AB - Die Andere Bibliothek 1999


William Alexander Gerhardie: Vergeblichkeit
Denis Diderot: Jakob und sein Herr
Uwe Schmitt: Tokyo Tango
Georg Brunold u.a.: Fernstenliebe
Ulrich Enzensberger: Herwegh
Saul K. Padover: Lügendetektor
Czeslaw Milosz: Das Tal der Issa
Nell Kimball: Memoiren aus dem Bordell
Ryszard Kapuscinski: Afrikanisches Fieber
Heinrich Breloer: Geheime Welten
Sigurd Mathiesen: Das unruhige Haus
Eric Hoffer: Der Fanatiker und andere Schriften


William Alexander Gerhardie: Vergeblichkeit

Eichborn 1999, AB 169, 287 S.

Ein Engländer in Tschechows Jacke.

»Es lebt, es ist warm; man kann es weglegen, und es atmet weiter«, schrieb Katherine Mansfield, eine der ersten Leserinnen, über dieses Buch. Das kann man wohl sagen. 1922, als es erschien, war der Autor mit 27 Jahren eben erst aus Sibirien, wo er der britischen Militärmission angehörte, zurückgekehrt, und sein Roman war ein Geheimtip. Ein Außenseiter ist Gerhardie geblieben, aber »Vergeblichkeit« ist zu einem stillen Klassiker geworden; bis heute hat das Buch wohl mehr als zwanzig Neuauflagen erlebt.

So federleicht hat über die Katastrophen dieses Jahrhunderts selten einer geschrieben. Die Handlung, eine vergiftete Liebesgeschichte, spielt sich vor dem Hintergrund des russischen Desasters ab. Revolution, Bürgerkrieg, wirre Interventionen der Großmächte, Zusammenbruch eines Imperiums von St. Petersburg bis Wladiwostok. Der englische Offizier aus gutem Hause wird in einen Strudel der Emotionen gerissen. Wehrlos sieht er sich einer ebenso unerträglichen wie unwiderstehlichen russischen Familie ausgeliefert.

Es sind die Motive Tschechows, es ist sein Ton, es ist sogar sein wunderbares Können, das diesem exzentrischen jungen Ausländer zuzufliegen scheint. Eine brutale Welt, mit den zartesten Nuancen geschildert; Aussichtslosigkeit, als Komik getarnt; hintergründige Gefühle ohne eine Spur von Sentimentalität.

»Das Ich in dem Buch bin nicht ich« - dieses Motto stellt Gerhardie seiner Geschichte voran. Das ist nur die halbe Wahrheit. Er war da, er hat sich in ein hoffnungsloses Spiel verwickeln lassen, und als Autor hat er es mit Liebe, Grausamkeit und Ironie gemeistert.

William Alexander Gerhardie, als Sohn englischer Eltern 1895 in St. Petersburg geboren, war dort Militärattaché an der britischen Botschaft und ging 1920 mit der gescheiterten Militärmission der Alliierten nach Sibirien. Später studierte er in Oxford und arbeitete für die BBC: Außer »Futility« schrieb er Romane wie »The Polyglots« (1925), »Resurrection« (1943) und »Of Mortal Love« (1936) und eine Studie über »Anton Chekhov« (1923). Er starb 1977 in London.


Denis Diderot: Jakob und sein Herr

Eichborn 1999, AB 170, 447 S.

»Es ist klar wie der Tag, daß ich hier keinen Roman schreibe.«

Diderots Meisterwerk darf in der Anderen Bibliothek nicht fehlen. Es anzupreisen ist überflüssig; Lessing, Hegel und Nietzsche haben längst das Nötige darüber gesagt, und Goethe meinte: »Diderot ist ein einzig Individuum; wer an ihm oder an seinen Sachen mäkelt, ist ein Philister - und deren sind Legionen.« Ja, wenn unsere Philosophen nur so gut schreiben und unsere Schriftsteller so gut denken könnten wie er!

