AB - Die Andere Bibliothek 1995


Irene Nemirovsky: Der Fall Kurilow. David Golder
Hans Magnus Enzensberger: Nie wieder!
Ryszard Kapuscinski: König der Könige
Leon Bloy: Auslegung der Gemeinplätze
Judith Macheiner: Übersetzen
Hans Scherer: Stopover
Einar Karason: Die Goldinsel
V. S. Naipaul: Dunkle Gegenden
Anselm von Feuerbach, Georg Friedrich Daumer: Kaspar Hauser
W. G. Sebald: Die Ringe des Saturn
Jürgen Manthey: In Deutschland und um Deutschland herum
Amos Elon: Nachrichten aus Jerusalem 1968 – 1994


Irene Nemirovsky: Der Fall Kurilow. David Golder

Eichborn 1995, AB 121, 408 S.

Die Romane einer Verschollenen

Nizza 1931. Léon M., ein abgehalfterter Kommissar der Tscheka, dem die Flucht ins Ausland gelang, erinnert sich, mit der Schärfe eines Grabstichels, an seine Anfänge als Revolutionär.

Im Jahr 1903 sollte er einen Minister des Zaren ermorden. Über Monate hinweg hat er sein Opfer Kurilow, den »Pottwal«, studiert und ist ihm immer näher gekommen. Der Machthaber lehrte den Terroristen »mehr, als er dachte«: »Mein armer Kurilow! Nie habe ich ihn so verstanden, verachtet, bemitleidet wie damals« - kurz vor dem Attentat. Erst vor seinem eigenen Ende durchschaut der alte Bolschewik »die Illusion der Macht«.

David Golder hingegen, ein Mann der jüdischen Hochfinanz, kämpft in der Wirtschaftskrise um sein riesiges Vermögen. Umgeben von Spielern, Kurtisanen und korrupten Politikern erlebt er seine letzte Saison an der Côte d'Azur. Um mit den Sowjets über ein Ölgeschäft zu verhandeln, fährt er nach Moskau. Er stirbt auf einem Dampfer im Kaspischen Meer. Was ihn ruiniert hat, ist die Illusion des Geldes.

Wie Joseph Roth schildert Irène Némirovsky eine verschwundene Welt. Spionage und Terror, Spekulation und haute volée: Mit einer Unbefangenheit, die heute nicht mehr denkbar ist, verwandelt diese Erzählerin die Motive des Trivialromans in Kunst. Auf die süchtige Hektik der frühen dreißiger Jahre fällt bereits der Schatten eines nahen Untergangs. Nur ein kleiner Schritt trennt die Unterhaltung vom tödlichen Ernst, die Frivolität von der Tragödie.

Irène Némirovsky ist 1903 in Kiew geboren. Sie entstammt einer jüdischen Bankiersfamilie, die nach der Oktoberrevolution nach Frankreich floh, und wurde in Paris zu einer gefeierten französischen Autorin. David Golder, ihr erster Roman, erschien 1929. Viel Aufmerksamkeit bekam 2005 "Suite française". Weitere Publikationen: Le bal; Films parlés; Le pion sur l'échiquier; Le vin de solitude; Les chiens et les loups; Les feux d'automne. Unter der deutschen Besatzung wurde sie 1942 deportiert und, ebenso wie ihr Mann, in Auschwitz ermordet.


Hans Magnus Enzensberger: Nie wieder!

Eichborn 1995, AB 122, 351 S.

Medizin gegen das Reisefieber

Reisebücher, die dazu dienen, Touristen anzulocken, gibt es genug. Dieses hier dient der Abschreickung. Es zeigt die Kehrseite jenes rätselhaften Triebes, der Millionen von Menschen dazu verführt, die unwirtlichsten Gegenden der Erde aufzusuchen. Dabei nehmen sie nicht nur endlose Langeweile und unglaubliche Strapazen in kauf. Oft steigert sich ihre Frustration zum schieren Schrecken, so daß am Ziel der Reise die Frage auftaucht: Warum haben wir uns das angetan?

