AB - Die Andere Bibliothek 1993


Miklós Hernádi: Weininger Ende
Anselm von Feuerbach: Merkwürdige Verbrechen
Félix Fénéon: 1111 wahre Geschichten
Wolfram von Eschenbach: Parzival
Vittorio Segre: Ein Glücksrabe
Einar Karason: Die Teufelsinsel
Albert Christian Sellner: Immerwährender Heiligenkalender
Ryszard Kapuscinski: Imperim. Sowjetische Streifzüge
Gerhard Stadelmaier: Letzte Vorstellung
Jane Kramer: Sonderbare Europäer
Georg Brunold: Nilfieber
Gaston Salvatore: Waldemar Müller


Miklós Hernádi: Weiningers Ende

Eichborn 1993, AB 97, 382 S.

»Mord und Philosophie.«

Die Geschichte des Oberinspektors Maximilian Barner von der Staatspolizei, Sektion für Nationalfragen, läßt sich an wie ein gemütlicher Kriminalroman aus der Zeit der k.u.k. Monarchie. Aber es ist kein gewöhnlicher Fall, der ihn beschäftigt. Denn der Tote, der da in einem schäbigen Wiener Zimmer gefunden wird, heißt Otto Weininger. Mit 23 Jahren hat dieser Philosoph ein skandalöses Werk hinterlassen. Geschlecht und Charakter so der Titel, hat bis in unsere Tage 36 Auflagen erlebt; dieses Buch gilt als extremes Beispiel für den jüdischen Selbsthaß und als antifeministisches Traktat.

Selbstmord - oder Mord? Der ratlose Inspektor sieht sich mit seltsamen Spuren konfrontiert, die er kaum zu deuten weiß: Tagebücher und Briefe des Toten, Hinweise auf antisemitische Machenschaften und terroristische Pläne. In seiner Recherche tauchen Figuren auf, die man in einem Kriminalroman nicht vermutet hätte: Karl Kraus, Siegmund Freud, Ludwig Wittgenstein, Martin Buber, Georg Lukács und vor allem Theodor Herzl, der Begründer des Zionismus.

Als tückisch erweist sich auch der gemütliche Ton, den der Erzähler anschlägt. Der Text wimmelt vor versteckten Zitaten. Es handelt sich um Pastiche, um eine Stilübung zwischen Mimikry, Dokumentation und Fälschung.

György Konrád sagt über Hernádi: Sein Blick auf das Wien und das Budapest des fin de siècle ist ebenso sarkastisch wie einfühlsam. Er sucht den gewittrigen politischen Horizont der mitteleuropäischen Jahrhundertwende ab und rekonstruiert die intellektuellen Abenteuer dieser Epoche an Hand eines rätselhaften Kriminalfalls. Das Resultat ist einer der bemerkenswertesten Romane, die in der letzten Zeit aus Osteuropa gekommen sind.«


Anselm von Feuerbach: Merkwürdige Verbrechen

Eichborn 1993, AB 98, 407 S.

»Mord und Totschlag im Biedermeier.«

Feuerbach war nicht nur einer der größten deutschen Juristen. Er ist auch ein meisterhafter Erzähler.

»Ludwig Christian von Olnhausen gerieth im Jahre 1800 wegen Ermordung seines Bruders in Untersuchung und wurde von der ehemals preußischen Regierung in Ansbach verurtheilt, daß er seines Adels für verlustig erklärt, ohne Begleitung eines Geistlichen in seiner Kerkerkleidung zum Richtplatze geschleift, daselbst mit dem Rade von oben herab gerichtet, sein Leichnam aber auf das Rad geflochten und die Pistole, womit der Mord verübt worden, an dem Pfahl befestigt werden solle.«

So beginnt eine der 16 Kriminalgeschichten dieses Bandes - mit einem Satz, der in seiner Wucht an Kleist erinnert. Dabei verstand sich Feuerbach nicht als Künstler; im Originaltitel seines Werkes beharrt er darauf, daß es sich um eine »aktenmäßige Darstellung« handelt. Aber welcher deutsche Richter hätte je eine solche Prosa geschrieben?

