Hanser 2012, 365 S.
(OT The Blue Book, 2011)
Aus dem Englischen von Ingo Herzke
Bervor ich über das Buch spreche zuvor kurz ein paar Worte zu meinem letzten Besuch in einer Buchhandlung. Bevor ich den Landen wieder verlassen wollte, fragte ich die Buchhändlerin, was sie mir wohl empfehlen könne. Das erste Buch, nach dem sie griff war eben A.L. Kennedys »Blaue Buch«. Das war für uns ein wunderbarer Aufhänger für ein Gespräch, da wir beide diese Autorin sehr schätzen. Ich lernte sie vor Jahren mit dem Roman »Alles was du brauchst« kennen und es war wunderbar, ich hatte ein neues Lieblingsbuch. Für mich war dies dann Anlaß, A.L. Kennedy weiter zu verfolgen und ich habe mir danach jedes neue Buch zugelegt.
Ihre Bücher sind besonders und speziell. Vielleicht muß man für ihren Stil einen Sinn haben und ihn mögen, mein Eindruck ist zumindest, daß sie polarisiert. So ganz nebenbei: auch Lesungen mit ihr sind immer sehr schön und einen Besuch wert, was vielleicht daran liegen könnte, daß sie gelegentlich mit Stand-up-Comedy auftritt, außerdem hat sie etwas zu sagen. Das heißt, sie ist auch sehr politisch und äußert sich kritisch zu aktuellen Themen in den Zeitungen, nicht nur im Guardian, auch in deutschen Zeitungen konnte ich sie schon lesen.
Nun aber zum Buch, ich darf es schon am Anfang deutlich sagen: Auch das «Blaue Buch» habe ich sehr gerne gelesen. Es ist ein großartiges Buch, intelligent gemacht und sehr gute Literatur. Ihr Thema diesmal: die Liebe.
»Aber hier ist es, das Buch, das du liest. Offensichtlich. Dein Buch - jetzt fängt es an, es ist berührt und aufgeschlagen.... Und natürlich schaust du es an. Deine Augen, deine Lippen sind ihm zugewandt - diese ganze Blässe, all diese Zeichen - du bist so dicht dran; wäre es ein Mensch, könntet ihr euch küssen. Das könnte unvermeidlich sein. Du kannst dich an Zeiten erinnern, als Küssen unvermeidlich war. Du bist schließlich nicht unattraktiv: nicht, wenn die Menschen dich verstehen, wenn sie verstehen, wer du sein kannst.«
Mit diesem Ausschnitt beginnt das »Blaue Buch«. Ich konnte damit erstmal nicht viel anfangen und fand es merkwürdig, mich direkt anspechen zu lassen. Aber gut, es würde sich mit weiterer Lektüre klären. Doch es dauerte einige Zeit, nicht oft, aber es gab weitere solche Passagen, ein Buch im Buch, das sich an den Leser wendet. Als ich dann Kennedys Buch ausgelesen hatte, öffneten sich mir die Augen, nach den entscheidenen letzten Seiten konnte ich plötzlich vieles zuordnen und hatte das Gefühl, wieder von vorne beginnen zu müssen, diesmal mit Kenntnis der Zusammenhänge, um die Stellen, die ich aus Unwissen eher hingenommen als aufgenommen hatte, nun wirklich zu verstehen.
Der Roman erzählt eine siebentägige Schiffsreise von Großbritannien nach New York auf einem Ozeandampfer, wobei die meisten Reisenden, wie man sich das vorstellt, ältere Menschen sind. Aber nicht nur. Die Hauptperson ist Elizabeth Caroline Barber, eine Frau mittleren Alters, die mit ihrem Freund Derek die Reise angetreten hat. Sie sind noch nicht allzu lange zusammen, wohl etwas mehr als ein Jahr. Von Derek hat man eher eine blasse Idee, er scheint nicht wirklich die große Liebe von Beth zu sein, die Zeit der Reise wird er auch eher eine untergeordnete Rolle spielen und überwiegend in der Kabine bleiben, da er seekrank geworden ist und dies nicht in den Griff bekommt, woran Beth nicht ganz unschuldig ist. Trotzdem gibt sie sich Mühe, sich um ihn zu kümmern, zeigt die gute Absicht.