Nach wie vor ist es die erste deutscheÜbersetzung von Mylius, die Jakob und seinen Herrn am besten über den Rhein gebracht hat. In ihrer originalen Gestalt ist sie auf dem Büchermarkt längst nicht mehr zu finden. Das liegt am Eifer der Dudengläubigen und der Schriftreformer, die das Bearbeiten und Normalisieren nicht lassen können. Übrigens weist die klassische Übersetzung einige Lücken auf. Daran ist die Zensur schuld, die für eine Textüberlieferung voller Tücken sorgte.

Horst Günther hat die fehlenden Stellen eingefügt, auch einen Essay und viele Sacherläuterungen beigesteuert. Die Ausgabe ist mit Kupfern aus der »Encyclopédie« geschmückt. Außerdem kann sie mit den Memoiren aufwarten, die Diderots Tochter verfaßt hat - ein unentbehrliches Zeugnis zu seiner Biographie, das in deutscher Sprache noch nicht zu lesen war.

Denis Diderot ist 1713 in Langres geboren; er starb 1784 in Paris. In der Anderen Bibliothek ist 1988 »Die Geschichte beider Indien« erschienen, die er zusammen mit Guillaume Raynal verfaßt hat. 1989 folgten Diderots »Briefe an Sophie«.


Uwe Schmitt: Tokyo Tango

Eichborn 1999, AB 171, 323 S.

Asiens größte Wirtschaftsmacht ist in die schwerste ökonomische, politische, psychologische Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs geraten. Aber ist es Japan, was da schwankt, taumelt, kippt oder ist es das Bild, das wir uns von Japan machen? Von der Ankunft der ersten europäischen Händler und Missionare im Mittelalter bis auf den heutigen Tag schillert dieses Bild zwischen Überhöhung und Geringschätzung. Man hat Japan beneidet und gefürchtet, bewundert und gehaßt. Gibt es einen Ausweg aus solchen Ambivalenzen? Uwe Schmitt hat sich den radikalen Widersprüchen ausgesetzt, die das Land selber prägen. Sein Buch führt von der prachtvollen Kaiserkrönung und dem Wahn der »bubble economy« bis in den Korruptionssumpf der Politik. Aber er beschränkt sich nicht auf die großen Dramen, welche die Schlagzeilen beherrschen. Oft erweisen sich die alltäglichen Schauplätze als ergiebiger: Kindergärten, Gerichtssäle, Bars, Universitäten, Freizeitparks und Badehäuser. Der Leser begegnet unvergleichlicher Anmut, Loyalität und menschlicher Größe, aber auch fühlloser Häßlichkeit und den Gewaltphantasien eines Volkes, das »zur Sanftmut gezwungen« wurde. Nicht zuletzt stellt »Tokyo Tango« den Selbstversuch eines Europäers dar, der sich auf abenteuerliche Weise in Frage gestellt sieht. Nirgendwo auf der Weit kann man heute einen vergleichbaren Kulturschock erleben. Uwe Schmitt hat keinen neutralen Reiseführer geschrieben, sondern eine Geschichte, die von mächtigen Anziehungs- und Abstoßungskräften handelt. Das ist es, was sein Buch so lebendig macht.

Uwe Schmitt, 1955 in Frankfurt am Main geboren, war professioneller Jazzmusiker, bevor er 1985 in die Redaktion der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« eintrat. Von 1990 bis 1997 war er Ostasienkorrespondent dieser Zeitung mit Sitz in Tokyo. 1995 gewann er den Joseph-Roth-Preis für internationale Publizistik.


Georg Brunold, Klaus Hart, R. Kyle Hörst: Fernstenliebe. Ehen zwischen den Kontinenten

Eichborn 1999, AB 172, 311 S.

Von den anderen Farben der Liebe.

Allein in Deutschland müssen es Hunderttausende sein, und in Europa sind es vermutlich Millionen: Paare, die über alle Kulturgrenzen hinweg zueinander gefunden haben. Sonderbar, wie wenig man über sie weiß. Fast könnte man glauben, daß das Thema tabuisiert ist, weil es so oder so unter dem Verdacht des Rassismus steht. Dabei geht es hier zuallerletzt um den vulgären Sex-Tourismus, von dem die Magazine schaudernd schwärmen.