Es ist seltsam, daß die Literaturgeschichte diesen Autor ignoriert, und daß man ihm nie den Rang eines klassischen Erzählers eingeräumt hat.

Anselm von Feuerbach wurde 1775 in Hainichen bei Jena geboren. »Die Jurisprudenz war mir von meiner frühesten Jugend an in der Seele zuwider«, schrieb er an seinen Sohn. Trotzdem wurde dieser leidenschaftliche Mensch ein bedeutender Gesetzgeber, ein beliebter Rechtslehrer und ein einflußreicher Richter. Ihm ist es zu verdanken, daß in Süddeutschland die Folter abgeschafft und die Öffentlichkeit der Rechtsprechung durchgesetzt wurde. Viel bewundert und viel angefeindet, in seinem privaten Dasein unglücklich und zerrissen, starb Feuerbach 1833 in Frankfurt am Main.


Félix Fénéon: 1111 wahre Geschichten

Eichborn 1993, AB 99, 223 S.

»Die kürzesten Geschichten der Welt.«

Ein Schriftsteller, der sich weigert, die Rolle des Schriftstellers zu spielen; ein »Jahrhundert-Kritiker«, wie Paulhan ihn nannte, der es ablehnt, die Rolle eines Kunstpapstes zu spielen (obwohl er nicht nur Rimbaud und Jarry, Mallarmé und Apollinaire, sondern auch Seurat, Cezanne, Gauguin, Matisse entdeckt hat, als keiner von diesen Künstlern etwas wissen wollte); ein Mensch, der es vorzog, sich sein Leben lang vor der Öffentlichkeit zu verstecken, in obskuren Redaktionen und im Hinterzimmer eines Kunsthändlers - diesen mysteriösen Mann hat der Ruhm erst nach seinem Tode eingeholt.

Sein schönstes literarisches Werk ist anonym erschienen, in den Spalten der Tageszeitung Le Matin, unter der Rubrik »Vermischtes«. Die bescheidene Form der faits divers hat Fénéon zur Kunst erhoben. Die Nachrichten, die ihm auf den Tisch kamen, gerieten ihm zu raffinierten lakonischen Fabeln. Unter der Hand wird dabei die Sachlichkeit zum Hohn auf die Belle Époque: »Zehn Königstreue haben ein imaginäres Attentat der Anarchisten an der Madeleine hinausposaunt und wurden festgenommen.« »In einem Café an der Rue Fontaine tauschten Vautour, Lenoir und Atanis bezüglich ihrer abwesenden Frauen einige Kugeln aus.«

Nach dem Tode Fénéons hat man diese surrealen Prosa-Haikus, über tausend an der Zahl, gesammelt und herausgegeben. In der Geschichte des Journalismus stehen sie bis heute einsam da.

Félix Fénéon, 1861 in Turin als Sohn eines Handlungsreisenden geboren, galt im Paris der 80er Jahre als Anarchist. Nach 1906 hat er so gut wie nichts mehr publiziert. Er starb, vollkommen vergessen, 1944 in der französischen Provinz.


Wolfram von Eschenbach: Parzival

Eichborn, AB 100, 479 S.

Ein Abenteuerroman aus dem Jahr 1220.

Eine rätselhafte Geschichte zwischen Hof und Wildnis, Liebe und Zauberei, Okzident und Orient, Weltverfallenheit und Weltflucht: Wolframs Parzival ist der bedeutendste deutsche Roman des Mittelalters. Ebenso kühn in seiner Sprache wie der Ulysses von James Joyce, hat Wolframs »krummer Stil« die Deuter beschäftigt, die Pedanten geärgert, die Übersetzer verwirrt. Dennoch ist das Buch bis heute springlebendig geblieben, und sogar der Umstand, daß es aus 25000 Versen besteht, hat seine Wirkung nicht beschädigen können.

