AB - Die Andere Bibliothek 1994


Ernst Troeltsch: Die Fehlgeburt einer Republik. Spektator
Jan Kjaerstad: Rand
Gabriele Goettle: Deutsche Bräuche
Georg Eisenhauer: Scharlatane
Friedrich Reck: Tagebuch eines Verzweifelten
John Aubrey: Lebens=Entwürfe
Rudi Palla: Verschwundene Arbeit
Otto A. Böhmer: Der Hammer des Herrn
Waverley Root: Das Mundbuch
Charles Panati: Universalgeschichte der ganz gewöhnlichen Dinge
Georg Brunold: Afrika gibt es nicht
Samuel Butler: Erewhon oder Jenseits der Berge


Ernst Troeltsch: Die Fehlgeburt einer Republik. Spektator in Berlin 1918-1922

Eichborn 1994, AB 109, 351 S.

Weimarer Warnungen

War da was? Und was war da? Wie die erste deutsche Republik geboren wurde. daran kann sich kaum mehr jemand erinnern. Die Ereignisse dieser entscheidenden Krisenzeit werden durch linke wie rechte Klischees verdunkelt. Den einen fällt nur das Versailler Diktat ein, die anderen begnügen sich mit Spartakus, Trommeln in der Nacht und dem Panoptikum des George Grosz.

Wie wäre es mit einem -Augenzeugen, der mit einer Folge von Reportagen und Analysen. mit einem großangelegten politischen Tagebuch dieses schiefe Bild zurechtrücken könnte? Es gibt ein solches Dokument, man hat es nur vergessen.

Kaum jemand hätte seinem Verfasser eine derart kämpferische, hellsichtige, direkte Intervention in das politische Geschehen zugetraut. Ernst Troeltsch war ein angesehener Religionshistoriker und Professor der Philosophie an der Berliner Universität. Als sich herumsprach, was sich hinter dem Pseudonym Spektator verbarg. unter dem er seine Berliner Briefe publizierte, waren viele überrascht, andere gar wütend. Troeltsch wollte eine Klasse, der er selbst angehörte, für die soziale Demokratie gewinnen: das Bürgertum, das der Weimarer Republik von Anfang an feindselig gegenüberstand. Er wandte sich den deutschen Sonderweg und setzte allen revolutionären und restaurativen Utopien das Pathos der Sachlichkeit entgegen. Das Scheitern der Republik hat er früh geahnt. Sein früher Tod im Jahre 1923 hat es ihm erspart. es erleben zu müssen. Heute, da die zweite deutsche Demokratie vor ihrer Bewährungsprobe steht, ist es an der Zeit, sich an die Erfahrungen und Warnungen dieses Vorläufers zu erinnern.

Ernst Troeltsch, 1865 in Haunstetten bei Augsburg geboren, hat ein riesiges gelehrtes Werk hinterlassen, hat sich aber auch früh politisch engagiert und zog 1919 in das preußische Parlament ein. Der Zerfall der Republik, den er kommen sah, stürzte ihn in eine tiefe Depression.


Jan Kjaerstad: Rand

Eichborn 1994, AB 110, 407 S.

Ein Mörder, der mit dem Leser Katz und Maus spielt

Oslo im Ölboom der achtziger Jahre, kurz vor dem großen Bankenkrach. Eine Serie von Morden beunruhigt die norwegische Hauptstadt. Die Polizei ist ratlos, denn ein Motiv ist in keinem Fall zu erkennen.

Jan Kjærstad gilt in Skandinavien als Wunderkind, als postmoderner Moralist, als Scharlatan und schwarzer Theologe. Er bedient sich der Hüllform des Kriminalromans. Sein Held ist ein Computerfachmann, der sich fragt, warum er sieben Morde begangen hat. Als das Morddezernat ihn zu Hilfe ruft, fahndet der Mörder nach sich selbst. Obsessiv sucht er nach einem Zusammenhang, nach einer Erklärung, nach verborgenen Verbindungen zwischen den Opfern.

Der Leser wird in ein spannendes Katz-und-Maus-Spiel verwickelt. Immer neue Indizien tun sich in diesem mehrdimensionalen Puzzle auf. Zufall oder Paranoia?