Aber wie alle Horrorgeschichten haben auch solche Erfahrungen einen perversen Reiz. Mit schlecht verholenem Stolz, mit triumphierendem Masochismus erzählen die Opfer ihres Wahns von Abenteuern auf allen Kontinenten, von Urumtschi bis Huehuetenango. Unübertroffen in diesem Genre sind die Angelsachsen, und das ist kein Wunder. Ihr schwarzer Humor, die stiff upper lip, die kaltblütige Nonchalance machen ihre Katastrophenberichte zu Kabinettstücken der Reportage. In England und Amerika hochgerühmt und als Klassiker der Reiseliteratur gehandelt, in Deutschland größtenteils unbekannt, sind hier Autoren wie James Fenton und Norman lewis, Eric newby und Jonathan Raban zu entdecken. Sie stehen hier neben Paul Nizan, der Aden, Joseph Roth, der Vienne, und Viktor jerofejew, der Moskau-Petuschki entsetzlich fand. Aber wozu in die Ferne schweifen? Nicht nur die Tropen und die Eisregionen der Erde haben Abschreckendes zu bieten. Furchtbare Reisen können, wie Rolf Dieter Brinkmann und Severo Sarduy zu berichten wissen, auch in Rom und Frankfurt am Main enden.


Ryszard Kapuscinski: König der Könige

Eichborn 1995, AB 123, 269 S.

Von den Eingeweiden der Macht

Drei literarische Formen hat Kapuściński hier zu einem Text ohne vorbild verschmolzen: den roman, die politische Reportage und die Allegorie.

Der König der Könige, Haile Selassie, Negus Negesti von Äthiopien, Löwe von Juda, war ein anachronistischer Monarch. Umso schlagender sind die strukturellen Ähnlichkeiten, die sein despotisches Regiment mit den modernen Formen totaler Machtausübung zeigt. Diese verschlüsselte Analogie wurde im kommunistischen Polen auf Anhieb verstanden und brachte dem Buch dort einen sensationellen Erfolg ein.

Der »erhabene Wohltäter« erscheint in der Erzählung aus der Perspektive seines Sturzes, und nicht er kommt darin zu Wort - die Zentralfigur bleibt stumm -, sondern seine unterwürfigen Würdenträger, Spitzel und Helfershelfer werden zum Sprechen gebracht. Kapuściński sucht sie in ihren Schlupfwinkeln auf: den Lakai der dritten Tür, den Zeremonienmeister, den Sekretär des Ministers der Feder, den kaiserlichen Polsterträger... Unfreiwillig, schon durch ihre Sprache, geben diese Kreaturen das Geheimnis der absoluten Herrschaft preis: ihren Realitätsverlust. Und so nimmt das blutige Drama absurde, bis zum Operettenhaften reichende Züge an.

Fünf Jahre nach dem Ende der DDR ist es höchste Zeit, dieses Buch wieder zu lesen; zum Verständnis einer gebrochenen Gesellschaft trägt es mehr bei als die endlose deutsche Talkshow über Teilung und Identität.

Ein Dossier erläutert den historischen Hintergrund der äthiopischen Revolution und gibt Auskunft über die ungewöhnliche Rezeptionsgeschichte des Buches.

Ryszard Kapuściński, 1932 in Pinsk, einer Kleinstadt, geboren, die heute zu Weißrußland gehört, war jahrzehntelang als Korrespondent in Asien, Lateinamerika und Afrika unterwegs. Er lebt in Warschau.


Leon Bloy: Auslegung der Gemeinplätze

Eichborn 1995, AB 124, 384 S.

Ätzendes Christentum

Eines der großen Themen dieses Buches, die Armut, steht heute wieder auf der Tagesordnung. Aber Léon Bloy war kein linker Agitator, sondern ein religiöser Extremist. Darin erinnert er an Kierkegaard. An Flaubert gemahnt sein wütender Haß auf die Dummheit. Dort nämlich, wo Stumpfsinn und Gemeinheit Fleisch geworden sind, beim Gemeinplatz, setzt sein Angriff auf die bürgerliche Gesellschaft an.

