AB - Die Andere Bibliothek 1998


Achim von Arnim, Clemens Brentano: Freundschaftsbriefe
Frank Böckelmann: Die Gelben, die Schwarzen, die Weißen
Adriano Sofri: Der Knoten und der Nagel
Henri Michaux: Ein Barbar auf Reisen
Erwin Blumenfeld: Einbildungsroman
Xenophon: Sokratische Denkwürdigkeiten
Petra Morsbach: Opernroman
Gilbert Keith Chesterton: Ketzer
Margaret Visser: Mahlzeit!
Mavis Gallant: Transitgäste
Iwan Gontscharow: Für den Zaren um die halbe Welt


Achim von Arnim, Clemens Brentano: Freundschaftsbriefe I/II

Eichborn 1998, AB 157/158, 965 S.

Literaturgeschichte - im Leben und mit dem Leben geschrieben.

Dieser einzigartige Briefwechsel war bisher nur bruchstückweise zugänglich, in einer tendenziösen Ausgabe vom Ende des 19. Jahrhunderts. Es ist höchste Zeit, daß sich das ändert.

Die Dichterfreundschaft zwischen Arnim und Brentano begann im Sommer 1801 in Göttingen. Erfüllt von der Aufbruchstimmung der Jenaer Romantik gingen die beiden daran, ihr Leben zu »poetisieren«. Aus ihrer dichterischen Praxis und in ihren kunstvollen und zugleich spontanen Briefen ist eine neue Ästhetik entstanden. Mythisches und Existentielles, Tradition und Experiment verbinden sich in ihren Gedichten, von denen immer wieder Proben in die Briefe eingeflochten sind. Ihre große Sammlung Des Knaben Wunderhorn (1806-1808) hat den scheinbar natürlichen, in Wahrheit höchst artifiziellen Volksliedton der deutschen Lyrik erst eigentlich geschaffen.

Die Freundschaftsbriefe können als Gegenstück zu der Korrespondenz zwischen Goethe und Schiller gelten. Im Vergleich zu dem jungen Gespann Arnim-Brentano nehmen sich die Klassiker allerdings ziemlich steifleinen aus. Während Goethe seinem Freund »Promemorias« zur gefälligen Durchsicht übermittelt, mischen sich in den Briefen der Romantiker Klatsch und Kunst, ästhetische Diskussionen und erotische Erfahrungen.

Erst als Arnim zum Gutsherrn und Brentano, wie Heine sagt, zum »korrespondierenden Mitglied der katholischen Propaganda« wird, erlischt die starke, homoerotisch gefärbte Bindung der beiden Freunde allmählich.

Die Forschung hat bisher nur die Brentano-Briefe aufgearbeitet; sie erschienen zu großen Teilen bereits in der großen historisch-kritischen Ausgabe, die im Frankfurter Freien Hochstift erarbeitet wird. Die Publikation der Gegenbriefe wird in der geplanten Arnim-Ausgabe der Stiftung Weimarer Klassik vorbereitet. Im Einvernehmen mit den Herausgebern der großen Editionen erscheint nun unsere Leseausgabe nach den Handschriften.

Sie verzichtet auf jede Modernisierung der Orthographie und läßt die Lektüre zum Abenteuer werden, da beide Autoren oft »ohne Punkt und Komma« ihre phantasievollen Geschichten formulieren. Die Kommentierung basiert auf den Erkenntnissen der Forschung und bietet dem Leser, neben einem Personenregister, die notwendigen Hntergrundinformationen und Worterklärungen.

Der Herausgeber Hartwig Schultz leitet seit 1974 die Brentano-Arbeitsstelle im Freien Deutschen Hochstift (Frankfurter Goethe-Museum). Bisher sind 24 Bände der historisch-kritischen Brentano-Ausgabe erschienen. Schultz lehrt als Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Mainzer Universität; er hat sich vor allem als Romantik-Forscher einen Namen gemacht. Im Deutschen Klassiker Verlag gab er fünf Bände der Eichendorff-Ausgabe heraus.


Frank Böckelmann: Die Gelben, die Schwarzen, die Weißen

Eichborn 1998, AB 159, 455 S.