Intellektuelle Unterhaltung hat keine gute Presse bei unserer Literaturkritik. Trotzdem muß gesagt sein: Hier hat man es mit einem Autor zu tun, der seinen Borges und seinen Calvino kennt und der virtuos mit einem reinen Zeichenchaos zu spielen versteht; doch läßt er sich von keiner gescheiten Theorie davon abhalten, eine spannende, bizarre, hintergründige Geschichte zu erzählen.

Jan Kjærstad, 1953 geboren, gab jahrelang die Literaturzeitschrift Vinduet heraus, Er lebt in Zimbabwe und in Oslo. Er schrieb Kloden dreier stille und rundt, Novellen, 1980, Speil. Leseserie fra det 20. århundre, 1982, Homo falsus, eller: Det perfekte Mord, Roman, 1984, Det store eventyret, Roman, 1987. Rand, sein letzter Roman, ist 1990 in Oslo erschienen.


Gabriele Goettle: Deutsche Bräuche. Neue Ermittlungen in Ost und West.

Eichborn 1994, AB 111, 383 S.

Gabriele Goettle, die berühmteste unbekannte Journalistin des Landes, tritt in keiner Talkshow auf und gibt keine Autogramme.

Sie ist zu triebhaft und zu unbestechlich, um prominent zu sein. Dauernd ist sie, zusammen mit Elisabeth Kmölniger, in einem alten VW-Bus unterwegs, urn festzustellen, was in Deutschland los ist. Auskünfte darüber sind kaum aus dem soziologischen Seminar zu erwarten.

Früher erfuhr man es von den Romanciers; heute sind es Autorinnen wie Marie-Luise Scherer und sie, die uns die medienabgewandte Seite der eigenen Gesellschaft schildern. Diese Forscherinnen haben es nicht auf den theoretischen Diskurs abgesehen, sondern auf das verräterische Detail. Was sie finden, ist der Aberwitz der Normalität.

Vom Erotik-Shop in Meuselwitz bis zum Stasi-Kaufhaus. von der letzten Ruhestätte bis zur Kläranlage ist kein Milieu vor Gabriele Goettle sicher. In ihren neuen Recherchen plaudern Amtsärzte und Volksmusiker, Veteranen der Arbeit und Besamungstechniker ihre Geheimnisse aus. Manche ihrer Berichte weiten sich zu regelrechten Fortsetzungsromanen aus - so die phantastische Geschichte vom erfundenen Kind, die von der Geiselnahme der Gefühle handelt.

Jedenfalls nimmt die Behauptung, es müsse zusammenwachsen, was zusammengehört, in den Deutschen Bräuchen etwas durchaus Ominöses an.

Gabriele Goettle, geboren 1946 in Aschaffenburg, lebt in Berlin und arbeitet als Journalistin vor allem für die tageszeitung, in der ihre Berichte zum größten Teil abgedruckt worden sind. Deutsche Sitten, ihr erstes Buch, ist 1991 in der ANDEREN BIBLIOTHEK erschienen. Im selben Jahr hat sie einen Essayband unter dem Titel Freibank veröffentlicht.


Gregor Eisenhauer: Scharlatane

Eichborn 1994, AB 112, 321 S.

Die Taschendiebe des Herzens.

Apollonios von Tyana - Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus - Michel Nostradamus - Athanasius Kircher - Joseph Balsamo, genannt Cagliostro - David Ferdinand Koreff - Helena Petrovna Blavatsky - Edward Aleister Crowley - Erik Jan Hanussen - Paramahansa Yogananda

Dieses Buch wurde nicht geschrieben, um Bösewichter zu entlarven. Scharlatane sind, wie ihr Name sagt, vor allem Marktschreier. Ihre Faszination läßt sich in moralischen Kategorien nicht fassen. Den geheimen Erwartungen der Menschen kommen sie entgegen, lautstark und höflich - und im Gegensatz zu ihren aufklärerischen Kritikern und Konkurrenten wissen sie zu beeindrucken und zu amüsieren.

Die Lust am Betrug und am Selbstbetrug eint Täter und Opfer. Nicht selten glaubt der Scharlatan selbst, was er sagt, das lernt er im Lauf seiner Karriere - nicht zuletzt, weil seine Kundschaft ihm fanatisch anhängt. Dabei ahnen alle die Gefahr. Doch die Hoffnung auf eine wunderhafte Wendung scheint ihnen immer noch trostreicher als der Trott des gesunden Menschenverstandes.