Peter Knechts Übersetzung unternimmt nicht den Versuch, den Text zu glätten und dem Leser Eselsbrücken zu bauen. Gerade darin besteht ihr Reiz. In einem Brief an seinen Lektor schreibt er: »Ich kann verstehen, warum die Übersetzung provozierend auf Sie wirkt. Aber das, was Sie sich wünschen, gibt es bereits im Buchhandel. Dort werden Sie alles, wirklich alles vermieden finden, was Sie irritiert. Nur: Wolfram ist nun einmal nicht Neuschwanstein, und ich will's nicht ändern.«

Wer sich auf Parzivals Abenteuer wirklich einläßt, wird gespannt und bezaubert sein.

Wolfram ist um 1170 in Eschenbach, einem Flecken im Fränkischen, geboren und nach 1220 ebendort gestorben.

Peter Knecht kam 1954 in Oettingen zur Welt und lebt in Nördlingen. An seine Übersetzung hat er zehn Jahre gewendet.
Elisabeth Schmid, Professorin in Würzburg, hat seine Arbeit mit ihrem Rat in philologischen Fragen begleitet.


Vittorio Segre: Ein Glücksrabe. Geschichte eines italienischen Juden

Eichborn 1993, AB 101, 363 S.

Die Erinnerungen eines Davongekommenen.

»Ich war wohl noch keine fünf Jahre alt, als mein Vater mir um ein Haar in den Kopf geschossen hätte: Er war gerade dabei, seine Dienstpistole, eine Smith & Wesson 7,65, zu reinigen, doch wie der Schuß sich löste, wurde nie geklärt.«

Vittorio Segre, das verwöhnte Kind einer Familie aus der piemontesischen Großbourgeoisie, kam noch einmal mit dem Leben davon. Er sollte auch später Glück haben, ein problematisches, dunkles Glück. Der Vater, ein jüdischer Patrizier und Gutsbesitzer, war zugleich ein Anhänger Mussolinis. Aber was hieß das, anno 1927? Es hieß nur, daß man dazugehörte, daß man assimiliert und ahnungslos war. So fand auch der Sohn nichts dabei, in die faschistische Jugendorganisation einzutreten: »Die einzig normale Existenz, die mir je beschieden war«, sagt Segre mit der schonungslosen Selbstironie, die ihm eigen ist. Die Illusion zerbrach erst 1938, als Mussolini seine Judengesetze verkündete.

Der Sechzehnjährige gibt seine heile Welt auf, verläßt die Familie und erreicht mit einem der letzten Schiffe Palästina. Ein Schock: Das Land erscheint ihm armselig, dürftig, wüstenhaft. Aber er faßt zunächst in einem Kibbuz Fuß, tritt in die britische Armee ein und kehrt auf der Seite der Sieger nach Italien zurück, wo sein Vater, als halbverrückter Hausierer getarnt, überlebt hat.

Ein moralisches, ein existentielles Abenteuer wird hier erzählt. Segre ist sich wohl bewußt, daß sich seine pikareske Geschichte vor dem düsteren Hintergrund des Holocaust abspielt, und so wird ihm sein eigenes Glück zum stummen Vorwurf, zum unlösbaren Problem.

Dan Vittorio Segre, 1922 in Govone bei Turin geboren, diente nach dem Krieg Israel als Diplomat, war Professor an der Universität Haifa und lebt heute in Jerusalem und Piemont.


Einar Karason: Die Teufelsinsel

Eichborn 1993, AB 102, 303 S.

Eine Familiensaga vom Rand der Welt.

