Albrecht Knaus Verlag 2012, 283 S.
Was für ein Buch! Auf wenigen Seiten durchlebt man ein (oder mehrere) Leben durch das ganze 20. Jahrhundert, perönliche Schicksale, Wünsche und Lebensumstände und gleichzeitig ein ganzes Spektrum politischer Systeme. Und dem Leser wirds nicht zu viel, genauso wenig wie oberflächlich.
»Am Abend eines Tages, an dem gestorben wurde, ist längst noch nicht aller Tage Abend.«
Es wird viel gestorben in diesem Roman, wieder gelebt - und doch nur von einer Person. Es geht im Buch um das »Was wäre wenn?«. Welche Konsequenzen hat es für die Hinterbliebenen, wenn jemand stirbt? Kommt die Familie damit zurecht, welche Wende erfährt das Leben durch den Tod? Aber auch für den Toten: was hätte noch werden können, welches Leben kann nicht mehr gelebt werden? Jeder, der schon mal was Schlimmes erlebt hat, kennt den Gedanken »Hätte ich nur..., wäre ich nur eine Minute früher/später, usw.« - und schon würde das Leben der Beteiligten einen anderen Verlauf nehmen.
Jenny Erpenbeck gliedert ihr Buch in 5 Kapitel. Im ersten Kapitel, 1902, lebt das Baby eines Paares nur wenige Monate, dann stirbt es, ein Mädchen jüdischer Herkunft in Galizien. Erpenbeck gelingt es gerade in den ersten Kapiteln wunderbar, das Leben und Umfeld, die Schwierigkeiten und den Alltag zu beschreiben. Der Blick auf die Mutter ebenso wie auf den Vater sorgt dafür, daß man bei beiden erleben kann, wozu der Verlust des Kindes in der Beziehung und auch in deren Leben führt. Sie werden es nicht verkraften, die Beziehung wird zerbrechen, so wie auch die Eltern. Doch nach dem Kapitel kommt ein Intermezzo - es hätte ja auch ganz anders kommen können. Schnell das Fenster aufgerissen, dem Säugling eine Handvoll Schnee auf die Brust, es hätte vielleicht wieder einen Atemzug genommen, das Leben wäre weitergegangen. Oder, oder...
Im nächsten Kapitel hat das Kind also überlebt, es ist zu einer jungen Frau herangewachsen, 1919 in Wien. Bitterböse Armut, Hunger und Tod in der Stadt und wieder stibt sie am Ende des Kapitels. Man hat den Umbruch nach dem ersten Weltkrieg mit der Familie in Wien erlebt. Dann wieder ein Intermezzo und im nächsten Kapitel erleben wir die Frau 1938 in Moskau. Politisch hoch motiviert, Kommunistin, Stalinzeit, Verhaftung, Tod in den Lagern. Nach dem gleichen Muster erleben wir noch das Leben um 1962 in der DDR, nun als 60-Jährige hochgeehrt für ihre Verdienste, ein falscher Schritt, Sturz, Tod. Und nach dem letzten Intermezzo, denn es hätte ja auch eine Kleinigkeit anders sein können, lebt sie als 90-Jährige nach der Wende 1992 an ihrem Ende in einem Heim in Berlin.
Jedes Kapitel also ein gelebtes Leben und dazu aber auch den Ausblick, wie es sonst hätte kommen können. Das mag sich konstruiert anhören, aber es gelingt, jedes Kapitel hat seinen eigenen Charakter, seinen eigenen Ton. Die Schilderung des jüdischen Lebens am Anfang des 20. Jahrhunderts hat einen ganz anderen Klang und von anderer Stimmung durchdrungen als die jeweils weiteren Kapitel. Das Leben der 90jährigen ist langsam, von der Last des Alters geprägt und findet auch wieder seine passende Stimmung. Auch die Intermezzi sind natürlich konstruiert, wie könnte es in diesem Buch anders sein, aber gelungen. Man stört sich nicht daran, nimmt es nicht nur gerne hin, sondern man merkt eben, daß das Leben auch von ganz vielen Zufällen abhängig ist. Ein Lebenslauf ist eben nur in der Rückschau ein konkreter Lauf mit klarer Linie, weil man nur das Geschehene sieht, aber in den entscheidenden Momenten eine Kleinigkeit anders, und schon sieht die Zukunft völlig anders aus, möglicherweise sogar für viele Beteiligte.
Mir war es ein Genuß, das Buch zu lesen. Unangestrengt und neugierig geht man durch die Kapitel mit viel Atmosphäre. Ein Leben in vielen Szenen, mit Wünschen, Hoffnungen, Enttäuschungen und Verlusten, dazu viele (mögliche) Verzweigungen, und ein Panorama des kompletten 20. Jahrhundert mit den Varianten der politischen Systeme wird und präsentiert.
Es wird geliebt und gelitten, so kann das Leben eines Menschen aussehen. Auch die möglichen Verzweigungen, die man im eigenen Leben ja nie (weit) sehen kann, da man nur das Geschehene sieht, nicht das Ungeschehene/Mögliche, werden hier lesend mal durchgespielt, bilden den Reiz dieses Buches. Man sollte das Leben nehmen wie es kommt, man weiß nie, welche Konsequenz der nächste Schritt, der nächste Moment hat, eigenes Handeln, aber auch Zufälle prägen das Leben. Lebe und lese...