsche nannte ihn »den tiefsten, scharfsinnigsten und vielleicht auch schmutzigsten Menschen seines Jahrhunderts«. - »So bin ich eben«, hätte er erwidert, »zwei verschiedene Menschen in einem zusammengeknetet, die aber immer noch nicht ganz soviel Platz einnehmen wie ein einziger.«

Ferdinando Galiani wurde 1728 in Chieti geboren. Die Jahre 1759 bis 1769 verbrachte er als Sekretär der neapolitanischen Gesandtschaft in Paris. Er starb im Herbst 1787 auf seinem Landgut Santo Sorio bei Neapel.

Louise de la Live d'Épinay, geboren 1726 in Valenciennes, war eine jener Damen, die in der französischen Kultur des 18. Jahrhunderts eine so entscheidende Rolle spielten. Sie starb 1783 in Paris und hinterließ verschlüsselte Memoiren, die erst viel später veröffentlicht worden sind.


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© Ralf 2006