Strenger ausgedrückt: »Es ist erbärmlich anzusehen, wie die Menschen nach Wundern schnappen, um nur in ihrem Unsinn und Albernheit beharren zu dürfen, und um sich gegen die Ohnmacht des Menschenverstandes und der Vernunft wehren zu können.« (Goethe an Jacobi im Jahre 1791.)

Die zehn biographischen Essays dieses Buches reichen weit: von Apollonios von Tyana, der im ersten Jahrhundert n. Chr. lebte, über Paracelsus, Nostradamus, Cagliostro, Athanasius Kircher und David Ferdinand Koreff bis zu den Gurus unserer Tage, der Madame Blavatsky, Erik Jan Hanussen, Edward Aleister Crowley, dem »gottlosesten Menschen des Jahrhunderts«, und Paramahansa Yogananda, der durch sein gnadenloses Lächeln sich und die ganze Welt zu erlösen versprach.

Weniger auf Belehrung als vielmehr auf Unterhaltung hat es der Autor dieser Studien abgesehen; nur in dieser Hinsicht kann auch er sich zu den »Taschendieben des Herzens« zählen, von denen er berichtet.

Gregor Eisenhauer, 1960 in Mosbach geboren, lebt als freier Literaturwissenschaftler in Heidelberg. Veröffentlichungen: Die Rache Yorix. Arno Schmidts Poetik des gelehrten Witzes und der humoristischen Gerichtsbarkeit (1992); Der Literat. Franz Blei - Ein biographischer Essay (1993).


Friedrich Reck: Tagebuch eines Verzweifelten

Eichborn 1994, AB 113, 303 S.

Ein hellsichtiger Reaktionär.

So furios, so haßerfüllt so rückhaltlos hat keiner in Deutschland über die Herrschaft der Nazis geurteilt. Schon 1935/36, als im In- und Ausland die meisten noch dachten. man könne sich mit Hitler arrangieren. sah Friedrich Reck mit beispielloser Schärfe, wohin der Weg führte, in die Barbarei und in den Untergang.

Das ist um so erstaunlicher, ja verstörender, da dieser Autor den Nazis nicht mit den Waffen der Aufklärung entgegentreten konnte. Im Gegenteil. Er war ein Deutschnationaler, ja, ein hoffnungsloser Reaktionär, beladen mit allen Vorurteilen einer altertümlichen Kulturkritik, der die Moderne als eine einzige Verirrung galt Und was noch schwerer zu fassen ist: Friedrich Reck war auch ein Verschwender, ein Mythomane, der sich mühsam genug als Verfasser von Unterhaltungsromanen über Wasser hielt.

Ausgerechnet diesem Mann. und nicht den politisch korrekten Auguren der Linken, verdanken wir diese wütende Abrechnung aus dem Untergrund der dreißiger und vierziger Jahre. Halb versteckt auf einem niederbayrischen Bauernhof, beschrieb Reck nicht nur Tag für Tag die Terroristen an der Macht sondern auch ihre widerstandslose Basis in der Bevölkerung.

Die Historikerin Christine Zeile hat, mit Hilfe der Familie Reck, zum ersten Mal eine gesicherte Textgrundlage geschaffen und in einem umfangreichen Essay ein Lebensbild dieses Verzweifelten entworfen, der ein tödliches Risiko einging, um uns das Zeugnis seiner Hellsicht zu hinterlassen.

Friedrich Reck, 1884 als Sohn eines konservativen Reichstagsabgeordneten geboren, nannte sich nach seinem Geburtsort in Ostpreußen Reck-Malleczewen. Er studierte Medizin, praktizierte aber nie als Arzt. Mit seinen Reise- und Abenteuerromanen erreichte er hohe Auflagen: Admiral der Schwarzen Flagge (1917); Frau Übersee (1918): Die Dame aus New York (1921) u.v.a. Sein Buch Bockelson (1934) handelt von der Herrschaft der Wiedertäufer zu Münster, meint aber das Regime Hitlers; es wurde rasch verboten. Reck wurde 1944 auf Grund einer Denunziation von der Gestapo verhaftet und ins KZ Dachau gebracht. Dort ist er am 16. Februar 1945 an Flecktyphus gestorben.