Ein Baracken- und Glasscherbenviertel in Islands Hauptstadt Reykjavík. Wilde Säufer, verarmte Bauernsöhne, angejahrte Nutten: Das hört sich nach einer dieser trübsinnigen Sozialreportagen an, die es darauf abgesehen haben, unserem schlechten Gewissen auf die Beine zu helfen. Statt dessen geht es hier ziemlich verrückt zu. Dicht unter dem Polarkreis treibt die Anarchie üppige Blüten. Statt Selbstmitleid und Resignation herrschen dort trotzige Ironie, brutale Lebensfreude und bedenkenlose Liebe.

Eine Familiensaga aus den 50er Jahren mit Akteuren, die mehr von Elvis Presley halten als von der Edda. Eine ganze Dynastie tritt auf, angeführt von Tommi, dem Krämer, und seiner Frau Lina, der Wahrsagerin, und ihrer Tochter Gogo mit ihren unzähligen Kindern. Unter ihnen ragt Baddi, der Draufgänger, hervor, und wenn der aufkreuzt in seinem funkelnagelneuen Ford Custom, hat die Polizei alle Hände voll zu tun.

Richtige Helden sind diese Verlierer, und ihr Slum ist zugleich ein Klondyke, in dem eine seltsame Goldgräberstimmung herrscht, eine Insel auf der Insel. Was sich hier abspielt, läßt sich auch als Gleichnis lesen für die rapide schonungslose Modernisierung einer altertümlichen europäischen Gesellschaft.

Einar Kárason, 1955 in Reykiavík geboren. lebt heute noch dort. Seine Romane Die Teufelsinsel (1983). Die Goldinsel (1985), Das Gelobte Land (1989) waren mit 70000 verkauften Exemplaren in einem Land mit 250000 Einwohnern, ein unverschämter Erfolg.


Albert Christian Sellner: Immerwährender Heiligenkalender

Eichborn 1993, AB 103, 485 S.

Nothelfer in allen Lebenslagen.

Die Verehrung der Heiligen gehört zu den großen Erfindungen des Christentums. Zuerst waren es Märtyrer und Bekenner, Asketen und Wunderheiler, die dem Abendland als Vorbild und Nothelfer galten; später traten Mönche und Missionare, Kriegshelden und Prediger, Wohltäter und Gelehrte hinzu. Heute kennt die Kirche einige zehntausend Heilige.

Aber die Verkörperung der höchsten Ideale hat eine befremdliche Kehrseite. Der schmale Weg der Tugend führt auch zur extremen Abweichung. Die Heiligenlegenden sprechen nicht nur von Liebe, Selbstüberwindung und Gottsuche, sondern auch von Masochismus und Sadismus, Rekordsucht und Hysterie, Magie und Totemismus.

Ohne Scheu. aber auch ohne kirchenkritische Pose, schildert Sellner alle hagiographischen Sensationen aus dem klassischen Heiligenkalender. Er orientiert sich dabei an den Kirchenvätern, den Märtyrerakten, der Legenda aurea, den volkstümlichen Legenden und den Ermittlungsergebnissen der Heiligsprechungsprozesse.

Dabei kommen die großen Taten zu ihrem Recht; doch auch die phantastischen Umstände werden nicht verschwiegen: die Lust des hl. Petrus Damiani an der Peitsche; das süße Vergnügen, das der Geruch der Pestbeulen dem hl. Franz von Assisi bereitete; die Schamlosigkeit der Maria von Ägypten, die sich feilbot, um ihre Pilgerreise zu finanzieren; die sukzessive Zerstückelung des Leibes der hl. Therese durch die Reliquienjäger; und die archaische Grausamkeit der großen Inquisitoren.

Der Immerwährende Heiligenkalender ist ein Nachschlagewerk, ein Brevier zur Meditation und Erbauung, ein Buch zum Vorlesen und zur Unterhaltung. Ein Register verzeichnet die Patronate und Embleme der Heiligen, die ihre Anrufung in weltlichen und geistlichen Nöten und ihre Identifizierung in der religiösen Kunst ermöglichen. Auch wer ein Kind zu taufen hat, wird es mit Gewinn zu Rate ziehen.