Wußten Sie, daß die meisten Europäer in Japan und China imposant und schön erscheinen, aber selten begehrenswert sind? Frank Böckelmann vermutete zu Beginn seiner Recherchen exakt das Gegenteil; denn aus den Schriften der Ostasienwissenschaftler ist darüber so gut wie nichts zu erfahren.

Oder wußten Sie, daß Chinesen sich schon als »gelb« bezeichneten, bevor die Europäer sie so nannten? Vermutlich nicht; denn bei uns ist man davon überzeugt, daß die Aufteilung und Einfärbung der Rassen ausschließlich das Werk des Weißen Mannes ist.

Böckelmanns empirisch gestützter Bericht gilt der wechselseitigen Wahrnehmung von Gelben, Schwarzen und Weißen zur Zeit der ersten Begegnungen, im 19. Jahrhundert und in der Gegenwart. Breiten Raum widmet er dem Fremdsein der Weißen in Asien und Afrika.

Gesichtsform und Hautfarbe, Gangart und Gestik, Blickverhalten und Mienenspiel gehören zum kulturellen Erbe der Kontinente. Sie sind nicht belanglos, nur weil die genetischen Unterschiede gering sind (wie fortschrittliche Biologisten meinen).

Im atemlosen Für und Wider der »multikulturellen Gesellschaft« scheint es für wechselseitige Anziehung und Abstoßung kaum mehr Worte zu geben. »Gegen Ausgrenzung« heißt die Parole. In Wirklichkeit ist Fremdheit heute anstößiger als je zuvor, denn wir streben einen spannungslosen Zustand an. Schon auf der bloßen Wahrnehmung äußerer Unterschiede lastet ein Generalverdacht. Westliche Medien, Werbung und Erziehung arbeiten daran, die Fremdheit auf Erden abzuschaffen. Doch - auch diese Erkenntnis vermittelt Böckelmanns Buch - das wird ihnen nicht gelingen.

Frank Böckelmann, 1941 in Dresden geboren, lebt in München. Veröffentlicht hat er: Die schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit (1971, 1987); Theorie der Massenkommunikation (1975); Journalismus als Beruf (1993); Ins Kino (1994); Begriffe versenken (1997).


Adriano Sofri: Der Knoten und der Nagel

Eichborn 1998, AB 160, 323 S.

»Als Kind lief ich immer mit offenen Schnürsenkeln herum.«

Eine Kulturgeschichte des Nagels? Des Knotens? Das hört sich nach einem Buch für Liebhaber und Spezialisten an. Aber hier geht es nicht um Kuriositäten, hier geht es ums Ganze.

Denn Sofri kann zeigen, daß damit eine Unterscheidung auf dem Spiel steht, die ebenso fundamental ist wie die vertrauten Gegensätze weiblich/männlich oder rechts/links. Es handelt sich um uralte, tief in der Geschichte der Menschheit verwurzelte Figuren. Und es stellt sich heraus, daß beide Erfindungen, die der Klinge und die der Schlinge, aufs engste mit dem Kampf der Geschlechter und mit dem Unterschied zwischen der linken und der rechten Seite zusammenhängen. Kein Wunder also, daß Sofris Buch auch eine politische Dimension eröffnet.

Das anthropologische Thema wird nicht akademisch abgehandelt. Der Autor will keine These aufstellen und kein System errichten. Er erzählt uns vielmehr Geschichten - alte und neue, bekannte und unbekannte. Sein Buch ist selber ein dichtgewobener Teppich mit tausend Knoten. Von Zwitterwesen und Chimären ist darin die Rede, vom Bergsteigen mit und ohne Haken, von Schnürsenkeln und Utopien. Seine politische Aktualität aber besteht darin, daß der Niedergang der linken Bewegungen diesen Schriftsteller nicht gelähmt hat. Er versteht es weiterzudenken.

Die Kühnheit, die er dabei an den Tag legt, ist imponierend - um so mehr, da er heute, zu 22 Jahren Haft verurteilt, in einem italienischen Gefängnis sitzt.