Es sind Liebesgescbichten der dritten Art, Abenteuer mit hohem Einsatz, Flughafenehen, leidenschaftliche Kulturüberschreitungen und Konflikte im Alltag, auf den Ämtern und im Bett. Es geht um Glücksverbeißungen, Ambivalenzen, Fluchtversuche, um Entdeckungsreisen ins Innere, um Verstrickungen, Gefahren, Erlösungen...

Wer sie schildert, begibt sich auf einen schmalen Grat zwischen Intimität und Indiskretion, und er braucht Kühnheit, Takt und einen langen Atem. Die drei Autoren dieses Bandes haben, jeder für sich, eine eigene literarische Form gefunden, irgendwo in einem unerforschten Terrain zwischen Autobiographie, Reportage und Reflexion.

Diese Berichte sind spannend, weil sie von Menschen handeln, die die Spannungen dieser Welt nicht nur rezensieren, sondern am eigenen Leib austragen.

Georg Brunold, 1953 in Arosa geboren, hat sechs Jahre in Afrika gelebt und arbeitet heute als Redakteur der Zeitschrift »du« in Zürich; er hat, über seinen eigenen Beitrag hinaus, das Buch zusammengestellt und eingeleitet. In der Anderen Bibliothek sind zwei Bücher von ihm erschienen: »Nilfieber« (1993) und »Afrika gibt es nicht« (1994).

Klaus Hart, geboren 1949 in Oldisleben, lebt seit 1986 als Journalist und Autor in Rio de Janeiro.

R. Kyle Hörst, geboren 1957 in Pennsylvania, war für die UNO und für Hilfsorganisationen in Vietnam tätig und lebt heute als Publizist, Dokumentarfilmer und Politikberater in Clifton, Virginia.


Ulrich Enzensberger: Herwegh. Ein Heldenleben

Eichborn 1999, AB 173, 399 S.

Agitprop als Tragikomödie.

Georg Herwegh (1817 bis 1875): Glückspilz, liebenswürdiger Narr, Tagedieb, Vaterlandsverräter, Wirrkopf und Deutschlands erster politischer Dichter - seiner soll hier gedacht werden. Er zweifelte keinen Augenblick an seiner göttlichen Sendung, glaubte an die Geste, an Zauberformel und Zaubertanz. Unerschütterlicher Sänger: »Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.«

Er ist ziemlich vergessen, aber zu Lebzeiten war er berühmt und berüchtigt: der deutsche Star 1841, der Buhmann des Jahres 1848. Vertauschte die Feder mit dem Schwert und rettete sich im letzten Moment. Immer wieder Unperson, immer wieder in den Schlagzeilen. Schmachtende Damenkränzchen, Spottfigur der Bänkelsänger, ewiger Emigrant, Freund von Marx, Bakunin, Wagner, Liszt, Herzen und tutti quanti...

Veitstänze, Skandale, eine Audienz beim König, die Heirat mit einer reichen Jüdin, Duellforderungen, Orgien, brotlose Jahrzehnte. Im Jahre 1866 kehrt Herwegh nach Deutschland zurück, schimpft auf Bismarcks Reichsgründung und verscherzt sich die Sympathien seiner letzten Anhänger.

Er verkörpert vieles aus der Geschichte der deutschen Linken, vor allem aber die Figur, die er erfunden hat: den »engagierten Dichter«, seine Glorie, seine Verbitterung und seine Komik.

Die DDR-Germanistik hat Herweghs Heldenleben blankgeputzt. Diese neue Biographie stellt es zum ersten Mal in seiner ganzen Ambivalenz auf Grund zahlreicher, teilweise neu erschlossener Quellen dar.

Ulrich Enzensberger, 1944 in Wassertrüdingen geboren, lebt in Berlin.

Veröffentlichungen: »Auferstanden über alles« (Berlin 1986); »Georg Forster. Ein Leben in Scherben« (Band 139 der Anderen Bibliothek, Frankfurt am Main 1996); »Das Brennglas« (mit Otto Rosenberg, Frankfurt am Main 1998).