»Armut schändet nicht.« - »Man muß mit der Zeit gehen.« - »Geschäft ist Geschäft.« - »Man kann nicht alles haben.« - »Der Mensch denkt, und Gott lenkt.« - »Geld stinkt nicht.«

Einhundertdreiundachtzig solcher Phrasen unterzieht Léon Bloy einer ätzenden Exegese. Dabei tritt nicht nur eine unheimliche Komik zutage, sondern auch eine bodenlose Wahrheit: »Die banale Rede, ewig wiedergekäut von Idioten, bekräftigt deren Nichtigkeit auf wunderbare Weise, und eben darin liegt ihre göttliche Kraft.« Jenseits der Polemik findet Bloy im Müll der Sprache eine Art Offenbarung ex negativo, ein skandalöses Geheimnis. Dieses religiöse Denken führt nicht zur Versöhnung, sondern zur Zuspitzung der Widersprüche. Hier zeigt sich, daß ein radikal verstandenes Christentum einen Blick auf die menschliche Gesellschaft eröffnet, der nicht erbaulich, sondern böse ist. Mit seiner furiosen Entzifferung des Alltäglichen stellt Léon Bloy jeden politischen Brandredner in den Schatten.

Dieser Autor, 1846 in Périgueux geboren, war ein unglücklicher Mensch. Er hat ein umfangreiches Werk hinterlassen, doch sein Leben war gezeichnet von Mißerfolgen und Katastrophen, von extremer Armut und tiefer Verzweiflung. An der Auslegung der Gemeinplätze hat er über zwanzig Jahre lang gearbeitet; vom ersten Teil des Werkes, der 1912 erschien, wurden damals keine tausend Exemplare verkauft. Bloy starb 1917 in Bourg-la-Reine. Heute gehört er in Frankreich zu den Klassikern der Moderne.


Judith Macheiner: Übersetzen

Eichborn 1995, AB 125, 359 S.

Übersetzen kann (fast) jeder

Das meiste, was gesagt und geschrieben wird, wird in einer fremden Sprache gesagt und geschrieben. Deshalb gibt es so viele Übersetzer - ein paar hunderttausend werden es allein in Deutschland sein. Sie sitzen an den Schnittstellen der Zivilisation, unentbehrlich in Politik und Wissenschaft, Wirtschaft und Technik, Bildung und Kultur. Aber zählt nicht jeder, der über mehr als eine Sprache verfügt, zum großen, bunten Clan der Übersetzer?

Judith Macheiners Vademecum lädt zu einer Entdeckungsreise in die eigenen Fähigkeiten ein. Sie behauptet, ein kritisches Verständnis vom Übersetzen sei nicht nur nötig, sondern auch zu haben. Jede Sprache hat ihre eigene Perspektive. Das wissen wir intuitiv. Es kommt aber darauf an, diese Intuition zu präzisieren. Darauf hat dieses Buch es abgesehen.

An Beispielen herrscht dabei kein Mangel: Sie stammen vor allem, aber nicht ausschließlich, aus dem Englischen; aus Reiseführern, Gedichten, Gebrauchsanweisungen, Gesetzen und Theaterstücken. Kurze Ausflüge ins maschinelle Übersetzen und zum Dolmetschen runden das Vademecum ab. Ein Glossar gibt Auskunft über das linguistische und pragmatische Hintergrundwissen; der Anhang bietet auch kleine Übungen für den Umgang mit dem Instrumentarium.

Die alten Streitfragen - wörtlich oder frei, übersetzbar oder nicht, Kunst oder Handwerk - verlieren hier ihren Schrecken, ihren scholastischen Beigeschmack. Der Weg wird frei für das Vergnügen am Übersetzen und für das Vertrauen in die eigene Urteilskraft. Und was vielleicht nur der kenner bemerken wird: dieses Buch bringt auch die Wissenschaft vom Übersetzen ein gutes Stück voran.