Adriano Sofri, 1942 geboren, war der charismatische Anführer der außerparlamentarischen Bewegung »Lotta Continua«. In einer Serie von höchst fragwürdigen Prozessen wurde er auf Grund fadenscheiniger Aussagen beschuldigt, zum Mord an einem Polizeikommissar angestiftet zu haben. Die öffentliche Meinung Italiens spricht von einem Justizskandal, der an den Fall Dreyfus erinnert. Unter Sofris Werken sind zu nennen: Memoria (1990), L'ombra di Moro (1991), Le prigioni degli altri (1993), sämtlich in Palermo bei Sellerio erschienen.


Henri Michaux: Ein Barbar auf Reisen

Eichborn 1998, AB 161, 383 S.

Warnung: Dies ist kein Reiseführer!

»Ein Mensch, der sich weder auf das Reisen noch auf das Tagebuchführen versteht, hat dieses Reisetagebuch verfaßt. Nun, da es zu signieren gilt«, schreibt der Autor, »bekommt er plötzlich Angst und wirft den ersten Stein auf sich.« So kaltblütig wie diese Eröffnung geht es weiter.

Ecuador, Colombo, Peking, Bali: die Touristen waren noch nicht da, als Henri Michaux, gerade 30, aus Europa floh. »Als ich Indien und China sah«, sagt er, »schien es mir zum ersten Mal, daß es Völkern auf dieser Erde zustand, wirklich zu sein.« Aber es liegt ihm fern, der Exotik anheimzufallen, und auf ethnologische Forschungen läßt er sich erst gar nicht ein.

Mit einer Unbefangenheit, die an Impertinenz grenzt, bissig, in einem Ton, »von dem alles Ernstere, Tiefschürfende, Bewährte, Belesenere abprallt«, beschreibt er das Fremde. »Darin war man ein Barbar und muß es bleiben.« Punktum.

1899 in Namur geboren, nach einem abgebrochenen Medizinstudium und einigen Fahrten als Matrose auf einem Fünfmaster, dem Surrealismus nahe, aber allem Sektierertum abgeneigt, hat Michaux, der 1984 in Paris gestorben ist, ein großes literarisches und zeichnerisches Werk hinterlassen. Eine deutsche Auswahl seiner Schriften hat Paul Celan 1966/1971 herausgegeben.


Erwin Blumenfeld: Einbildungsroman

Eichborn 1998, AB 162, 439 S.

Der rasante Bericht von einem rasanten Leben.

1897: Im wilhelminischen Berlin »höchst dilettantisch ins blutige Dasein bugsiert«, der Vater jüdischer Schirmfabrikant und Bankrotteur, die Mutter »eine Phrasendreschmaschine«.
1913: gelernter »Koofmich« bei Moses & Schlochauer (Damenkonfektion).
1917: Totengräber an der Westfront (Ehrensold pro Leiche 50 Pfennig).
1918: wegen Fahnenflucht verhaftet; Kunsthändler in Holland; Versuch, »Kubismus an Bauern zu verkaufen«.
1920: Präsident der »dadaistischen Weltzentrale« in Amsterdam.
1936: Avantgarde-Photograph in Paris.
1939: KZ in Frankreich, zwischen Gestapo, Vichy und Résistance.
1941: mit dem letzten Frachtdampfer nach New York entkommen; Star-Photograph im »Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten« für Vogue und Harper's Bazar.
1969: Tod in Rom.

Blumenfeld hinterläßt eine Autobiographie, so virtuos, witzig und gnadenlos, daß sie keinen Verleger findet. Die Lektoren »gähnen«, wie Alfred Andersch sagte, »im falschen Moment«, oder finden das Buch abstoßend, geschmacklos, obszön. Kein Wunder bei dieser Mischung aus Chuzpe, Hohn, Ekel und Selbstironie. Bösartig und munter fällt Blumenfeld über die Deutschen, die Franzosen, die Holländer, die Juden, die Amerikaner und nicht zuletzt über sich selber her. Dafür bürgt schon der Titel des Buches, dessen Fazit lautet: Die Welt ist »eine Geltungsbedürfnisanstalt«. Blumenfelds Text erscheint hier zum ersten Mal ungekürzt und unter seinem Originaltitel. Eine reiche Auswahl aus den sensationellen Photos des Autors illustriert den Band.


Xenophon: Sokratische Denkwürdigkeiten

Eichborn 1998, AB 163, 275 S.

