Kenah Cusanit: Babel

Hanser Verlag, München 2019, 269 S.

Am 30.04.2019 war Richtfest des Pergamonmuseums in Berlin. Dieses wird renoviert/rekonstruiert, im Grunde die ganze Museumsinsel - wobei der Abschluss der umfangreichen Baumaßnahmen noch Jahre dauern wird, ich lese gerade vom Jahr 2023, frühestens, vielleicht in Richtung 30er Jahre (so viel am Rande). Hier wird aufbewahrt und präsentiert, was Inhalt des Buches von Kenah Cusanits »Babel« ist. Dieser aktuelle Bezug erleichtert und führt ein wenig hin zum Lesen des Buches, in dem es überwiegend um prägende Bauwerke Babylons mit der Prozessionsstraße, Ischtar-Tor, Thronsaalfassade des Königs Nebukadnezar, Turm zu Babel geht, um summerische, babylonische und assyrische Ausgrabungen.

»Babel«, der Titel des Buches von Kenah Cusanit, könnte treffender nicht gewählt sein. Nicht nur, daß sich das Buch um diese Ausgrabungen Babels dreht, ich möchte fast sagen, Babel »ist« das Buch. Die Formulierung ist natürlich völlig verquer und daneben, gibt aber doch in gewisser Weise den Inhalt des Buches wider. Es dreht sich alles um die historischen Ausgrabungen von Robert Koldewey (1855-1925), einem Architekten und einem der wichtigsten Vertretern der vorderasiatischen Archäologie. Er hat seit 1899 in Babel (im heutigen Irak) seine archäologischen Forschungen vorangetrieben und gegraben, im Auftrag und wesentlich finanziert durch die Deutsche Orient-Gesellschaft und Kaiser Wilhelm II. Wer weiß, wo das Interesse von Kenah Cusanit für Altorientalistik stammt, vielleicht ist die Ursache der gleiche Geburtsort von ihr mit dem Koldeweys, beide aus Blankenburg.

Für einen Eindruck aus den ersten Zeilen des Buches: »Koldewey sah aus dem Fenster seines Arbeitszimmers, nirgendwo davorstehend, nichts kartierend. Er hatte sich hingelegt, auf seine Liege, die Teil der Fensterbank war, und beobachtete den Fluss, der an den Ruinen entlangfloss, zog an seiner Pfeife und sah ihn an, als hätte er noch nie einen Fluss angesehen, ohne dabei über etwas anderes, etwas Übergeordnetes nachzudenken: das Schiff, die Fahrt, das Ziel, die Reliefziegel Nebukadnezars, die Reliefziegel des Ischtartors, des Palastes, der Prozessionsstraße, die sich im Hof des Grabungshauses mehrere hundert Kisten hoch stapelten und die von Babylon den Euphrat hinunter über drei Kontinente nach Hamburg, die Elbe, die Havel, die Spree hinauf, bis zum Kupfergraben an den Steg der Berliner Museen zu transportieren waren.«

Darin finden sich schon die wichtigsten Stichworte. Es macht keinen großen Sinn, die Handlung des Buches ansatzweise widerzugeben, im Sinne von Interaktionen von Menschen, Konflikte, Psychologie oder Absichten wichtiger Protagonisten. Natürlich treten diverse Mitarbeiter auf, am wichtigsten  Walter Andrae, aber auch Reuther, Wetzel, Buddensieg und einige andere. Frauen kommen im Buch so gut wie nicht vor, außer daß das Buch auf eine Begegnung mit Gertrude Bell ganz am Schluss hinstrebt. Sie war im ersten Weltkrieg auch beim britischen Geheimdienst. Beeindruckend, wenn man bei Wikipedia über diese Frau nachliest. Über ihr Leben könnte man auch ein Buch schreiben, hat aber im Buch nur einen kurzen Auftritt.