Judith Macheiner ist 1939 in München geboren. Sie (oder ihr alter ego, das unter dem Namen Monika Doherty auftritt) hat an der Berliner Humboldt-Universität einen Lehrstuhl für Übersetzungswissenschaft.


Hans Scherer: Stopover

Eichborn 1995, AB 126, 413 S.

Ein Ticket überallhin

Ein Jahr auf Reisen: Tage und Nächte im Flugzeug, Länder im Dutzend, immer neue Schiffskabinen und Hotels - das ist doch Wahnsinn! Warum macht er das?

Hans Scherer ist ein Phänomen. Reisen, das ist für ihn nicht nur ein Brotberuf; es ist eine Obsession. Die Einwände (politisch, ökologisch, moralisch) liegen auf der Hand - sie überraschen ihn nicht; er macht sie sich zu eigen. Insofern ist er unser Stellvertreter, ein Botschafter unserer Versuchungen.

Eines unterscheidet ihn allerdings gründlich von seinen Lesern, den Touristen: Scherer sieht genau hin, nimmt das Unerwartete wahr, reflektiert die Paradoxien des Unterwegsseins. Dies und sein lässiger wie präziser Stil verschafft ihm unter den Reiseschriftstellern deutscher Zunge eine gewisse Einsamkeit.

»Den Gegenständen meiner Erzählungen fehlt eine Rangordnung«, sagt er. Exotisch kommen ihm nicht nur Brasilia, Reunion und Tirana vor, sondern auch der Rheindampfer und der Schlafwagen nach Berlin. Die Grenze zwischen der großen Reportage und der Glosse, dem Aperçu, überschreitet er ebenso mühelos wie alle anderen Trennlinien. Es geht ihm nichts über das Unscheinbare. Manchmal sind die Nebensachen die eigentliche Sensation.

»Ich kann keinen Urlaub machen«, behauptet Hans Scherer, und nicht ohne Stolz zitiert er, was ein scharfzüngiger Kollege sagte: »Wenn ich seine Geschichten aus aller Welt lese, denke ich immer, am schönsten ist es zu Hause.«

Hans Scherer, geboren 1938 in Trier an der Mosel, ist seit 1973 Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er schreibt vor allem für das Reiseblatt; dort hat er auch die Rubrik »Bücher für die Reise« eingeführt. Seine wichtigsten Veröffentlichungen: Feuilletons eines Globetrotters (Frankfurt 1986); Schiffe (Badenweiler 1988); Trier (Heidelberg 1988); Lauter Zwischenstationen (Frankfurt 1989); Tanzen zwischen den Krisen (Frankfurt 1991); Côte d'Azur (Nürnberg 1995).


Einar Karason: Die Goldinsel

Eichborn 1995, AB 127, 311 S.

Die Heldensaga vom Aufschwung Nord

Wirtschaftswunder! Herrliche, komische, peinliche Zeiten waren das - nicht nur in der alten Bundesrepublik. Es gab sie auch auf einer kargen, einsamen Insel im Nordatlantik. Die Sonne, die Island in den sechziger Jahren in eine Goldinsel zu verwandeln schien, ging im Westen auf. Alles kam aus Amerika: das Fernsehen, die Rockmusik, die großen Schlitten und das große Geld.

Unerhörte Zeiten brachen an - auch im Camp Thule, dem Barackenviertel von Reykjavik, wo die Anarchie seit eh und je üppige Blüten trieb. Dort schlugen sich Tommi der Krämer und seine Frau, Lina die Wahrsagerin, durchs Leben, samt ihrem ganzen Clan von trotzigen Verlierern, die nie aufgaben, und Goldgräbern, die den amerikanischen Traum in die Bude brachten.

Die alten Gewißheiten der Armen zerbrachen unter der Wucht des neuen Glücks. Doch die Überlebenskünstler ans dem Slum boten sogar dem plötzlichen Dollarsegen kühn die Stirn. Nicht einmal das neuerbaute Krankenhaus konnte ihre Wunden heilen.