Saul K. Padover: Lügendetektor. Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45

Eichborn 1999, AB 174, 339 S.

Ein Ethnologe der deutschen Katastrophe.

Als die amerikanischen Truppen im Oktober 1944 von Belgien aus nach Deutschland vorstießen, folgte den ersten Panzern ein unbewaffneter Offizier, der perfekt Deutsch sprach. Sein Auftrag war es zu erforschen, was in den Köpfen der Besiegten vorging. »Ich komme mir vor wie ein Ethnologe«, sagte er sich, »der in das Gebiet eines unbekannten Stammes eindringt.«

Seine Absicht war es nicht in erster Linie, die Nazis zu entlarven. Das war nicht nötig. Den kollektiven Wahn der Deutschen betrachtet er mit erstaunlicher Sachlichkeit. Dabei kam ihm zugute, daß die Deutschen noch keine Zeit gefunden hatten, sich komplizierte Ausreden zurechtzulegen. Die Zeit der Verdrängungen und Deckerinnerungen war noch nicht gekommen.

Seine Probanden waren vielfältig. Von der Bauerntochter bis zum Industriellen, vom Bischof bis zum Zwangsarbeiter, vom Nazibonzen bis zum kommunistischen Arbeiter hat er keine Schicht ausgelassen. Die Auskünfte zeugen von Mut und von kollektiver Depression, von Selbstmitleid und unbelehrbarer Arroganz.

Auch von den politischen Auseinandersetzungen innerhalb der Militärregierung berichtet Padover und von den ersten Regungen einer deutschen Selbstverwaltung. Sein Bericht war einflußreich. Eisenhower hat sein frühes Plädoyer für eine zukunftsorientierte Deutschlandpolitik zu Rate gezogen und beherzigt.

Es dürfte kein Zufall sein, daß diese wichtige Quelle nie ins Deutsche übersetzt worden ist. Auch nach einem halben Jahrhundert hat Padovers Bericht von seiner Brisanz nichts verloren.

Saul K. Padover wurde 1905 als Sohn jüdischer Eltern in Wien geboren. 1920 wanderte er in die USA aus, studierte in Yale und in Chicago, wurde 1938 persönlicher Referent des Innenministers und ging 1943 zur Abteilung für psychologische Kriegsführung nach London. Er hat zahlreiche historische Biographien veröffentlicht. Nach dem Krieg lehrte er an der New School for Social Research in New York. 1981 ist er dort, halb vergessen, gestorben.


Czeslaw Milosz: Das Tal der Issa

Eichborn 1999, AB 175, 355 S.

Ein verlorenes Paradies in den litauischen Wäldern. Dieses Buch zeugt von einer untergegangenen Welt. Die Issa ist ein dunkler Fluß an der alten polnisch-litauiscben Grenze. Ihr Tal liegt in einer Urlandschaft, in der noch Bären und Elche, Schlangen und Wölfe leben. Die Außenwelt, heißt es, »verhüllt der Nebel«.

Hier verbringt Thomas Dilbin, der Doppelgänger des Autors, im Herrenbaus seines Großvaters eine ebenso leuchtende wie unheimliche Kindheit. Der nervöse, übersensible Junge erfährt und erleidet seine Éducation sentimentale in einer vormodemen Gesellschaft mit heidnischen Zügen. Man geht auf die Jagd, webt seine Kleider und zieht seine Kerzen selber. Aber die Idylle hat einen doppelten Boden. »Die Besonderheit des Tals liegt in der Zahl seiner Teufel. Sie ist dort größer als anderswo.« Poltergeister, Exzentriker, Selbstmörderinnen und Brandstifter bevölkern die Dörfer, und der Gutsherrschaft droht der Untergang. Entlaufene Soldaten und Hungerflüchtlinge tauchen als Boten des fernen Weltkriegs und der nahen Revolution auf.

Mit dreizehn Jahren wird Thomas aus seinem archaischen Paradies vertrieben. Viele Jahrzehnte später wird sich Milosz im Exil seiner Jugend erinnern, mit einer Tiefenschärfe, die nur einem großen Dichter gegeben ist.

