Josefine Klougart: Einer von uns schläft

Matthes & Seitz 2019, 222 S.
OT: Én af os sover (2012)

Über die gepflügten Felder kriecht das Licht heran. Schollen dunkler ineinandergeschobener lehmiger Erde, Bullenkälber, die sich in den Boxen kabbeln, ein Getöse von zu viel Körper auf zu wenig Raum. Und der Schnee, so sanft hat er sich nun auf die Kämme gelegt, auf die Landschaft, auf alles Lebende und Tote. Ein Fell aus Kälte, eine tiefe Stimme, der du vertrauen kannst. Die ganze Landschaft; nackt, unsentimental, das Gefühl eines Ich vermisse dich ist hier zu Hause, aber es gibt niemanden zu vermissen.
Eine Landschaft mit einem Spitzenbesatz aus Reif.“

Das ist der erste Absatz des Buches, der schon ganz viel von dem enthält, was noch kommt. Landschafts- bzw. Naturbeschreibung, Schnee und Kälte, die sich über alles legt, Gefühle, Liebe, das Herantasten an das, was ist, die Suche.

Es ist ein sehr ungewöhnliches, ein besonderes Buch, das zu beschreiben mir schwer fällt, es wird mir nicht gelingen. Es gibt keinen konkreten Plot, es ist keine lineare Erzählung, die man zusammenfassen könnte, aber es gibt eine Ausgangssituation: eine junge Frau ist aus Kopenhagen zurückgekehrt zu ihrer kranken Mutter aufs Land und versucht sich ihrer Vergangenheit klar zu werden. Zwei gescheiterte Beziehungen, wobei die Männer und die Beziehungen nicht so klar auseinander gehalten werden können, legen sich schwer auf die Seele. Es sind fragmentarische Rückblicke, Gefühle, die aufblitzen, vergehen und sich in ihren Widersprüchen immer wieder mehr oder weniger Raum nehmen. Nichts ist bestimmt oder klar, alles ist möglich und deshalb auch ehrlich.

„Stimmt doch nicht, sagt sie manchmal. Aber es hat auch was Wahres, so ist es meistens, wahr und gleichzeitig nur ein Stück Vom Bild.“

oder

“Ich denke an dich, dass ich anrufen will, aber ich will warten. Ich schiebe dich auf später auf. Das Gefühl hab ich; ich habe dich immer aufgeschoben. Ich bin im Zweifel, ob man den Satz umdrehen kann. Ob du mich immer aufgeschoben hast.“

Man hat den Eindruck, Josefine Klougart würde ihren Gedanken Raum geben, einen Gedanken nach dem anderen aufreihen. Sie arbeitet oft mit Erzählfragmenten, sie beginnt zu erzählen, im nächsten Absatz breitet sich ein neues Gefühl aus. Auch die Erzählperspektive wechselt immer wieder, manchmal innerhalb eines Satzes. Beim Lesen entstehen so auch die widersprüchlichsten Gefühle, es hat manchmal eine Dringlichkeit, gleichzeitig entsteht Unsicherheit, ein Herantasten an die Vergangenheit ebenso wie an das eigene Ich.

„Ich sehne mich nach Kopenhagen zurück, und ich sehne mich gerade nicht zurück.“

„Ich denke an dich, dass ich anrufen will, aber ich will warten. Ich schiebe dich auf später auf. Das Gefühl hab ich; ich habe dich immer aufgeschoben. Ich bin im Zweifel, ob man den Satz umdrehen kann. Ob du mich immer aufgeschoben hast.“

Ein Ausprobieren und Suchen, auch nach Antworten, die es nicht geben kann. Gefühle wechseln und verändern sich oder vielleicht ist es ähnlich, wenn „Träume“ erzählt werden? Es sind eben viele Gedanken und Eindrücke, die alle eine Grundlage haben und nur in der Zusammenschau, nicht alleine, sondern als Ganzes, das Leben abbilden - ein Buch ergeben.

Es sind die ganz großen Themen, über die Josefine Klougart schreibt, Trauer, Liebe, Verlust, durch anerzählen oder andeuten versucht sie sich dem eigenen Bewußtsein anzunähern, versucht mit dem Vergehen umzugehen, es auszuhalten, sich neu zu finden.

Meine Augen blättern sich durch die Berge, ich weine. Über die Aussicht ist nicht viel zu schreiben. Aber so ist es, das Orange der Berge, ihr unteschiedliches Blau, bergblaues Blauschwarz, briefblau, blauende Briefe, blauende Berge, hinter den Augen hinter den Bergen, schotenschwarzer blassrote Morgen, blassrote Berge, blut und blutrot und Brot, rotes Blauen der Blätter der Berge.“

Mit solchen Sätzen muss man zurechtkommen, nicht jeder wird es lesen können.

„Vom Himmel senkt sich das Grau herab. Die Wälder seufzen, die Bäume, die übrig bleiben.“

Ich weiß, daß ich das Buch zu schnell gelesen habe, vieles ist mir entgangen. Langsam sollte man es lesen, manchmal bei besonderen Sätzen, die es zuhauf gibt, verweilen und wirken lassen. Es ist ein sehr poetisches Buch, es gehört zu den Raritäten, die man im Buchladen sucht mit einer sehr speziellen Sprache, von der man sich beeindrucken lassen kann – allerdings muss man auch einen Sinn dafür haben, das Buch ist sicher nicht für jeden geeignet.

„Der Apfelbaum drängt durchs Fenster und läuft den Flur entlang. Die Zweige sind Flammen im Flur. Die Äpfel schlagen an die Wände.“
„Der Sturm hat mich geweckt. Die verschiedenen Laute der Äpfel. Die gefrorenen roten. Die nachgiebigen, die verfaulten.“

Der Apfelbaum, das Wetter, der Schnee, der fällt, die Landschaft bedeckt – all dies taucht im Buch immer wieder auf. Es gibt sehr viele Naturbeschreibungen, die auf eine sinnliche und anschauliche Weise Gefühle, Zustände, Veränderungen anschaulich werden lassen. Natur hat für mich etwas ruhiges, immerwährendes, im Rhythmus veränderlich und doch verlässlich. Die Erinnerung an das Buch läßt mich neu träumen und mich meinen Gedanken nachhängen.

Als ich das Buch zur Hand nahm, nahm ich nur flüchtig das Cover wahr, konnte nicht viel damit anfangen und begann zu lesen. Aber irgendwann stellte ich fest, wie wunderbar der Verlag das Coverbild ausgesucht hat: den Apfelbaum, ein Motiv, das immer wieder auftaucht, der beim Blick aus dem Fenster in einer verschneiten Landschaft sichtbar wird, mit seinen roten verschrumpelten Äpfeln, die sich im Herbst nicht lösen konnten.

„Ich bin ein Mensch, der alles sieht, das fast ist. Es ist eine Art und Weise, unglücklich zu bleiben, unfähig in allem. Nicht das, was ist, sondern das, was sein könnte, sehen zu können. Das was kommt, aber nie kommt, ein permanentes Absagen und Aufschieben, ist auf dem Weg, kann sich höchstens noch… und so weiter.“

Während ich dies schreibe denke ich, das Buch irgendwann noch einmal zu lesen, Absätzen mehr Zeit und Raum geben, mich langsam an die Widersprüchlichkeiten der Liebe, der Vergänglichkeit oder des Bewusstseins herantasten, sie wirken lassen. Winter und sein Schnee auf der Landschaft ist doch nur der Übergang zur neuen Zeit, in der im Frühling alles neu erblühen darf.

© Ralf 2019