Albert Christian Seliner, geboren 1945 in der alten Bischofsstadt Leitmeritz, sammelt seit Jahrzehnten Heiligenliteratur und lebt in Frankfurt am Main. Er hat sich als politisierender Buchhändler, als Landkommunarde, Journalist, Satiriker und Herausgeber betätigt (Infrarot, Joseph, Joseph und Suleika, Der sogenannte Gott) und ist seit 1987 Lektor für Politik, Geschichte und Religion beim Eichborn Verlag.


Ryszard Kapuscinski: Imperium. Sowjetische Streifzüge

Eichborn 1993, AB 104, 432 S.

Ein Weltreich verabschiedet sich.

Kapuścińskis Reportagen veralten nicht. Sie werden mit den Jahren immer lebendiger. Das macht ihren Ruhm aus. Dieser Autor hat sich dem Diktat der Aktualität nie unterworfen. Auch sein neues Buch über das sowjetische Imperium zeigt eine historische Tiefenschärfe, die einzigartig ist. Hier handelt es sich nicht um eine Momentaufnahme, sondern um Erfahrungen aus fünfzig Jahren.

Das Buch beginnt mit Ersten Begegnungen: Kapugciiiskis Erinnerung reicht bis ins Jahr 1939 zurück. Als Kind hat er den Einmarsch der sowjetischen Truppen in seine Heimatstadt Pinsk erlebt, die heute zu Weißrußland gehört; er wurde zum Zeugen der ersten Deportationen und zum Opfer der folgenden »Umerziehung«. Nach Stalins Tod reiste er als junger Journalist durch die ganze Union und sah, was dort geschah - nicht nur in Moskau, sondern auch in Sibirien und Mittelasien.

Der zweite Teil, Aus der Vogelperspektive 1989-1991, schildert den Zerfall des Imperiums. Ohne Dolmetscher, ganz auf eigene Faust, hat Kapuściński das unermeßliche Land durchstreift, von Brest bis Magadan am Pazifik, von Workuta bis Termez an der afghanischen Grenze.

Ein dritter Teil, Postskriptum 1992, faßt zusammen, was dieser scharfsinnige Augenzeuge in einem halben Jahrhundert im »Heimatland aller Werktätigen« erfahren hat.

Imperium ist ein polyphones Buch. Dieselben Menschen, dieselben Orte tauchen in verschiedenen Jahren und Zusammenhängen immer wieder auf. Doch führt diese Vielstimmigkeit nicht zur Synthese, sondern zur Auflösung. So spiegelt sich auch in der Gestalt des Werkes der Zerfall eines Riesenreiches.

Ryszard Kapuściński ist 1932 im östlichen Polen, heute Weißrußland, geboren und lebt in Warschau. Zuletzt erschienen von ihm in deutscher Sprache Der Fußballkrieg. Berichte aus drei Kontinenten. als einundsiebzigster Band der ANDEREN BIBLIOTHEK (Frankfurt 1990) und Lapidarium (Frankfurt 1992).


Gerhard Stadelmaier: Letzte Vorstellung. Eine Führung durchs deutsche Theater

Eichborn 1993, AB 105, 299 S.

Abgesang auf ein sinkendes Schiff.

Das Theater ist nicht im Gespräch. Es ist im Gerede. Ein Großunternehmen, das, von Konstanz bis Kiel, von Greifswald bis Göttingen, von Wien bis Wuppertal, immer weniger weiß, wozu es funktioniert. Das Theater jammert, es sei hilflos, ratlos, mutlos. Trotzdem macht es weiter, ganz als gehe es ihm prächtig. Es scheint abbruchreif, spielt sich aber als Wachstumsbranche auf. Niemand bekommt es mehr in den Griff.