John Aubrey: Lebens=Entwürfe

Eichborn 1994, AB 114, 439 S.

Das Dossier eines Exzentrikers.

»Mit den Dingen der Vergangenheit verhält es sich wie mit dem Licht nach Sonnenuntergang: Zuerst ist es noch deutlich - allgemach kommt die Dämmerung - dann gänzliche Finsternis. Also versäumt man, sie aufzuschreiben, bis sie am Ende in Vergessen versinken. Dieser Gedanke gab mir den Wink, etliche Alterthümer zu bergen, während ich selbst dem Altern ins Auge blicken muß - andernfalls jene samt und sonders verloren und vergessen waren.«

Mit diesen Sätzen formuliert John Aubrey, Sammler und Exzentriker, Privathistoriker und Gründungsmitglied der Royal Society, das Programm seines ganzen Lebens. Sein Hauptwerk, zu Lebzeiten nie erschienen, ist eine monumentale Sammlung von Lebensläufen: unzensiert, unfertig, fragmentarisch und gerade deshalb von einzigartiger Lebensnähe.

Elias Canetti lobte John Aubrey, »der Menschen im 17. Jahrhundert so sah, wie der gerissenste Dichter heute. Er maßte sich nicht an, sie gut oder schlecht zu finden, es gab ohnehin zuviel Prediger. In seiner schwerleserlichen Schrift bleibt alles ungeordnet liegen, und als es nach Jahrhunderten endlich entziffert wurde, war es immer noch seiner Zeit voraus, die Menschen, wie er sie sah, sind erst heute am Leben.«.

Es treten auf-. Berühmtheiten wie sein Freund Thomas Hobbes, Francis Bacon, Edmund Halley und Thomas Morus, aber auch Söldner, Spekulanten, Erfinder, Huren und Architekten. Dem Zerfall der von Pest, Brand, Hexenwahn, Bürgerkrieg zerfurchten Zeit setzt Aubrey die Gewißheit entgegen, daß sich im Detail das Ganze bewahren ließe: Die Rettung liegt im Unscheinbaren, und das Bedeutende findet immer am Rande statt.

Dreihundert Jahre nach dem Tod des Autors, der 1625 geboren wurde und 1697 starb, wird sein Werk zum erstenmal in deutscher Sprache vorgelegt. Die glänzende Übersetzung ist Wolfgang Schlüter zu verdanken, einem 1948 geborenen Gelehrten, dessen Essays von Walter Benjamin und Gustav Mahler, Konrad Bayer und Christopher Marlowe handeln. Übersetzt hat er unter anderen John Barth und Michael Hamburger sowie englische Lyrik aus acht Jahrhunderten.


Rudi Palla: Verschwundene Arbeit. Ein Thesaurus der untergegangenen Berufe

Eichborn 1994, AB 115, 448 S.

Als es noch keine Arbeitslosen gab.

Was ein Schopper ist, ein Sliemer, Schorrer, Pfaidler, Fragner - das wüßten wohl die wenigsten auf Anhieb zu sagen. Womit waren diese Leute beschäftigt?

Die meisten unserer Vorfahren haben ihr Leben lang Tätigkeiten ausgeübt, von denen wir nichts mehr wissen. Die rapide Veränderung der Arbeitswelt hat Hunderte von ausgestorbenen Berufen hinterlassen. Wieviel hochspezialisiertes Können damit verlorengegangen ist, läßt sich kaum errnessen.

In Rudi Pallas Werk steht eine ganze Welt vor unseren Augen auf: vor allem das Mittelalter und die frühe Neuzeit, mit ihren Plagen und ihren Künsten, ihren Werkzeugen und ihren Bräuchen. Nicht nur die Handwerkszünfte sind berücksichtigt, auch untergegangene Dienstleistungen und Gewerbe wie die des Herolds, des Lumpensammlers und des Schinders werden geschildert. Manche von ihnen werden bloß knapp verzeichnet und erläutert, von anderen wird in längeren Essays erzählt, die insgesamt eine reich facettierte, detailreiche Kulturgeschichte ergeben. Entstanden ist damit nicht nur ein unentbehrliches Nachschlagewerk, sondern auch ein anregendes und amüsantes Lesebuch, das zum Weiterblättern und Weiterlesen verführt.