Czesław Miłosz, als Sohn polnischer Eltern in Setainiau im damaligen Litauen geboren, emigrierte 1951 nach Frankreich und lebt seit 1956 in den USA, wo er heute noch in Berkeley lehrt. Berühmt wurde er durch seinen hellsichtigen Essay über den Kommunismus, der unter dem Titel »Verführtes Denken« 1953 auf deutsch erschien. Für seine Gedichte: wurde er 1980 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.


Nell Kimball: Memoiren aus dem Bordell

Eichborn 1999, AB 176, 407 S.

»Ein Puff ist ebenso schwer zu leiten wie ein Stahlwerk.«

»Jedes Mädchen sitzt auf einem Vermögen und weiß es nicht«, hat ihre Tante Letty ihr gesagt, als sie acht war. Aufgewachsen ist sie im Bibel-Gürtel des mittleren Westens. Mit vierzehn Jahren lief sie ihrem bigotten Vater davon, und wenig später landete sie in dem biedermeierlichen Etablissement von Zig und Emma Flegel in St. Louis. »Das war mein College«, sagt Nell.

Nach diesem Praktikum ging sie nach San Francisco und nach New Orleans, wo sie es bald zu einem Haus brachte. Von dem Mythos dieser Stadt zehrt heute noch der Tourismus. Storyville mit seiner Musik und seinen Bordellen wurde um die Jahrhundertwende zur Legende.

Nach ihrer großen Zeit in New Orleans (1890 bis 1917) zog sie sich zurück und schrieb ihre Memoiren. Wer darin Pornographisches vermutet, geht fehl. Frei von Schuldgefühlen und Prüderie, schildert sie ihren Lebensweg und ihre Geschäfte mit eigentümlicher Sachlichkeit. »Als Amerikanerin«, sagt sie, »war ich ebenso erfolgreich wie Mr. Carnegie, Mr. Roosevelt und Mrs. Astor.« Ihre Menschenkenntnis hat unter ihrem Erfolg nicht gelitten. Außerordentlich intelligent erzählt sie ihre Geschichte mit dem Brio und aus der Distanz eines Romanciers.

Der Leser wird eingefangen in einem Netz von Polizisten, Musikern, Zuhältern, Politikern, Huren, Geschäftsleuten und Gangstern. Das Bordell erweist sich als eine Welt für sich, die ihre eigenen Spielregeln hat: ein Gegen- und Spiegelbild der Gesellschaft, in der es operiert.

Nell Kimball lebte von 1854 bis 1934. Stephen Longstreet führt als älterer Herr ein beschauliches Dasein in New York. E. J. Bellocqs Biographie liegt im dunkeln; seine enigmatischen Photos aus Storyville wurden erst nach seinem Tod berühmt.


Ryszard Kapuscinski: Afrikanisches Fieber

Eichborn 1999, AB 177, 324 S.

Afrika, wie es stirbt und lebt.

Als Ryszard Kapuściński im Jahre 1958 in Accra, der Hauptstadt von Ghana, landete, konnte er nicht ahnen, daß diese Reise der Beginn einer Passion war, die ihn bis auf den heutigen Tag nicht losgelassen hat. Heute sind seine Reportagen weltberühmt. Damals konnten sich seine polnischen Auftraggeber kaum die paar Dollars fürs Hotel und für den Fernschreiber leisten. Der Autor aß in Straßenküchen, hauste in den Vierteln der Afrikaner, setzte sich Bedingungen aus, die kein westlicher Korrespondent akzeptiert hätte. Diese Nähe zur Realität hat er sich bis heute bewahrt.

Zwar hat er Staatsgründungen, Putsche und Bürgerkriege miterlebt, Machthaber wie Nkrumah, Kenyatta und Idi Amin beobachtet, aber mehr noch hat ihn der Tumult des afrikanischen Alltags interessiert. Mit stoischer Ruhe hat er Schießereien, Malaria-Anfälle, Schikanen und Sandstürme über sich ergehen lassen, doch das Air des Abenteurers liegt ihm nicht. Er interessiert sich für die Leute und gewinnt ihr Vertrauen. Er sieht alles, auch die Korruption, das Verbrechen, die Epidemien und die mörderischen Kriege; er kennt alle Theorien, weiß alles über die Geschichte Afrikas, doch in erster Linie ist er ein Erzähler, der von diesem Kontinent nicht loskommt, weil er leidenschaftlichen Anteil an ihm nimmt.