Philosophengeflüster aus dem alten Athen.

Xenophons Schriften über Sokrates haben in der literatur- und philosophiegeschichtlichen Diskussion der letzten 150 Jahre eine ungeheure Rolle gespielt. In Deutschland war es vor allem Wieland, der sie als glänzender Übersetzer und Kommentator bekanntgemacht hat. Seine Bearbeitung ist allerdings seit ihrer ersten Publikation im Attischen Museum (1799 bis 1802) nie wieder gedruckt worden.

Xenophons Erinnerungen an Sokrates, zu dessen Freundeskreis er ohne Zweifel gehört hat, bezaubern durch ihre Intimität und Frische, auch wenn die Forschung längst erkannt hat, daß man sie nicht für bare Münze nehmen darf. Zuweilen respektlos bis zur Karikatur, lassen sie die hohen Geister jedenfalls recht lebendig werden.

Wer lebt angenehmer, die Regierenden oder die Regierten? Ist der Philosoph nicht der größte Meister in der Kunst, wie ein armer Teufel zu leben? Worauf soll ein Mann stolz sein, auf seine Schönheit, seinen Witz, seine Armut? Am Ende dieses ausgelassenen Streits rühmt Sokrates sich nicht etwa seiner Weisheit, sondern seiner Kupplerkünste.

Xenophon ist zwischen 430 und 425 in Athen geboten und nach 355, wahrscheinlich in Korinth, gestorben. Neben der Anabasis und einer Griechischen Geschichte ist von ihm eine Reihe von kleineren werken überliefert.


Petra Morsbach: Opernroman

Eichborn 1998, AB 164, 351 S.

Die Oper - das Kraftwerk der Gefühle.

Ob Opernliebhaber Romane lesen, und ob Romanleser in die Oper geben, das weiß niemand. Vielleicht hat uns deswegen auch keiner erzählt, wie es in dieser bizarren, zugleich disziplinierten und chaotischen Welt zugeht, die ihre eigenen Götter und Sklaven, Lieblinge und Monster hat.

Das ist auch gar nicht so einfach; denn der Erzähler müßte schon über eine Menge Kenntnisse verfügen, um so ein schönes Irrenhaus von innen zu schildern. Petra Morsbach hat ein paar Jahre lang als Regisseurin an einer Opernbühne gearbeitet. Sie weiß Bescheid.

Ihr Opernroman macht uns nicht nur mit den betörenden, ausgeflippten, rührenden Menschen bekannt, die in diesem vergoldeten Käfig leben von der Diva bis zum Beleuchter, vom Repetitor bis zum Intendanten; ganz nebenbei weiht sie uns auch in die Geheimnisse der Produktion ein, an Hand von fünf Inszenierungen, in denen die Opernarbeiter triumphieren, an denen sie verzweifeln, für die sie sich aufreiben. Der Roman beginnt mit Tristan und Isolde und endet noch lange nicht mit der Fledermaus.

Petra Morsbach, 1956, geboren, studierte in München und Leningrad, hat zehn Jahre lang als Dramaturgin gearbeitet und Regie geführt und lebt heute in Pöcking am Starnberger See. Als Autorin hat sie mit einem großen Rußland-Epos debütiert: "Plötzlich ist es Abend", 1995 im Eichbom Verlag erschienen, wurde zu einem großen Erfolg. Mit diesem Roman hat Petra Morsbach bewiesen, daß sie ein umfangreiches Personal mit Witz und Zärtlichkeit bewegen kann, ohne sich im Gewimmel zu verlieren. Diese Fähigkeit kommt ihr auch auf der Hinterbühne des Musiktheaters zugute.


Gilbert Keith Chesterton: Ketzer. Eine Verteidigung der Orthodoxie gegen ihre Verächter

Eichborn 1998, AB 165, 295 S.

Ein Jongleur in der Kathedrale.

Reaktionär? Aber natürlich war Chesterton ein Reaktionär! »Mit zwölf Jahren Heide, mit sechzehn Agnostiker, mit dreißig Katholik«, und mit sechzig schwärmt er fürs Mittelalter.