Die Familiensaga aus dem wilden Norden kennt kein happy end. Das Alte Haus wird plattgewalzt. Doch mit der halsstarrigen Lebensfreude seiner Bewohner wird kein Bulldozer fertig...

Die Goldinsel fängt dort an, wo Einar Kárasons früherer Roman, Die Teufelsinsel, aufhört. Jedes dieser Bücher steht für sich. Der Autor, 1955 in Reykjavik geboren, lebt heute noch in der isländischen Hauptstadt. Er ist, seit den Zeiten von Halldór Laxness, der meistgelesene Erzähler seines Landes.


V.S. Naipaul: Dunkle Gegenden

Eichborn 1995, AB 128, 319 S.

Von neuen Königen und alten Krokodilen

Politisch korrekt war er nie. Daran liegt es wohl, daß der Nobelpreis ihm bisher versagt geblieben ist. Naipaul, als Sohn einer indischen Familie im karibischen Trinidad geboren, kennt jene Welt, die in den Metropolen die dritte genannt wird, von innen und von außen. Das ergibt einen stereoskopischen Blick, der sich, ebenso vertraut wie gnadenlos, auf die drei ärmeren Kontinente richtet.

Die Berichte dieses großen Romanciers haben mit dem landläufigen Journalismus keine Ähnlichkeit. Sie stoßen nicht nur in die Tiefe des Raumes vor, sondern auch in die Tiefe der Zeit: Naipauls Reisen sind Rückkehrversuche. Der früheste Text des Buches, Conrads Finsternis, führt auf den Spuren eines berühmten Vorbilds in den Kongo; Mobutu und der Nihilismus Afrikas liefert das politische Pendant dazu; mit den Krokodilen von Yamousoukro wird der westafrikanische Hintergrund aufgerollt.

Zwei Reportagen aus Guyana und Grenada zeigen die regressiven Seiten angeblicher »Befreiungsbewegungen« auf, aber auch die Aussichtslosigkeit westlicher Interventionen. »Die Revolution verflog, und was blieb, war eine Mordstory.«

1982 beschreibt Naipaul die verheerende Hinterlassenschaft des Militärregimes in Argentinien. Es geht dabei nicht um eine politologische Analyse, sondern um die zentrale Frage, die ihn immer wieder beschäftigt: wie die Zivilisation in den dunklen Regionen der Grausamkeit überleben kann.

V.S. Naipaul, 1932 beboren, lebt in England. Fast sein ganzes Werk liegt in deutscher Sprache vor, zum Beispiel ein Haus für Mr. Biswas, An der Biegung des großen Flusses, Eine islamische Reise; im vergangenen Jahr ist sein autobiographischer Roman Das Rätsel der Ankunft auf deutsch erschienen.


Anselm von Feuerbach, Georg Friedrich Daumer, Eduard Feuerbach: Kaspar Hauser

Eichborn 1995, AB 129, 382 S.

Neue Funde zu einem alten Rätsel

Ganze Bibliotheken sind über Kaspar Hauser geschrieben worden. Man sollte denken: Hier gibt es vieles zu interpretieren, aber nichts mehr zu entdecken. Um so erstaunlicher, ja fast unglaublich, daß sich nach fast hundertfünfzig Jahren ein umfangreiches Dokument gefunden hat, das hier zum ersten Mal gedruckt wird. Es handelt sich um die Aufzeichnungen Georg Friedrich Daumers, der sich im Juli 1829 des »sprachlosen Findlings« angenommen und ihn fünfzehn Monate lang in Nürnberg betreut und beobachtet hat. Daumer hat in späteren Jahren mehrere Schriften über Kaspar Hauser publiziert; doch das Primärmaterial, auf dem sie beruhen, galt als verloren.