In diesem lang erwarteten Buch zieht er das Fazit aus einer vierzigjährigen Erfahrung, die wohl kein anderer Europäer aufzuweisen hat.

Ryszard Kapuściński wurde 1932 in Pinsk (heuteWeißrußland) geboren. 1945 nahm er sein Studium in Warschau auf. In den fünfziger Jahren wurde.er als Korrespondent nach Asien und in den Mittleren Osten, später auch nach Lateinamerika und Aftika entsandt. In der Anderen Bibliothek sind drei seiner Bücher erschienen.»Der Fußballkrieg« (1990), »Imperium« (1993) und »König der Könige« (1995); im Eichborn Verlag ferner: »Lapidarium« (1993); »Wieder ein Tag Leben« (1994); »Schah-in-schah« (1997).


Heinrich Breloer: Geheime Welten. Deutsche Tagebücher aus den Jahren 1939 bis 1947

Eichborn 1999, AB 178, 287 S.

Selbstgespräche aus der Nazi-Zeit. An deutschen Lebenszeugnissen aus der Zeit des Nationalsozialismus und des sogenannten »Zusammenbruchs« fehlt es nicht. Aber die meisten stammen von Journalisten, Wissenschaftlern, Schriftstellern, Politikern, die meist als Täter, seltener als Opfer in die Nähe der Macht kamen. Das eigentliche Rätsel, vor dem die Nachgeborenen stehen, ist aber das Verhalten der ganz gewöhnlichen Leute.

Heinrich Breloer hat eine riesige Sammlung von privaten Tagebüchern aus dieser Zeit zusammengetragen. Es sind naive, völlig ungeschützte, oft hilflose Äußerungen, die nie zur Veröffentlichung gedacht waren und die eine Innenansicht vom Geisteszustand der Deutschen bieten, die einzigartig ist.

Hier steht der Backfisch neben dem Firmenchef, der Kirchenmaler neben der Krankenschwester, der Soldat neben der Schneiderin. Liebesgeschichten und politischer Fanatismus, Widerstand und Opportunismus, Lebensgier und Terror bilden hier ein höchst brisantes Amalgam. Die Verfasser nehmen kein Blatt vor den Mund. Unzensiert vertrauen sie ihrem Tagebuch ihre intimsten Gedanken an. »Geliebter Führer«, heißt es da, und ein paar Seiten weiter »Bestie Hitler«. Ein vierzehnjähriger Schüler schreibt 1942 (!) auf sein Heft: »Hier spricht ein erbitterter Feind der nationalsozialistischen Weltbrandstifter«, und noch im Juni 1945 kann sich eine Niedersächsin mit dem Verlust ihres Wahns nicht abfinden und beklagt sich über Hitlers Niederlage mit den Worten: »Hinter all diesem steht der Jude«.

Faksimiles der Tagebücher und private Fotos der Verfasser ergänzen die Texte und geben etwas von der Atmosphäre wieder, in der sie entstanden sind.

Heinrich Breloer, geboren 1942, lebt in Köln. Man könnte ihn einen politischen Detektiv nennen, der immer wieder verborgene Seiten der deutschen Geschichte ans Licht bringt. Seine zahlreichen Dokumentarfilme für das Fernsehen, darunter »Das Beil von Wandsbek«; »Wehner, die unerzählte Geschichte«; »Staatskanzlei« und »Todesspiel«, haben ihn berühmt gemacht.


Sigurd Mathiesen: Das unruhige Haus

Eichborn 1999, AB 179, 391 S.