Es ist also ein Buch rund um Koldewey und seine Archäologie. Der Leser erwarte also nicht einen spannenden Abenteuerroman rund um Ausgrabungen oder sonstige Unterhaltungsliteratur, es geht wirklich hauptsächlich um die Archäologie, um Babel, das Vorgehen bei Ausgrabungen, um Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Dem Buch wird teilweise thematische Einseitigkeit, etwas essayistisches vorgeworfen, aber ich denke, ein Leser kann sich doch im Vorfeld über Inhalte informieren, daraus entstehen Erwartungen;  wer bis hierher gelesen hat, weiß das nun also, was kommt. Unabhängig vom Inhalt, Kenah Cusanit kann schreiben und man darf auf das nächste Buch gespannt sein, genauso wie auf das nächste Thema. Wird sie ähnlich vorgehen oder dann ganz was anderes? Man lernt in diesem Buch sehr viel über die vorderasiatische Archäologie, zugehörige Kultur, Grabungsgeschichte, aber nicht nur, auch viel von Fotographie mit der Plattenkamera.

Darüber hinaus geht es um die Kulturpolitik am Ende des 19. Jahrhunderts. Auch die Engländer graben, in der historischen Hauptstadt der Assyrer in Ninive, die Franzosen in der persischen Stadt Susa. Es geht um das Entdecken, Erobern und Besitzen alter Kulturgüter, weltweit. Dies im Wettlauf der Nationen, deshalb schimmert auch der Kolonialismus des 19. Jahrhunderts durch, der Imperialismus damaliger genannter Mächte. Kenah Cusanit liest sich wie ein großes Nachdenken über diese Themen, hauptsächlich über Archälogie, ein großes Reflektieren von Robert Koldewey. Dabei liegt er auf seinen Sofa, hält sich den Bauch, da ihn eine Blinddarmentzündung beschäftigt und blättert immer wieder in Liebermeisters »Grundriss der inneren Medizin«. Wenn sowas auftaucht, entspannt es kurz, man liest eben sehr viel kulturgeschichtliche, beschreibenden Seiten, fast schon Essayistisches. Man sollte sich öffnen, sich einlassen auf die Gedanken der Autorin, denn wie gesagt, die Autorin kann schreiben. Es ist ein Roman, der viele Fakten enthält und dadurch Einblick und Impressionen in die angesprochenen Themen gibt.

Ich selbst habe von diesen Themen keine Ahnung, es war neu, aber großen Spaß hatte ich gegen Ende durchaus, als es in einem Kapitel um Koldeweys Besuch in Berlin ging. Anfang des 20. Jahrhunderts ist Berlin unglaublich gewachsen, es wurde gebaut, erweitert, man möchte fast von wuchern sprechen, immer mehr Menschen kamen in die Stadt. Auch für den Archäologen, der seine Zeit im Zweistromland, in Mesopotamien verbringt, ist dieses pulsierende Berlin eine Herausforderung. Toll von diesen Stimmungen zu lesen, vor allem, weil ich selbst seit Jahren in der Stadt wohne, die Museumsinsel oder Mitte natürlich kenne. Robert Koldewey, eine skurile Figur, ist dann auch beim Kaiser: »Ja, natürlich, sagte der Kaiser. Und nun stelle er sich das mal vor: Berlin als Bewahrerin babylonischer Kultur, der Wiege der Zivilisation, und er in einer Reihe mit Nebukadnezar! So wie dieser in Babylon die Geschichte seiner Vorfahren bewahrt habe, die altbabylonische, die sumerische - jahrtausendealtes Wissen, von deutschen Gelehrten wiederentdeckt und zu neuem Leben erweckt.«

Neben direkten oder indirekten Schilderungen des Denkens um 1900 gibt es auch witzige Passagen. So gibt es einen Briefwechsel mit Walter Andrae: »Oder Andrae hatte seinen Magen kuriert und sich in Bagdad aus Langeweile das Boot angesehen, den Zustand registriert und dann Briefe nach Berlin geschrieben, um sich bei Koldewey zu erkundigen, wie man ein Boot repariert.« In den Briefen finden sich Antworten, die vom Stil in eine völlig andere Richtung gehen als die Betrachtungen sonst, mit viel Witz. Ich habe es als angenehme Auflockerung genommen.

Koldewey sandte seine Fundstücke nach Berlin, ein Großteil konnte aber erst 1927 in über 500 Kisten dorthin transportiert werden. 1930 wurden das Ischtar-Tor, die Prozessionsstraße und die Thronsaalfassade dann im Pergamonmuseum präsentiert. Er starb allerdings schon 1925.


© Ralf 2019