Attila Bartis: Die Ruhe

Suhrkamp 2005, 300 S.
OT: A Nyugalom 2001
Aus dem Ungarischen von Agnes Relle

Bartis schreibt über die Hölle einer Mutter-Sohn-Beziehung. Als Ich-Erzähler dient der Sohn: Andor, ein junger Schriftsteller, schreibt nach dem Tod seiner Mutter über die letzten 15 Jahre, die er mit ihr in der gemeinsamen Wohnung bis zu ihrem Ende verbracht hat.

Rebeka Weér, die Mutter, ist eine erfolgreiche und gefeierte Schauspielerin in Budapest. Nachdem sich ihre Tochter Judit, eine begabte Geigerin, in den Westen abgesetzt hat, um sich von der Mutter zu befreien und dort eine Karriere zu beginnen, ändert sich das Leben der Rebeka Weér abrupt: Sie wird von den Behörden unter Druck gesetzt, ihre Tochter zur Rückkehr nach Ungarn zu bewegen. Alles scheitert, auch ihr letztes Bemühen, die Tochter für tot zu erklären und ein symbolisches Begräbnis zu arrangieren, hilft nichts - so wie sie früher von der Partei getragen wurde, wird ihre Karriere nun von den Kommunisten beendet. Für die Mutter bricht eine Welt zusammen, sie wird ihre Wohnung die nächsten 15 Jahre bis zu ihrem Tod nicht mehr verlassen.

Der Sohn tröstet sie, er schläft sogar mit ihr und es beginnt eine krankhafte Beziehung in einer Mutter-Sohn-Hölle. Die Mutter überwacht und erdrückt ihn mit ihren Wutausbrüchen, Depressionen und Erniedrigungen, doch er kann sich daraus nicht befreien. Nur außerhalb der Wohnung ist er fähig seine Wut rauszulassen, zu schreien oder sich zu betäuben, sonst aber fügt er sich und kümmert sich um die Mutter, kauft für sie ein usw. Als einziges Mittel, der Mutter zu trotzen, hinterläßt er seine geschrieben Blätter auf dem Schreibtisch, die seinen Widerstand zeigen.

Daneben verliebt sich Andor in Eszter, selbst eine geplagte, lebensmüde Frau, und es entwickelt sich auch dort eine leidenschaftliche aber ebenso zerstörerische Beziehung zwischen den beiden, in der wohl beide Hoffnung und Erlösung zu finden hoffen.

Im Roman sind im Grunde alle Opfer, aber auch gleichzeitg Täter - ich hätte auch "krank" sagen können. Daß der Roman einige Jahre vor der Wende beginnt und danach endet, macht ihn noch nicht zum "Wenderoman", dies ist nur der zeitliche Hintergrund. Was den Roman auszeichnet ist, daß er ohne Schuldzuweisungen auskommt und nicht versucht, platte psychologische Erklärungsversuche zu geben, sondern er schildert einfach, was passiert. Und das ist dann auch das Ungewöhnliche daran, die Kälte, Härte, die spürbar wird. Ich habe selten ein so brutales Buch gelesen, in dem der Haß auf Familienmitglieder (und letztlich auf das Leben) so deutlich wird. Dies drückt sich auch im Schreibstil aus, das Lesen war für mich nicht immer einfach und gerade in der ersten Hälfte mußte ich erstmal durchhalten. Aber gerade in eindrücklichen Szenen oder die gesprochenen Worte - die Dialoge - zeigen, wie tief Wunden zwischen Menschen gerissen werden und Abgründe werden deutlich.
Ob das Buch gefällt oder nicht: es ist auf jeden Fall ein ungewöhnliches, bemerkenswertes Buch.

21.04.2006

© Ralf 2006