Francesca Melandri: Alle, außer mir

Wagenbach, Berlin 2018, 604 S.
Aus dem Italienischen von Esther Hansen
OT: Sangue giusto (2017)

Francesca Melandri, 1964 in Rom geboren, hat 2010 mit »Eva schläft« und 2012 mit »Über Meereshöhe« schon zwei Romane geschrieben, die sich mit italienischer Geschichte befassen. »Eva schläft« beschäftigt sich mit Südtirol in den 60er und 70er Jahren und seinen auch gewalttägigen Autonomiebestrebungen, »Über Meereshöhe« mit Italiens linksradikalem Terror.

In Melandris neuem Buch »Alle, außer mir«, geht es wieder um die italienische Geschichte, diesmal um die koloniale Vergangenheit, Rassismus, die aktuelle Flüchtlingskrise drängt sich zwingend auf und natürlich um die ganze Vielfalt an Problemen der modernen italienischen Gesellschaft. Im italienischen Orginal heißt das Buch »Sangue giusto« - »Richtiges Blut«, was das Thema schon im Titel offenbart.

Verpackt wird das alles in einer Familiengeschichte, die sich durch das ganze 20. Jahrhundert zieht. Die erste Seite beginnt mit dem Tod des 97-jährigen Attilio Profeti, als wichtigste zweite Figur spricht seine Tochter, die etwas 40-jährige Ilaria. Ich schlage gerade diese erste Seite auf und kann folgenden Satz nach der Lektüre nun viel besser einordnen: »Ich weiß nur eins: Unter uns Lebende kannst du nicht zurückkehren. Wer stirbt, ist ein Flüchtling, ein Asylsuchender. Der einen Ablehnungsbescheid bekommen hat für den Rest der Ewigkeit.« Der kritische Unterton ist nicht zu überhören, wie es zur Kritik kommt, dies entschlüsselt sich im Roman durch die Recherche Ilarias über die Vergangenheit ihres Vaters.

Dabei lernt man ein Familienpanorama kennen, Verwicklungen, Verflechtungen und Verdrängung innerhalb der Familie, aber ganz wesentlich auch ein Portrait der italienischen Gesellschaft heute und in der Geschichte, da das Individuelle mit der historischen Geschichte verknüpft wird. Für die Familie unerwartet taucht plötzlich ein junger Äthiopier auf, nach langer Flucht über das Mittelmeer, und behauptet, Attilio Profetis Enkel zu sein, also Ilarias Neffe. Damit lässt er sich nicht mehr so leicht abweisen, Ilaria beschließt, ihn aufzunehmen. Sie kann ihren Vater nicht mehr fragen, da von ihm Antworten nicht mehr zu erwarten sind, er ist dement.

Das Flüchtlingsthema ist noch mit vielen anderen Aspekten präsent, Ilaria lebt auf des Esquilin in Rom, nicht nur in ihrem Viertel sind Migranten ein wichtiger Teil des Lebens, sondern auch die verschiedenen Etagen ihres Wohnhaus werden durchdrungen von den Gerüchen der vielen verschiedenen Küchen. Ilaria ist eine eher links-liberale Lehrerin, der das gesellschaftliche Miteinander, der Moral wichtig ist, andererseits »lebt« sie eine Beziehung mit einem Mann, der in Berlusconis Partei aktiv ist und rechte Parolen kleinredet. Sex ist es, der sie zusammenhält, »sie sind nicht länger der rechte Abgeordnete und die progressive Nervensäge«. Im Privaten spiegelt die Autorin die widersprüchlichen Facetten der Gesellschaft. Viele Themen werden plastisch dargestellt, neben Rassismus und der Flüchtlingskrise auch Korruption, Klassenunterschiede, Geschlechterkampf, Unterdrückung, Ausbeutung von Frauen, aber auch deren Stärke - alles durchmischt sich, oft auch in einer Person.

So eben in der Hauptfigur, Attilo Profeti. Es zeigt sich, daß er nicht nur am Abessinienkrieg teilgenommen hat, er hatte viele Geheimnisse vor seiner Familie, er war einer, der immer seinen Vorteil sah, unabhängig von den Systemen, ohne Moral. In den 30er Jahren hatte er sich zu den Schwarzhemden gemeldet, hat als Rassenforscher mitgearbeitet, indem der in Äthiopien geholfen hat, die Menschen zu vermessen, hat an Feldzügen teilgenommen, war lange Teil des faschistischen Italiens, Teil des Mussolini-Kults, Teil des italienischen Kolonialismus in Äthiopien. Und dort, in Äthiopien, hat er in den 30er Jahren einige Zeit mit einer äthiopischen Frau, gelebt, die er geliebt hat, die Teil seines Lebens war.

Francesca Melandri wechselt immer wieder die Perspektive und die Zeiten, wechselt zwischen Gegenwart und Geschichte, es entsteht nicht nur ein Sittengemälde des heutigen Italien, sondern das Buch ist auch ein Geschichtsbuch, eine Historie des Kolonialismus Italiens und beschreibt seine Auswirkungen bis heute. Ob es um Kriegsverbrechen damals geht, um die Unterdrückung von Frauen, gar deren Ausbeutung durch Mussolinis Soldaten, vieles wird ausführlich und ergreifend erzählt. Attilio hat gelernt, sich durch die Zeiten zu schlängeln, nach und nach enthüllen sich Lüge, Bestechung, Vertuschung, Korruption oder Vorteilnahme.

Das Lesen von Melandris »Alle, außer mir« mit seinen vielen Perspektivwechseln, dem Personal, von dem man zunächst ob seiner Vielfalt verwirrt ist, den Zeitsprüngen, war für mich auf den ersten hundert oder zweihundert Seiten etwas anstrengend, aber man wird durch die Intensität und Tiefe sehr belohnt, ist man eingetaucht, liest es sich spannend und flüssig. Fast dachte ich am Ende, nun sollte man gerade nochmal von vorne beginnen, alles durchschauend und mit größerem Genuss nochmal lesen.

Hinterher hat man das Gefühl, ein ganz anderes Italien kennengelernt zu haben, als das schöne oder fröhliche Land, mit seinen so freundlichen Menschen - es kann dahinter eben noch eine andere Seite geben, im Hintergrund können noch weitere Wahrheiten lauern. Francesca Melandri zeigt mit dieser Familiengeschichte, daß das Leben vielschichtig ist. Das Historische und Politische durchzieht mit deutlichen Spuren den Roman, die Familie, so viele Themen und Aspekte, ich habe viel gelernt. Gute Literatur, ein großartiges Buch.


© Ralf 2019