Kriminalistische Sensationen haben diese tagebuchartigen Notizen nicht zu bieten, doch haben sie allen späteren Deutungen den frischen Blick und die unbezweifelbare Authentizität voraus. Gefunden wurde Daumers Text im Nachlaß der Familie Feuerbach. Von Anselm von Feuerbach stammt auch der klassische Bericht über diesen rätselhaften Fall, der hier zur Einführung vollständig abgedruckt wird. Eine weitere Entdeckung ist ein unbekanntes Memorandum von Anselms Enkel: Hinwegschaffung von Persönlichkeiten. Johannes Mayer und Jeffrey M. Masson, denen die Funde zu danken sind, runden den Band mit einem Bericht über die Hintergründe und mit einem Essay ab.

Anselm von Feuerbachs Hauptwerk, Merkwürdige Verbrechen, liegt auch in der ANDEREN BIBLIOTHEK vor. Georg Friedrich Daumer, der übrigens ein bedeutender Lyriker war, ist 1800 in Nürnberg geboren und 1875 in Würzburg gestorben. Der Historiker Johannes Mayer, ein geborener Tübinger, lebt in Stuttgart. Jeffrey M. Masson ist als Sanskritforscher und Kritiker der Psychoanalyse bekannt geworden; er lebt als Schriftsteller in Kalifornien.


W.G. Sebald: Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt

Eichborn 1995, AB 130, 372 S.

Einer geht zu Fuß. Er wandert durch die Grafschaft Suffolk, eine spärlich besiedelte Gegend an der englischen Ostküste, und dort findet er, in den Heidelandschaften und abgelegenen Küstenorten, die ganze Welt wieder. Überall stößt er auf die Spuren vergangener Herrlichkeit und vergangener Schande. Scherben und Reliquien erinnern an die Aufstände der Taiping im China des 19. Jahrhunderts, an die Sklavenwirtschaft im belgischen Kongo, an die Verheerungen des Ersten Weltkriegs und an die Bombengeschwader des Zweiten.

So wird der Erzähler zum Grenzgänger zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Menschheits- und Naturgeschichte, Traum und Wirklichkeit. Er berichtet von Seeschlachten und Heringsschwärmen, von Magnaten und Geheimwaffen, vom Aufstieg und Niedergang großer Reiche.

Den geringfügigen Rest am Wegrand bringt er zum Sprechen. Jeder Stein kündet von märchenhaften und unheimlichen Geschichten. Andere, die vor ihm in dieser entlegenen Gegend gelebt haben, begleiten ihn wie eine Geisterschar: Thomas Browne, Chateaubriand, Swinburne und Joseph Conrad. Sebalds Wallfahrt ist ein Buch ohne Vorbild - eines, das zwischen Bericht und Fiktion, Autobiographie und Geschichtsschreibung eine neue, eigene Form sucht und findet. Eine schwermütige Reverie ist so entstanden, in der nicht nur von Sturmfluten und Feuerbränden die Rede ist, sondern auch von der schleichenden Auflösung, von der Erosion und von den Wellen, die sich zuletzt über dem, was untergegangen ist, schließen. Unsere Welt erscheint darin wie ein versunkenes Vineta.

W. G. Sebald, 1944 in Wertach im Allgäu geboren, lebt in Norwich. Er ist vor allem durch seine Bücher Schwindel. Gefühle (1190) und Die Ausgewanderten (1992) berühmt geworden, die beide in der ANDEREN BIBLIOTHEK erschienen sind.


Jürgen Manthey: In Deutschland und um Deutschland herum

Eichborn 1995, AB 131, 333 S.

"Vor hundert Jahren wurde in Paris der Büstenhalter erfunden." - "Sobald man im Auto aus dem Ausland zurückkehrt, ist man von lauter Gesetzesbrechern umgeben." - "Jemand sagte neulich am Telefon, er vermute, sein Rheuma komme von Erdbeeren, von den kleinen Körnchen."