Kleine, lexikalische Illustrationen nach alten Vorlagen zeigen Werkzeuge und Geräte, die ebenfalls in Vergessenheit geraten sind. Ein Index erschließt die Fülle der Berufsbezeichnungen, unter denen mancher seinen Familiennamen wiederfinden wird, von dem er vielleicht gar nicht geahnt hätte, was er bedeutet und was sich hinter ihm verbirgt.

Rudi Palla, 1941 in Wien geboren, arbeitet seit 1973 als Filmautor, Kameramann und Regisseur in seiner Heimatstadt. 1989 hat er ein Buch geschrieben: Die Mitte der Welt. Bilder und Geschichten von Menschen auf dem Land. Mit einer Reportage von Christoph Ransmayr.


Otto A. Böhmer: Der Hammer des Herrn

Eichborn 1994, AB 116, 367 S.

Vom Wahn-Witz der Philosophie.

Ein Nietzsche-Roman? Nein und ja. Jedenfalls eine Geschichte, in der sich zeigt, wieviel Witz im Wahn stecken kann und wie die List der Vernunft umschlägt in eine denkwürdige Heiterkeit der Unvernunft.

Das erste Buch setzt mit dem berühmten Turiner Vorfall vom Januar 1889 ein, mit Nietzsches letzter Flucht, die in die psychiatrischen Anstalten zu Basel und Jena führte. Im zweiten Buch gerät der Philosoph in die hingebungsvolle, aber auch verstörende Obhut seiner Mutter, die 1897 stirbt. Das dritte Buch handelt von Nietzsches letzten Jahren unter der Regentschaft seiner Schwester Elisabeth Förster.

Aber Böhmer erzählt keinen chronologischen Lebenslauf. Den hellsichtigen, manchmal geradezu hellsehenden Patienten suchen alle Gespenster seines Lebens heim: Episoden aus der Kindheit, groteske Kollegen aus der gelehrten Zunft, vor allem aber eine geisterhafte Liebesgeschichte, die kein Ende nehmen will. In immer neuen Schüben kehrt Nietzsche in den Schwarzwald zurück, wo er einst seine »große Genesung« versuchte, und nach Marienbad, wo er fünf Jahre später einen riskanten Neuanfang probte, der ihm nicht nur einige neue, erhebende Gedanken beschert, sondern auch in eine Kriminalaffäre verwickelt hat, die er mit bemerkenswerter Gelassenheit überstand...

Das alles ist, nicht immer, aber oft, wohlverbürgt; doch hier verfällt das »Material« der, feinen und fragwürdigen Ausdeutung durch eine entfesselte literarische Phantasie, die sich nicht einschüchtern läßt, sondern ebenso respektvoll wie dreist ihre eigene, tragikomische Geschichte erzählt.

Otto A. Böhmer, geboren 1949 in Rothenburg ob der Tauber, lebt als Schriftsteller in der Nähe von Frankfurt am Main. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: Holzwege (1991); Zeit des schönen Scheins (1992) und Sternstunden der Philosophie (1993).


Waverley Root: Das Mundbuch

Eichborn 1994, AB 117, 407 S.

Die Speisekammer der Menschheit.

Nicht nur in Amerika war sein Ruf als Prophet der Zunge, des Gaumens und des Magens legendär. Als sein Buch The Food of France (1958) erschien, mußten sogar die Franzosen zugeben, daß sie es mit einem gastronomischen Autor zu tun hatten, der seinesgleichen suchte.

Allerdings, Kochbücher gibt es genug, und nicht einmal von den besten ließe sich behaupten, sie seien unentbehrlich. Was hingegen die Köchinnen und Köche auf der ganzen Welt einkaufen, die »Zutaten«, von denen unser leibliches Wohl abhängt, darüber wissen wir nicht allzuviel.

Woher kommt die Artischocke? Wer hat sie gezüchtet? Was haben verschiedene Kulturen mit ihr angefangen? Was zeichnet ihre besten Sorten aus?