Brauchen wir, in dieser Lage, einen Theaterführer? Einen Wälzer mit Starfotos, Kurzbiographien, Stücken, eingedampft auf zwanzig Zeilen »Handlung«?

Gerhard Stadelmaier hat sich etwas anderes vorgenommen: eine Ethnographie sonderbarer Typen und Vorgänge, ein Panoptikum letzter Zwangsvorstellungen im Reich der Thalia-Dinosaurier.

Einige Kapitel: Das Schmalzbrot. Der Intendant. Der Abonnent. Der Schrei (inklusive Der letzte Schrei). Die Träne. Die Resolution. Der Dramaturg. Der Wasserkopf. Ganz am Ende, mit dem Zusatz »Nicht zum Theater gehörig«: Der Kritiker.

Stadelmaiers Methode: Hohn, geteilt durch Liebe - also die reine Wahrheit über das reine Lügengewerbe.

Gerhard Stadelmaier, 1950 in Stuttgart geboren. Erster Auftritt als Theaterkritiker im Kindergarten St. Peter und Paul zu Schwäbisch Gmünd, wo er am Ende der »Vogelhochzeit«, kurz vor dem Beifall der Eltern, in den Saal rief: »Bin ich froh, daß der Scheiß vorbei ist!« Daraufhin Ohrfeigen von der Mutter, was die weitere Karriere förderte. Von 1978 an Redakteur und Theaterkritiker bei der Stuttgarter Zeitung; seit 1989 bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Buchveröffentlichung: Lessing auf der Bühne. Ein Klassiker im Theateralltag (1980).


Jane Kramer: Sonderbare Europäer

Eichborn 1993, AB 106, 339 S.

Wovon Eurokraten sich nichts träumen lassen

Eine Amerikanerin in Paris: Seit über dreißig Jahren wirft Jane Kramer ihren fremden Blick auf die Bewohner unserer Halbinsel. Sie kennt Europa besser als die meisten Europäer. Was sie beschreibt, ist ein Kontinent in Bewegung; ihre Helden sind Flüchtlinge und Terroristen, Hochstapler und Entwurzelte - eine bosnische Familie im kalten Schweden, eine Portugiesin in Paris, Algerien-Franzosen und Deutsche, die als Heimatlose in ihre Heimat zurückkehren. Aber ebenso liebevoll und scharfäugig wie diese Wanderer wird die bodenständige Winzerin aus dem Burgund geschildert, die eigensinnig an ihrer Erde und an ihren Traditionen festhält, und der philosophische Guru aus Kalabrien, von dem sich die Stars der intellektuellen Szene Europas jahrelang an der Nase herumführen ließen.

»Ihre Chroniken und Porträts«, sagt Susan Sontag, »sind nicht nur reichhaltig und wahrhaftig; sie überzeugen uns so, wie nur die Dichtung es vermag. Und was sie uns über die Alte und Neue Welt, die man Europa nennt, zu sagen hat, ist faszinierend. Sie ist einfach eine glänzende Schriftstellerin.«

Jane Kramer schreibt seit 1964 für den New Yorker. Sie lebt in Paris und New York. Ihre wichtigsten Buchveröffentlichungen sind: Honor to the Bridge, 1970, The Last Cowboy, 1978, Unsettling Europe, 1981, und Europeans, 1988.


Georg Brunold: Nilfieber

Eichborn 1993, AB 107, 435 S.

Ein 6671 km langes Geheimnis.

Schon die alten Griechen haben sich gefragt, wo der Nil entspringt. Von einem, der sich etwas Unmögliches vornahm, sagten die Römer, er suche die Quelle des Nils. Im 19. Jahrhundert wurde diese Suche zu einer europäischen Obsession. Die »Entdeckungsreisenden« der Kolonialzeit traten zu einem regelrechten Wettlauf an, der mit harten Bandagen ausgetragen wurde.