Die Erbsünde hält er für eine Selbstverständlichkeit und den Menschen für das einzige Tier, das Dogmen herstellt. »Bäume«, behauptet er, »haben keine Dogmen. Steckrüben lassen alle Meinungen gelten.« Und »jede Wahrheit verwandelt sich in ein Dogma, sobald sie angegriffen wird. Und so definiert jeder Zweifler eine Religion«.

Aber was Chesterton an der Orthodoxie anzog, war keineswegs die Sicherheit, die sie bietet. Er witterte den Skandal, den sie, sobald man sie ernst nimmt, für den normalen Menschenverstand bedeutet. Damit verglichen wirken die meisten Ketzereien harmlos. Die materialistische Vernunft, vertreten durch seine Zeitgenossen H.G. Wells und Bernard Shaw, sieht tatsächlich ziemlich alt aus, wenn ein frommer Freigeist wie Chesterton gegen sie antritt.

Doch auch dem Biedersinn des katholischen Milieus waren seine Husarenritte nie geheuer. Das lag auch an den Waffen, die er in den Dienst des Glaubens stellte. Selten genug für einen Verteidiger der Religion, verließ er sich vor allem auf das Paradox, die Provokation und den Humor; und mit der Heuchelei, dem Rassismus und der Geldgier hatte er nie etwas im Sinn.

G. K. Chesterton, 1874 in London geboten und 1936 ebendort gestorben, war Zigarrenraucher und Dialektiker, Vielschreiber und Gourmand. Unter seinen hundert Büchem sind die bekanntesten "Der Mann, der Donnerstag war" (1908) und "Die Geschichten von Pater Brown" (1911 bis 1935).


Margaret Visser: Mahlzeit!

Eichborn 1998, AB 166, 323 S.

Topfguckerei als fröhliche Wissenschaft.

Wozu Zwiebeln? Warum reizen sie die Augen? Warum sind manche Sorten rot? Woher rührt ihre Heilwirkung? Stimmt es, daß die Arbeiter, die die Pyramiden erbauten, sich hauptsächlich von Zwiebeln ernährten? Warum ist diese Zutat in manchen Kulturen überaus beliebt, in anderen dagegen extrem verpönt?

Solche Fragen stellt Margaret Visser. Die Anthropologie des Essens ist ein unendliches Thema. Deshalb griff die Autorin zu einer Methode, die verblüffend einfach anmutet. Sie wählte ein Menü, das überall auf der Welt gang und gäbe ist:

Vorspeise: Maiskolben mit Salz und Butter
Hauptgericht: Hühnchen mit Reis
Grüner Salat, angemacht mit Olivenöl und Zitrone
Dessert: Eiskrem

Neun Zutaten, neun Kapitel. Jedesmal wird die Geschichte eines Lebensmittels untersucht, die Traditionen, Sitten und Tabus, die sich mit ihm verbinden, seine biologischen, chemischen, lebensmitteltechnischen und ökonomischen Aspekte.

Auf diese Weise entsteht eine atemberaubend kenntnisreiche und höchst amüsante Enzyklopädie des Essens. Margaret Vissers Buch überrascht uns gerade deshalb, weil es von unseren Alltagserfahrungen ausgeht. Es zeigt, daß mit der schlichtesten Mahlzeit, die wir zu uns nehmen, ein abenteuerliches Stück Menschheitsgeschichte auf den Tisch kommt.

Margaret Visser, 1940 in Südafrika geboren, ging in Sambia und Simbabwe zur Schule, studierte in Paris und lebte in Bagdad, bis sie sich mit ihrem Mann in Toronto niederließ. Sie lehrt dort an der York Universität. Ihr Hauptinteresse gilt der Anthropologie des Alltagslebens.


Mavis Gallant: Transitgäste

Eichborn 1998, AB 167, 423 S.

Unscheinbare Helden, extreme Biographien.

Eine Kanadierin in Paris: man trifft sie, wenn man Glück hat, im Café Select am Montparnasse. Ihr Blick streift über die vorbeiflutende Menge. Haften bleibt er an denen, die entkommen und gestrandet sind. Ihre Heldinnen und Helden haben keine Triumphe zu feiern. Allein, daß sie überlebt haben, ist heroisch.