So fangen die vielen hundert Texte dieses eingentümlichen Buches an, Essays in der Nußschale: scheinbar harmlos und beiläufig, führen sie von der alltäglichen Beobachtung unversehens zu einer Reflexion auf die Folgen der Aufklärung, zu den Defiziten der deutschen Demokratie oder auf die Spur eines verborgenen Ressentiments. Seit 1988 veröffentlicht Jürgen Manthey im Merkur eine Kolumne unter dem Titel Glossa continua, nach der, wie es scheint, viele Leser dieser Zeitschrift süchtig geworden sind. Sie ist die Keimzelle dieses Bandes. Manthey selbst, dem understatement zugeneigt, sieht nicht ein, was an seiner fortlaufenden Chronik einzigartig sein soll: »keine Lebenshilfe, keine Botschaft - ich will nur aussprechen, was jeder ohnehin sehen und wissen könnte - er tut's nur nicht.«

Aber diese Äußerungen eines »Einsamen in der Menge« sind, so zivilisiert sie sich geben, polemisch geladen. Matheys »sprunghaftes Sinnieren« registriert genauer als alle Titelgeschichten, was in Deutschland der Fall war und ist. Das mag auch daran liegen, daß er fortwährend die Innen- und Außenperspektive vertauscht. Oft glaubt man einem Engländer, einem Italiener oder einem Niederländer zuzuhören; dann changiert der Tonfall wieder zu einer Intimität, die nur dem Eingeborenen zur Verfügung steht.

Mantheys Glossar streitet gegen alle apokalyptischen Drohungen und Verheißungen. Es ist ein Plädoyer für die Erfahung, für die überfällige Ankunft der Deutschen bei sich selber und in der Welt.

Jürgen Manthey, geboren 1932 in Forst in der Lausitz, war Redakteur und Lektor und lehrt heute Literaturwissenschaft an der Univerität Essen. Publikationen: Hans Fallada. Eine Monographie (1963); Wenn Blicke zeugen könnten (1983).


Amos Elon: Nachrichten aus Jerusalem 1968 – 1994

Eichborn 1995, AB 132, 329 S.

Vom Sechs-Tage-Krieg bis zum Friedensabkommen von Oslo reichen die Reportagen und Essays des israelischen Publizisten Amos Elon, die hier zum ersten Mal auf deutsch zu lesen sind. Ohne eine einzige Zeile zu ändern, legt der Autor Arbeiten aus nahezu dreißig Jahren vor. Das ist eine Nagelprobe, der die wenigsten Berichterstatter gewachsen wären.

Nicht im Rückblick des Historikers, sondern aus der Sicht des Augenzeugen wird hier der tragische Konflikt zwischen Juden und Arabern aufgerollt. Schon die erste Reportage, "Die Eroberer", aus dem Jahre 1968 beweist die Hellsicht und die Urteilsfähigkeit Elons. Er hat schon damals erkannt und beschrieben, in welches Dilemma die israelische Siedlungspolitik führen mußte. Nicht nur das eigene Land, auch das ganze Umfeld von Alexandria bis Amman schildert Elon mit kritischer Sympathie und entschiedenem Urteil. Wieder einmal zeigt sich hier, was ein Journalist leisten kann, der mit den Waffen eines Schriftstellers operiert. Das deutsche Publikum wird einen klügeren Wegweiser durch das Labyrinth der Nahost-Politik schwerlich finden.

Amos Elon ist 1926 in Wien geboren. Seit 1928 lebt er in Israel. Jahrzehntelang hat er als Sonderkorrespondent, Kolumnist und Redakteur für Haaretz, die führende Zeitung des Landes, gearbeitet. Seit 1984 schreibt er vor allem für den New Yorker und für die New York Review of Books über die Probleme des Nahen Ostens. In deutscher Sprache hat er die folgenden Bücher veröffentlicht: In einem heimgesuchten Land. München 1968; Die Israelis. Gründer und Söhne. Wien 1971; Herzl. Eine Biographie. München 1974; zusammen mit Sana Hassan: Dialog der Feinde. Ein leidenschaftliches Streitgespräch um die Zukunft der Araber und Israels. Wien und München 1974; Schrei ohne Antwort. Roman. München 1980; Innenansichten einer Spiegelstadt. Reinbek 1990.


←   AB - 1994 AB - 1996   →

© Ralf 2006