Solche Fragen, von A bis Z, beantwortet Waverley Roots opus magnum. An Food arbeitete er zehn Jahre lang. Alle Qualitäten des Autors - phantastische Kenntnisse, erbarmungslose Neugier, Witz und Ironie - sind in dieses Buch eingegangen. Die Wirtschafts- und Kulturgeschichte des Essens, von Malaysia bis Sibirien, weiß er mit merkwürdigen Fakten und starken Anekdoten zu würzen und anzurichten. Rezepte bietet sein Buch nicht; doch wer bei der Lektüre nicht auf den Geschmack kommt, dem ist nicht zu helfen. Nur denen kann es den Appetit verderben, die sich an Diätratgeber und Cholesterin-Tabellen halten, statt der tausendjährigen Erfahrung aller Völker und ihren eigenen Geschmacksnerven zu trauen.

Waverley Root, 1903 auf Rhode Island geboren, lebte von 1927-34 und von 1945 bis zu seinem Tod im Jahre 1982 in Paris. Seinen Landsleuten hat er den Sesam der Gastrosophie eröffnet. Er hinterließ außer den genannten Werken: The Food of Italy, Italian Cooking, Food in America, auch eine Reihe von historischen Büchern.


Charles Panati: Universalgeschichte der ganz gewöhnlichen Dinge

Eichborn 1994, AB 118, 320 S.

Spurensuche im Haushalt der Menschen

Wann und wo wurde das Bett erfunden? Warum heißt die Mayonnaise Mayonnaise? Seit wann spielt die Menschheit mit Murmeln, und welchem rituellen Zweck haben sie gedient, bevor sie auf dem Schulhof landeten? Woher kommt die Wurst, und warum hat Kaiser Konstantin versucht, ihren Verzehr zu verbieten? Simple Fragen, die schwer zu beantworten sind. Unter vielen hundert Stichworten hat Charles Panati die Geschichte der alltäglichsten Gegenstände dargestellt, vom Löffel bis zum Kreuzworträtsel, vom Rosenkranz bis zur Barbiepuppe, vom Handschuh bis zur elektrischen Zahnbürste. Die Spannweite dieses Kompendiums reicht vom Paläolithikum bis in die Gegenwart. Auf dieser langen Reise durch die Kulturgeschichte erzählt Panati eine Fülle von amüsanten, überraschenden und extravaganten Anekdoten.

In den USA ist dieses ABC des Unscheinbaren und Unentbehrlichen zum Bestseller geworden. Über 360000 Exemplare sind verkauft worden, seit es 1987 erschienen ist. Die deutsche Ausgabe verzichtet auf einige Details, die eher der amerikanischen Folklore zuzurechnen sind, bietet aber eine getreue Übersicht über den bunten Haushalt der Menschheit.

Unter Panatis übrigen Publikationen sind zu nennen: The Book of Beginnings, Breakthroughs und Extraordinary Endings of Practically Everything and Everybody.


Georg Brunold: Afrika gibt es nicht

Eichborn 1994, AB 119, 449 S.

Ein polychroner Kontinent

Die großen Medien beschäftigen gewöhnlich einen Berichterstatter, der für ganz Schwarzafrika zuständig ist. Eine unmögliche Aufgabe: fünfundvierzig Staaten, weit über tausend Sprachen, allein in Zaire 450 Ethnien - wer soll einen solchen Kontinent im Auge behalten ?

Georg Brunold hat sich rund fünf Jahre in Afrika aufgehalten und berichtet seit 1991 aus Nairobi für die Neue Zürcher Zeitung. Von den 53 Ländern des Kontinents hat er mehr als 45 besucht, zwei Dutzend mehrmals. Er folgt dabei nicht dem Herdentrieb der Fernsehteams, die sich immer dann, wenn ein Ort in die Schlagzeilen gerät, in ein und demselben Flüchtlingslager der UNO oder in derselben Hotelhalle versammeln. Auf endlosen Flügen, mit einem Landrover, in der Eisenbahn, zu Schiff und nicht zuletzt zu Fuß unterwegs, ist er der Mann für den Hintergrund des Geschehens, und bei aller Wärme verliert er nie die kognitive Distanz. »Anders als in einem Bonner Büro«, schreibt er, »beginnt die Arbeit im zairischen Goma oder in Freetown jedesmal am Nullpunkt, und alle Erkenntnisse stehen erst noch bevor.«