Die achtzigjährige Magdalena aus Budapest auf dem Totenbett, Monsieur Wroblewski, Senor Pinedo, Ernst, der Spätheimkehrer: Es sind geheimnisvolle Personen, die man schwer vergißt: einsame Leute mit brüchigen Biographien, Migranten, Schauspielerinnen ohne Engagement, freiwillige und unfreiwillige Flüchtlinge. Mavis Gallant erzählt von ihren Dramen, Enttäuschungen, Gerüchten, Mißverständnissen, Hoffnungen und vertanen Chancen. Ihre Prosa ist unprätentiös, aber von äußerster Genauigkeit, und erst nach einer Weile merkt man, daß sie leuchtet.

Man kann diese Geschichten als Tragikomödien lesen, aber im Ganzen bilden sie eine intime Chronik, die von den dreißiger Jahren bis in die Gegenwart reicht. Sie leuchten die Innenseite der europäischen Katastrophen aus. Mussolinis Italien, das Exil, die deutsche Okkupation, das Spanien der Falange, den Kalten Krieg und seine Folgen. Nicht die großen Ereignisse sind ihr Thema, sondem die unscheinbaren Verheerungen, die sie angerichtet haben und für die es keine Heilung gibt.

Mavis Gallant ist 1922 in Montreal geboren. Sie arbeitete dort als Reporterin. 1950 gab sie den Journalismus auf und zog nach Paris, wo sie bis heute lebt. Mehr als 120 Geschichten hat sie seitdem veröffentlicht, die meisten im »New Yorker«. Ihr erzählerisches Werk hat sie zusammengefaßt in »The Collected Stories of Mavis Gallant«, einem umfangreichen Band, der 1996 in New York und Toronto erschienen ist.


Iwan Gontscharow: Für den Zaren um die halbe Welt

Eichborn 1998, AB 168, 355 S.

Oblomow als Weltumsegler.

»Gnädiger Herr, fahren Sie nicht übers Meer, um Gottes willen !« Mit diesen Worten flehte der Diener Filipp im Oktober 1852 seinen Herrn an, einen hypochondrischen Sonderling und verzagten Junggesellen, dem seine Freunde den Spitznamen »Prinz der Faulheit« verliehen hatten.

Ausgerechnet dieser Hypochonder und Sonderling brach nun zu einer gefährlichen Reise auf, die ihn über Südafrika in den Fernen Osten und in die sibirische Wildnis führen sollte. Cholera an Bord, ertrunkene Matrosen, Skorbut, ein gebrochener Großmast, Flauten und Taifune: So sahen die Risiken und Strapazen der damaligen Segelschiffahrt aus.

Aber Gontscharows Bericht ist mehr als ein Seemannsgarn. Hier schildert ein großer Schriftsteller eine verschwundene Welt. Seine Darstellung des Kulturkonflikts mit den Japanern, die sich der gewaltsamen Öffnung ihres Inselreichs widersetzten, ist ein Glanzstück grausamer Komik; ebenso scharf sieht der Autor die Niederlassungen der Weißen in Singapur und Hongkong und die russische Kolonisation in Sibirien.

Für seinen Auftraggeber, den Zaren, hat Gontscharow einen offiziösen Reisebericht verfaßt. Erst 1935 wurden die privaten Briefe veröffentlicht, die er seinen Freunden geschrieben hat. Hier nimmt er kein Blatt vor den Mund; er klagt und schimpft und erzählt im unbefangensten Ton von seinen haarsträubenden Abenteuern.

Erich Müller-Kamp hat Auszüge aus der »Fregatte Pallas« mit diesen Briefen zu einem kohärenten Ganzen montiert, eine Einleitung, ein Nachwort und ein Personenregister beigesteuert und eine vorbildliche Edition dieses Reiseklassikers geliefert.

Iwan Alexandrowitsch Gontscharow, der Autor des genialen »Oblomow« aus dem Jahr 1859, ist 1812 in Simbirsk an der Wolga geboren und 1891 in St. Petersburg gestorben. Seine weiteren Werke sind: »Eine alltägliche Geschichte« (1847); »Die Schlucht« (1869); »Eine Million Qualen« (1872). Eine Gesamtausgabe seiner Schriften erschien zuletzt 1978 in Moskau.


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© Ralf 2006