Die zweite Hauptperson jedoch ist Arthur Lockwood. Schon beim Betreten des Schiffes spricht er Beth an und fordert sie auf, sich mit ihm auf ein Zahlenspiel einzulassen. Merkwürdig, denkt man als Leser, ganz schön dreist und eine merkwürdige Gestalt. Es sieht für den Betrachter zwar so aus, als würden die beiden sich zum ersten Mal begegnen, es zeigt sich aber später, daß sie sich sehr gut kennen. Sie waren in der Vergangenheit ein Liebespaar. In Rückblenden erfährt man von Arthurs Leben und ihrer gemeinsamen Zeit. Es war eine große Liebe, die trotzdem gescheitert ist. Neben der Liebe geht es auch um Täuschung - Täuschung des Partners, von sich selbst, von anderen, das eine Mal ist es Selbstbetrug, das andere Mal »Erwerbsleben«.
Beth ist die Tochter eines Zauberkünstlers und ergänzte sich sehr gut mit Arthur, der ebenso vom Täuschen lebt, vom Auftreten als Medium vor Publikum. Sie haben eine komplexe Sprache für sich entwickelt, um unbemerkt kommunizieren zu können, ein Zahlensystem, mit dem sie via Codes sich vor dem Publikum die Bälle zuspielen konnten. Arthur vermittelt vor Publikum den Kontakt zu Toten, zu Menschen, die einzelne Mitglieder des Publikums verloren hatten. Geschickt picken sie sich einzelne Zuschauer heraus, arbeiten sich an deren psychische Probleme heran, an deren Trauma und seelischen Nöte, um ihnen durch den Kontakt zum Jenseits, zu verlorenen Angehörigen, Trost zu spenden. Dabei sind sie sehr erfolgreich. Nach der Trennung von Arthur und Beth hat er dies perfektioniert und betreut nun intensiv reiche Witwen in Einzelsitzungen. Er hat die nötige Menschenkenntnis, mit Empathie und der passenden Psychologie erkennt er die seelischen Probleme und Abgründe seiner »Kunden« und es gelingt ihm damit auch, sie abhängig zu machen. Er nutzt deren seelische Not und Bedürftigkeit aus und kommt so zu Wohlstand. Dabei läßt Kennedy ihn nicht als absoluten Betrüger erscheinen, sondern er wirkt unterstützend auf die Witwen, er spendet Trost und hilft ihnen, einen Verlust oder ein Trauma zu verarbeiten, mit Problemen fertig zu werden. Beth hat all das nicht mehr ausgehalten und sich von ihm getrennt. Doch der Kontakt ist nie abgebrochen, die Liebe war groß und es gab immer wieder Treffen. So ist diese Reise auch von Arthur arrangiert und trotz anfänglichem Abstand, Derek durch seine Seekrankheit in der Kabine festgenagelt, finden die beiden doch wieder Kontakt und endlich in Arthurs Kabine dann zusammen.
Vordergründig mag Arthur ein Betrüger sein, auf den zweiten Blick jedoch hat er Charme, eine besondere Ausstrahlung, die bei Beth durchaus wirkt. Dies hat bei beiden bestimmt stark mit ihrer Profession zu tun, mit dem besonderen Geschick beider, mit Psyche, mit dem Gegenüber umzugehen, zu durchschauen und auch der Fähigkeit, damit spielen zu können.
A L Kennedy erzählt all dies sehr raffiniert auf verschiedenen Erzählebenen. Da gibt es Rückblicke in die Kindheit, in Beths und Arthurs gemeinsame Vergangenheit, in die Arbeitsweise und das Leben von Arthur ohne Beth, ihre Beziehung zu Derek und natürlich die Gegenwart, die Reise auf dem Kreuzfahrtschiff. Das besondere an Kennedys Erzählen ist, daß man die handelnden Figuren aus ihrem Innenleben heraus kennenlernt . Sie gewährt einen Blick in sie hinein und man beginnt sie zu verstehen. A L Kennedy wählt gerne in ihren Romanen skurile oder außergewöhnliche Figuren, aber man schaut nie auf sie herab sondern betrachtet sie auf Augenhöhe - man kennt ja ihr Innenleben. Hier im »Blauen Buch« sind die vielen inneren Monologe von Beth durch Kursivdruck abgehoben.
Wieder einmal hat es Kennedy geschafft, dem Leser zwei ungewöhnliche Menschen zu präsentieren, deren ungewöhnliches Leben, ihre Zerissenheit und das ewige Bemühen nach Liebe. Nicht nur das, das Buch bietet auch ganz allgemein einen Blick auf die Menschen, ihr Streben nach Liebe, nach Anerkennung, die Schwierigkeiten, mit persönlichen Verlusten fertig zu werden. Und am Ende kommt dann eine große Überraschung, zumindest war es das für mich, die jedoch ganz viel in neuem Licht erscheinen lies, vieles neu erklärte. Ich war nach der letzten Seite mal wieder sehr zufrieden mit dieser Autorin und freue mich jetzt schon das nächste Buch...