»In der nördlichen Hemisphäre gibt es viele Leute, die glauben, in Afrika herrsche ein unerträglich heißes Klima, die Menschen hätten dort die meiste Zeit Hunger, und die Verhältnisse seien von Grund auf kreuzverkehrt. Einen solchen, regelrecht bestialischen Kontinent aber gibt es nicht. Was es dagegen gibt, ist ein grenzenloser Kontinent, der Wunden nicht nur schlägt sondern auch heilt, der seine Millionen von Flüchtlingen nicht nur hervorbringt, sondern auch beherbergt und der über einen in Europa ganz unbekannten Fundus an Toleranz verfügt.«

Georg Brunold, 1953 in Arosa (Graubünden) geboren, hielt sich 1973 bis 1983 in Studium, Forschung und Lehre am Philosophischen Seminar der Universität Zürich auf und pendelte dann als freier Journalist zwischen Kairo, Tanger und der Schweiz. Seit 1991 lebt er in Nairobi.

Publikationen: Sandrosen. Orientalische Reportagen (1987). In der ANDEREN BIBLIOTHEK erschien seine Übersetzung von Mohamed Choukris Buch Das nackte Brot (1986, mit Viktor Kocher) und der Band Nilfieber. Der Wettlauf zu den Quellen (1993).


Samuel Butler: Erewhon oder Jenseits der Berge

Eichborn 1994, AB 120, 399 S.

Ein Nachfahr Jonathan Swifts

Erewhon ist ein Anagramm aus Nowhere - nirgendwo, und das Land, das so heißt, ist eine verkehrte Utopie. Nicht nur, daß es irgendwo bei den Antipoden liegen muß: seine Sitten und Gebräuche sind der reinste Hohn auf die europäische Normalität.

Der Entdecker dieser fernen Region, George Higgs, ist ein moderner Gulliver, und wie sein Vorfahr hat auch dieser Entdecker nicht die edelsten Absichten. jenseits der Berge findet er eine fruchtbare Gegend, die scheinbar nur darauf wartet, ausgebeutet zu werden. Aber bald zeigt sich, daß Erewhon nur ein groteskes Spiegelbild seiner Heimat ist.

Armut, Krankheit, Behinderung, Depression - jedes menschliche Unglück gilt dort als ein Staatsverbrechen, das gnadenlos bestraft werden muß. Umgekehrt begegnen Mörder, Diebe und Betrüger der verständnisvollsten Rücksicht; ein Heer von Therapeuten, sogenannten »Seelenstreckern«, nimmt sich ihrer an. Die Kirchen gebärden sich wie Banken, während der Geldhandel mit jener Mischung von Andacht und Indifferenz behandelt wird, welche die Christenheit der Religion entgegenbringt. In ihren Kindern sehen die Bewohner von Erewhon lästige Parasiten, die selber schuld sind, wenn man sie mißhandelt. Eigene Hochschulen der Unvernunft sorgen dafür, daß das Denken nicht gefördert, sondern gehemmt wird.

Ein besonderes Kapitel ist der Technik gewidmet. Aus Angst vor der Herrschaft der Maschinen haben die Gegenfüßler nämlich alle modernen Geräte zertrümmert. Die Freunde der Künstlichen Intelligenz können in Butler einen Vorläufer entdecken, der schon vor über hundert Jahren die Selbstabschaffung des Menschen zugunsten der technischen Revolution prophezeit hat.

Butlers Hauptwerk, halb vergessen und seit langem vergriffen, hat wesentliche Autoren der Moderne, wie Wells, Shaw, Valéry Larbaud und George Orwell, stark beeinflußt.

Samuel Butler, 1835 in Nottinghamshire geboren, ist einer der vielen abgefallenen Theologen der Literaturgeschichte. Er lebte vier Jahre lang als Schafzüchter in Neuseeland. Nach seiner Rückkehr veröffentlichte er unter anderem: Life and Habit (1877); The Authoress of the Odyssey (1897); und The Way of All Flesh (posthum 1903). Er ist 1902 in London gestorben.


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© Ralf 2006