Angelika Meier: Heimlich, heimlich mich vergiss

Diaphanes 2012, 331 S.

Ein starkes Buch - allerdings mußte es bei mir nach dem Lesen erst »reifen«…

Angelika Meiers neuer Roman »Heimlich, heimlich mich vergiss« hat mich über die erste Strecke des Romans einige Zeit ziemlich irritiert, ich konnte vieles nicht einordnen. Nachdem ich mir hinterher mal angesehen hatte, wo sie herkommt, mich damit beschäftigte und auch ihr Promotionsthema gesehen habe, änderte sich mein Denken. Die Arbeit wurde 2008 veröffentlicht mit dem Titel »Die monströse Kleinheit des Denkens. Derrida, Wittgenstein und die Aporie in Philosophie, Literatur und Lebenspraxis«. Dieser Titel war schon mal ein Hinweis, aber ich möchte auch gerne noch aus dem Klappentext des Verlags zitieren: » ›Der Abgrund der Hoffnungslosigkeit kann sich im Leben nicht zeigen‹, schreibt Wittgenstein. Wie ist es dann möglich, sich dem Scheitern, den unlösbaren Aporien des Denkens und Handelns zu stellen? Derridas Lektüre der Philosophie als Aporetrographie verwandelt die lebenspraktische Unsichtbarkeit des Abgrunds in eine Möglichkeit der Philosophie, das eigene Scheitern zu reflektieren.«

Hätte ich vorher mehr über Angelika Meiers bisherige Arbeit gewußt und zu diesem Buch vor der Lektüre recherchiert, hätte ich sicher auch einen leichteren Einstieg in das Buch gefunden. Wann schlägt Philosophie in Literatur um, Literatur in Wahnsinn? Und nun sind wir bei »Heimlich, heimlich mich vergiss« - Wahnsinn. Das Buch spielt in einer Klinik, hoch auf einem Berg; die da oben, deutlich abgegrenzt den denen unten im Tal. Ja, man denkt gleich an den Zauberberg, das Buch ist voll von Anspielungen und Zitaten, aber davon später mehr. Aber nicht nur Oben - Unten, die Klinik ist für die da unten unerreichbar, während die oben nicht entkommen können. Es ist eine Klinik, sagen wir mal mit Schwerpunkt Psychiatrie, im/am Kopf wird gearbeitet, da setzt man an. Die Hauptfigur ist der Arzt Franz von Stern, der schon seit zwanzig Jahren in der Klinik arbeitet. Auch seine Kollegen gehören schon fast zum Inventar, ebenso wie die Patienten, denn es gibt keine neuen Kollegen oder ausscheidende, es gibt auch keine neuen Patienten, vor allem werden sie nicht geheilt oder entlassen. Es ist ein abgeschlossener Kosmos, den nicht einmal Nachrichten von außen erreichen, wenn es die überhaupt geben sollte. Die Therapie der Patienten besteht im wesentlichen darin, sie ruhigzustellen, es wird genuckelt mit Opium-Rhabarbersaft, sie werden beschallt mit der eigenen Stimme in speziellen Räumen, Yoga- und Atemübungen sind ganz zentraler Bestandteil der Therapie, oder eben auch mal GV - was könnte gerade hilfreich sein, »Fußreflex oder Fellatio« oder sonstige Wellness?

Wie soll man das einordnen, ist es eine Psychiatriesatire, fehlt mir der Humor? Immer wieder absurde und surreale Szenen. Es verbirgt sich in vielen Schilderungen und Dialogen viel Witz, aber auch Absurdität. Es gibt im Buch, in der Klinik, keine »gesunden« Personen. Denn Kontrolle, Fehlverhalten, abweichende Gesundheitshaltung und Krankheit betrifft ebenso die Ärzte. Bei Dr. von Stern spricht mal das »Ich«, dann spricht er als »Referent«, je nachdem in welcher Situation er sich gerade befindet. Schizophrenie? Aber nein, die Aufspaltung ist geplant, dem Arzt ist eine weitere Instanz eingepflanzt, der »Mediator«, der wiederum das »Hirn« des Arztes kontrolliert. Und dann, plötzlich taucht in der Klinik tatsächlich eine Ambulante auf, von draußen, die von Sterns Patientin wird. Das bringt ihn völlig durcheinander, ist es seine Frau, nur um 20 Jahre gealtert?, der Mediator funktioniert auch nicht mehr richtig, er läßt sich deshalb selbst in der Klinik untersuchen und von Kollegen im Schlaflabor verkabeln.

Eine Lösung gibt es natürlich nicht und von Sterns Konfusion wird sich steigern, die Geschichte spitzt sich zu und endet letztlich in der Flucht aus der Klinik. Ob der Versuch, »nach unten« zu gelangen gelingt, möge jeder Leser selbst herausfinden, die Flucht liest sich dramatisch, auch ein spannendes Kapitel. Der Roman ist nicht nur skuril, stellenweise enthält er übrigens auch herrliche Dialoge zwischen Ärzten oder Medizinstudenten. Die Art der Gespäche, der Ton der zugehörigen medizinischen Terminologie kam mir doch sehr bekannt vor und ist gut getroffen, das hat Spaß gemacht.

Es läßt sich natürlich trefflich darüber streiten, wie man moderne gesellschaftliche Entwicklungen interpretiert und welche Haltung man demgegenüber einnimmt. Aber das ist eben Hintergrund von »Heimlich, heimlich mich vergiss«. Die Verrücktheiten dieser Gesellschaft, die sich zunehmend einschleichen, Abgabe von Verantwortung, das moderne Gesundheitssystem, die Wohlfühlgesellschaft und das sie begleitende Denken, alles wird von außen überwacht, geregelt, Täuschung - solche Stichworte lassen sich mit dem Buch verbinden. Angelika Meier schafft es grandios, aus all dem einen Alptraum zu konstruieren, eine absurde Welt, in der das Grauen zur Normalität wurde.

In den Text eingestreut sind eine Unmenge von Zitaten, Verweisen auf Diskurse, Parallelen. Von Vorteil ist, wer sich mit Philosophie beschäftigt hat oder zumindest aus den Geisteswissenschaften kommt, weil er mehr (wieder)erkennt, das dürfte ein größerer Genuß von »Heimlich, heimlich mich vergiss« sein. Ich hatte im Studium damit keine Berührung, komme aus einer ganz anderen Ecke. Deshalb war wohl zunächst dieses Buch zu lesen ungewöhnlich, irritierend. Ich konnte es nicht einordnen, hatte das Gefühl, es nicht zu verstehen. Was mache ich damit? Eine Psychiatrie- oder Gesundheitssatire? Fehlt mir der Humor dafür, fragte ich mich, so viel Absurdität im Buch. Und dann hat sich langsam ein Gefühl dazu entwickelt, je mehr Zeit verging und ich die kommenden Tage ab und an darüber nachdachte, dies schreibe, umso zufriedener war ich damit. Es hätte sich für mich sehr gelohnt, mich vor dem Lesen mit Hintergründen zum Buch zu beschäftigen, mich vorab zu informieren, was es beabsichtigt. Ich glaube, dann wäre die Irritation weggefallen, den Humor und Witz hätte ich viel mehr genossen.

Aber: das Buch gehört zu jenen, die mit dem Abstand immer besser werden und reifen, je mehr man darüber nachdenkt. Es gewinnt, nimmt sich Raum - herrlich, ein tolles Buch. Eine Empfehlung...


© Ralf 2012