Georg Brunold hat ihre Spuren verfolgt; er weiß, wie es heute in dieser Gegend aussieht und schreibt darüber eine Reportage, die zugleich ein Essay und ein Prosagedicht ist. Auszüge aus dem Werk des australischen Journalisten Alan Moorehead liefern den historischen Kontext. Dann haben die Quellen das Wort, von Herodot und Ptolemäus bis zu Burton und Speke, Livingston und Stanley, deren Abenteuer-Schilderungen zu internationalen Bestsellern wurden.

Ihre Expeditionen verfolgte das Publikum wie enorme Sportereignisse. Zugleich wurde die Erforschung der »weißen Flecken« zum Symbol der europäischen Expansion, die damals ihren Höhepunkt erreichte. So geriet ihr Wettlauf auch zu einem Stück Mediengeschichte: Zu Stanleys Berufsgeheimnissen gehörte bereits der Telegraph, und noch bevor der alte Haudegen starb, hätte er den Victoria-See mit der Eisenbahn erreichen können.

Georg Brunold, 1953 in Arosa (Graubünden) geboren, studierte in Zürich Philosophie und zog dann nach Kairo. 1987 erschien sein Buch Sandrosen. Orientalische Reportagen. Ein Jahr zuvor veröffentlichte er, zusammen mit Viktor Kocher, in DIE ANDERE BIBLIOTHEK die Übersetzung von Mohamed Choukris Erzählungen unter dem Titel Das nackte Brot. Seit einigen Jahren lebt er als Afrika-Korrespondent der Neuen Züricher Zeitung in Nairobi.


Gaston Salvatore: Waldemar Müller. Ein deutsches Schicksal

Eichborn 1993, AB 108, 432 S.

Die Heldentaten eines ewigen Verlierers

Waldemar Müller, diese Ausgeburt der achtziger Jahre, ist, rechtzeitig mit der Einheit aller Deutschen, die er verkörpert, wieder auferstanden, nachdem er den größten Teil der schönen, öden achtziger Jahre im Tiefschlaf verbracht hatte. Anderswo wäre eine solche Figur längst zum Helden einer endlosen Serie avanciert; aber für das deutsche Fernsehen ist Waldemar Müllers Komik zu tückisch, und so müssen wir froh sein, daß wir seine Abenteuer nachlesen können.

Waldemars Ähnlichkeiten mit jedem seiner Leser ist keineswegs zufällig. Damit sie ans Licht treten, muß unser Held sich in immer neuen Verwandlungen durchs Leben schlagen: als Reporter auf dem Wirtschaftsgipfel, als Flüchtling, als Filmemacher, als Geistheiler. Günter Wallraff ist nichts gegen Müller, der als Projektleiter in China ebenso Schiffbruch erleidet, wie als Bundestagsabgeordneter oder als Strohmann eines türkischen Unternehmers. Er organisiert den Aufschwung Ost, er besiegt die Stasi, er schafft Ordnung als Ausländerbeauftragter und Chaos als Skin. Als ewiger Verlierer ist er unbesiegbar.

Gaston Salvatore hat mit diesem moralischen Comic-Strip, mit dieser rasanten, rührenden, gnadenlosen Serie auch eine Geschichte der Bundesrepublik geschrieben, in der sich die Erfolgsstory der letzten zwanzig Jahre als eine Abfolge von tragikomischen Pleiten erweist.

Gaston Salvatore, 1941 in Valparaiso geboren, lebt seit 1965 in Deutschland und Italien. Er ist Kleist-Preisträger 1991. Seine wichtigsten Bücher und Theaterstücke: Der langwierige Weg in die Wohnung der Natascha Ungeheuer 1971, Büchners Tod, 1972, Ein faltenreiches Kind (Wolfgang Neuss), 1974, Der Kaiser von China, 1980, Stalin, 1985, Lektionen der Finsternis, 1989, Heß, 1991, Benito Cereno, 1992, Der Kampf aus der Ferne, 1992.


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© Ralf 2006