Charles Dickens: Oliver Twist

Zweitausendeins 2003 (Meyrink-Übersetzung)
Erstausgabe 1837

Den Text gibt es übrigens auch online in englisch oder deutsch

Im Grunde gehört das Buch gar nicht hierher, denn jeder kennt es, Worte dazu sind überflüssig - und doch ist es immer wieder schön, sowas gefälliges zu lesen, nicht nur Dickens, ebenso Jane Austen und andere. Warum also nicht kurz erwähnen und daran erinnern...

Oliver wächst im Armenhaus einer Kleinstadt unter kläglichen Bedingungen auf. Das Armenhaus verkauft ihn in die Lehre, von der Oliver wegen seines nicht mehr auszuhaltenden Elends irgendwann flüchtet und als Kind in London eintrifft. In den Gassen der Arbeitsviertel gerät er in die Gewalt des jüdischen Hehlers Fagin und wird als Helfer bei einem Einbruch eingespannt, wo er letzlich angeschossen wird. Er wird von den fürsorglichen Besitzern gefunden, gepflegt und vor der Polizei geschützt - hier findet er zum zweiten mal Fürsorge und Liebe, die er in seinem bisherigen Leben entbehren mußte. Langsam enthüllt sich Olivers Schicksal: er ist eigentlich wohlhabender Herkunft und hat einen Halbbruder, genannt Monks, der das Erbe unterschlagen und Oliver mit Hilfe von Fagin in Verbrechen verwickeln wollte. Monks wird mit Hilfe von Mr. Brownlow letzlich überführt und am Ende fügt sich alles zum Guten.

Es war mein zweiter Roman von Dickens, nach Nikolas Nickelby. Schön an Dickens ist für mich der einfache, linear laufende Erzählstrang und die simple erzählende Sprache des 19. Jh. - vorrausgesetzt, man langweilt sich darüber nicht (ich mag das machmal). Allerdings hatte ich bis zur Hälfte das Gefühl eines Jugendbuches, was sich so bei Nikolas Nickelby nicht eingestellt hatte, deshalb ein kleiner Abschlag. Trotzdem hat es mich dann gefangen genommen, sowohl durch Spannung, ständige Wendungen und weil ständig etwas passiert. Auch immer wieder beeindruckend die geschilderte Armut und das Elend in der Gesellschaft. Man darf sich bei Dickens nur nicht stören an überzogenen Schilderungen der Kontraste zwischen Arm und Reich, Bösartigkeit und Edelmut. Wenig überzeugend deshalb der Charakter Olivers, der in Anbetracht seines Lebenslaufs wohl kaum einem in bürgerlichem Wohlstand aufgewachsenen Jungen gleichen würde. Für mich also nicht der beste Dickens, aber bestimmt nicht der letzte.



Hier ein kurzer Auszug: Olivers Geburt
"Obwohl ich nicht behaupten möchte, daß es vielleicht ein glücklicher oder beneidenswerter Umstand wäre, der einem menschlichen Wesen zustoßen könnte, in einem Arbeitshaus geboren zu werden, so schien es doch in diesem besondern Fall für Oliver Twist das Beste, was sich augenblicklich für ihn ereignen konnte. Immerhin war es mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, ihn so weit zu bringen, daß er sich der Aufgabe des Atmens selbst unterzog, und eine Weile lang lag er als kleiner Weltbürger nach Luft schnappend auf einer Wollmatratze, bedenklich hin und her schwankend, ob er sich für diese oder jene Welt entscheiden sollte, wobei sich die Waage beträchtlich mehr für das Jenseits als für das Diesseits neigte. Wäre Oliver in diesem kritischen Zeitabschnitt von besorgten Großmüttern, ängstlichen Tanten, erfahrenen Ammen und Ärzten voll tiefer Weisheit umgeben gewesen, er hätte selbstverständlich die Stunde nicht überlebt. Da jedoch niemand zugegen war als ein armes altes Weib, das überdies infolge des ungewohnten Genusses von Bier sich in ziemlich angeheiterter Stimmung befand, und da auch der Kirchspielarzt die Sache ganz gewohnheitsmäßig behandelte, so focht Oliver seinen Kampf mit der Natur auf eigene Faust aus. Und die Folge davon war, daß er nach kurzem Kampfe atmete, nieste und endlich den Bewohnern des Arbeitshauses die Tatsache kund und zu wissen gab, daß er der Gemeinde eine neue Last aufgebürdet habe - das heißt, entschlossen sein, am Leben zu bleiben. Er erhob zu diesem Zweck ein so lautes Geschrei, wie man es von einem Kind männlichen Geschlechts füglich nur erwarten durfte."

© Ralf 2006