Ein Wiedergänger aus dem Norden. Es kommt immer noch vor, daß das Werk eines bemerkenswerten Autoren untergeht und erst nach Jahrzehnten wieder auftaucht. Dieses Los war dem norwegischen Erzähler Sigurd Mathiesen beschieden. Niemand kann sich erklären, warum dieser nordische Nachfolger Edgar Allan Poes, ein Zeitgenosse und Seelenverwandter des jungen Hamsun, ein halbes Jahrhundert lang verschwunden war.

Ein gelehrter Landsmann, der in Deutschland Skandinavistik lehrt, hat ihn vor kurzem wiederentdeckt. Auf einmal gilt er nun in seiner Heimat als Bahnbrecher der Moderne. Tatsächlich mischen sich in seinen Geschichten nietzscheanische und frühexpressionistische Motive mit Erinnerungen an die Tradition des Schauerromans. Nervenkrisen, Alkoholdelirien, sadomasochistische Erfahrungen treiben die Helden um. Schon um das Jahr 1900 sind in diesen Texten Vorahnungen vom Untergang Europas im Ersten Weltkrieg zu spüren. Aber auch abgesehen von solchen Hintergründen lassen sich Erzählungen wie »Die schwarze Woche«, »Der große Brand« oder »Der Blutdienstag« auch ganz einfach als spannende Meisterstücke einer phantastischen Literatur des Nordens lesen.

Sigurd Mathiesen, geboren 1871 in Larvik, Südnorwegen, war wie Knut Hamsun ein unruhiger Mensch, der seine Zuflucht in der Kopenhagener Bohème fand und sich in Amerika als Koch und als Farmer durchschlug. Hans Henny Jahnn hat ihn bewundert, doch in seiner Heimat fristete er bis zu seinem Tode im Jahr 1958 ein obskures Dasein in der Provinz.


Eric Hoffer: Der Fanatiker und andere Schriften

Eichborn 1999, AB 180, 311 S.

Ein Hafenarbeiter als Philosoph. Autodidakten haben einen schlechten Ruf, sie werden meist nicht ganz ernst genommen. Warum eigentlich?

Eric Hoffer, als Kind armer Leute in Kalifornien geboren, ist nie zur Schule gegangen; jahrzehntelang hat er sich als Wanderarbeiter und Stauer in Kalifornien durchgeschlagen. Und doch hat dieser Mann ein paar Bücher geschrieben, um die ihn jeder Politikwissenschaftler beneiden müßte. Die akademische Welt hat ihn nicht zur Kenntnis genommen. Um so schlimmer für sie!

Hannah Arendt war dieser bornierte Hochmut fremd. Sie lernte Hoffer 1955 in Berkeley kennen und schrieb sofort an Jaspers: »Die erste wirkliche Oase erschien in Gestalt eines Hafenarbeiters. Er zeigte mir San Francisco wie ein König. Von dem erzähle ich Ihnen, denn das ist eben doch das beste, was es hier im Lande gibt.«

Hoffers Hauptwerk ist seine Studie über den Fanatiker, die sich heute geradezu prophetisch liest. Von den inneren Beweggründen und Antrieben der Massenbewegungen des letzten Jahrhunderts hat dieser krasse Außenseiter mehr verstanden als die zeitgenössische Forschung. Auch seine Überlegungen zur Rassenfrage, vor über dreißig Jahren niedergeschrieben, haben ihre Aktualität nicht eingebüßt, und :sein Essay über »Die Intellektuellen und die Masse« blamiert so manche Podiumsdiskussion. Dabei kommt dieser Autor ganz ohne den Jargon der Spezialisten aus. Seine Rede ist klar, er schreibt gut, und seine Leser langweilt er nicht.

Ergänzt wird die Auswahl aus Hoffers Schriften durch einen autobiographischen Text von 1983, aus dem man erfährt, wie aus einem Kind, das sich in den Kopf gesetzt hat, selber zu denken, ein politischer Philosoph geworden ist, der uns heute noch zu denken gibt.

Eric Hoffer lebte von 1902 bis 1983. Seine wichtigsten Schriften sind: »The True Believer«, »The Ordeal of Change«, »The Temper of Our Times«, »Working and Thinking on the Waterfront« und »Truth Imagined«.


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© Ralf 2006