Milena Michiko Flašar: Ich nannte ihn Krawatte

Wagenbach Verlag 2012, 140 S.

Die Autorin schreibt über zwei Männer in Japan, die sich auf einer Parkbank treffen und sich langsam kennenlernen, sich (und uns) ihre Geschichte erzählen. Der eine, der 20-jährige Taguchi, wagt erstmals seit zwei Jahren wieder Schritte vor die Tür seines Zimmers bei den Eltern. Sich vor der Welt in die schützenden eigenen vier Wände zurückzuziehen, scheint nach Auskunft Flašars ein zunehmendes Problem junger Menschen in Japan zu sein. Sie werden »Hikikomori« genannt, der Rückzug kann u.U. viele Jahre dauern. Der andere, Ohara, ein älterer Mann um die 50, ist ein Angestellter in Anzug, weißem Hemd, mit Krawatte und Aktentasche - ein »Salaryman«.

Zunächst weiß man nichts über die beiden, doch durch die Regelmäßigkeit der Begegnung kommen sie ganz langsam und vorsichtig ins Gespräch und tauschen sich zunehmend aus. Beide sind zu Außenseitern der modernen, schnellen japanischen Gesellschaft geworden. Leistungs- und Anpassungsdruck, Wahrung des Scheins oder persönliche »Schuld« haben sie dazu gemacht. Es dauert relativ lange, bis man davon erfährt. Milena Michiko Flašar schreibt in einer ganz eigenen Sprache. Kurze, manchmal abgehackte Sätze, stockend, nachdenklich und vorsichtig, wie es tatsächlich auch zu den beiden Männern paßt. Das erzeugt eine eigene Stimmung, die Anteil nehmen läßt am Schicksal der Protagonisten, man läßt ihnen Zeit, sich zu öffnen, ihre Geschichte zu erzählen, spürt ihre Scham.

Der Jüngere, Taguchi, ist aus dem Leben ausgestiegen, weil er einer Freundin nicht beigestanden ist. Als sie gemobbt wurde, hätte er ihr in ihrer Not helfen, ihr beistehen können, die Demütigung zu überwinden, doch er konnte zu dieser Freundschaft nicht stehen, er hat sich gedrückt und sie nahm sich das Leben. Und als ein Freund von ihm die Welt nicht mehr erträgt, sich vor ein Auto wirft, ist dies der Auslöser, sich von der Welt zurückzuziehen. Schuldig fühlt sich auch Ohara, der ältere Angestellte, der nur noch um den Schein zu wahren morgens das Haus verläßt. Die Nachbarn oder seine Frau sollen denken, er ginge zur Arbeit, tatsächlich schämt er sich seiner Arbeitslosigkeit und überbrückt nur die Zeit, die Parkbank ist seine »Mittagspause«. Er hatte einen behinderten Sohn, den er nicht annehmen, lieben konnte und der früh verstarb. Statt dies aufzuarbeiten, mit seiner Frau zu sprechen und auf die Liebe zu vertrauen, schweigt er und baut innerlich große Schuldgefühle auf. Beide verbindet also das Gefühl, im Leben versagt zu haben, im richtigen Moment nicht die Verantwortung getragen, Schuld auf sich geladen zu haben, beide auch Opfer einer schnellen, modernen Industriegesellschaft.

Die Geschichte läuft auf ein schönes Ende hinaus, das Sprechen hilft, die Protagonisten finden aus ihrer Isolation und haben wieder Mut zu handeln. Nun könnte man vermuten, daß das Buch der Gefahr unterliegt, kitschig oder gefühlig zu sein, aber der Autorin gelingt es, dies zu vermeiden. Durch die Sprache und die sich vorsichtig aufbauende Geschichte ist es ein behutsames Buch geworden, dem man nicht vorwerfen kann, gefühlsduselig zu sein. Es entwickelt sich eine wunderbare Atmosphäre und ich erinnere mich, wie ich meiner Buchhändlerin sagte: »Ein beeindruckendes, zartes Buch!«.

© Ralf 2012