Stewart O'Nan: Alle, alle lieben dich

Rowohlt 2009, 411 S.
(OT Songs For the Missing 2008)
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel

Weil die ersten Sätze so gut passen, seien sie hier mal zitiert:
»Es war der Sommer, als Kim die Chevette fuhr, mit J.P. zusammen war und sich das Haar wachsen ließ. Der letzte Sommer, der beste Sommer, der Sommer, von dem sie seit der achten Klasse geträumt hatten, der anhaltende Stolz und die Freude, die ältesten Schüler zu sein, die Verlängerung ihres besten Jahres... Im Herbst würden sie aufs College gehen, wo sich Kim, wenn sie sich genug Mühe gab, hoffentlich in einen anderen Menschen verwandeln würde, der geheimnisvoll und unabhängig war und nichts mehr mit Kingsville zu tun hatte.«

Kim wächst in einer amerikanischen Kleinstadt auf und freut darauf, endlich ihr eigenes Leben führen zu können, weg von den Zwängen des Zuhauses bzw. des durchschnittlichen Kleinstadtlebens. Doch ein schöner letzter Sommer bleibt ein unerfüllter Traum. Die achtzehnjährige Kim wird, nach dem Abschied von ihren Freunden um zur Arbeit zu fahren, nicht wieder zu Hause erscheinen: sie verschwindet - und bleibt verschwunden, selbst das Auto ist lange Zeit unauffindbar.

Es ist kein Krimi, es geht in dem Buch nicht darum, das Verschwinden aufzuklären, sondern es dreht sich um die Folgen dieses Verschwindens, wie gehen die Eltern damit um, die Geschwister, Freunde, Nachbarn. Wie lebt man nach der Katastrophe weiter, was verändert sich. Die Eltern beginnen sehr bald, die Suche selbst und die Hand zu nehmen und aktiv zu werden. Der Vater, indem er Menschen der Stadt zusammen trommelt und Suchtrupps organisiert um erst alle Straßen, später die Umgebung generalstabsmäßig abzusuchen. Die Mutter dagegen wendet sich an die Öffentlichkeit, Flugblätter werden gedruckt, es gibt Fernsehauftritte und Wohltätigkeitsveranstaltungen, Gedenkveranstaltungen für Kim werden organisiert.

Sehr unterschiedlich gehen die übrigbleibenden Familienmitglieder mit Kims Verschwinden um. Von Verlust kann man noch nicht sprechen, denn anders als bei einem Unfall oder Verbrechen, ist es hier eine Leerstelle, es ist völlig offen, was passiert ist. Es kann also nicht der Schmerz oder die Trauer einsetzten, sondern zunächst läuft es auf Aktionismus hinaus, tätig sein, beschäftigt sein, anders formuliert: Ablenkung. Oder "Nichtfühlen", für mich war es besonders die Mutter, die in Aktionismus verfällt und nicht damit aufhören kann. Wenn die Aktivitäten in den ersten Wochen noch sinnvoll sind, so empfand ich vieles nach Monaten irgendwo fehl am Platze. Dies ist vielleicht eine Möglichkeit, einige Zeit der Katastrophe zu entfliehen, immer wieder die Hoffnung am Leben zu halten. Da stellt sich auch die Frage, wie trauern, wenn es kein Grab gibt, bzw. wann, denn muß man mit Kims endgültigem Verlust nicht schon nach wenigen Wochen rechnen, auch wenn es absolut keine Zeichen von ihr gibt - oder vielleicht gerade deshalb?

Teilweise ging mir der mütterliche Aktionismus dann auch auf die Nerven, die fast einen neuen Lebensinhalt darin findet, alles vermengt mit dieser ständigen Vorsicht, niemanden zu verletzen, immer diese unglaubliche Freundlichkeit und Mitleidsbekundungen der Stadt. Der Vater dagegen wird irgendwann müde, sein Abbauen spiegelt sich in zunehmenden beruflichen und damit finanziellen Schwierigkeiten, die Geschäfte laufen schlechter.

Eines der bemerkenswertesten Dinge des Buches waren für mich, daß sich alles um Kim dreht, sie aber nie auftritt. Sie ist zwar eine Leerstelle, allerdings ständig präsent und spürbar und Stewart O'Nan schreibt UM das verschwundene Mädchen, über die Folgen, das ganze Geschehen wird davon bestimmt. Dabei bleibt seine Sprache immer sachlich, er berichtet nüchtern von den Veränderungen bei den Hinterbliebenen, das Detail immer im Blick. Dabei hat sich mir ins Bewußtsein gedrängt, daß O'Nan eben auch als Ingenieur gearbeitet hat, was für mich mit dem unemotionalen Ton stimmig ist.

Erwähnen möcht ich gern auch den Familienhund: er tritt immer wieder auf und an ihm kann man die verstreichende Zeit beobachten. Auf den letzten Seiten springt er nicht mehr, »er schleppt sich den Flur entlang«. Das Leben geht weiter, am besten sichtbar an Lindsay, Kims Schwester. Sie stand immer im Schatten ihrer hübschen Schwester, hat dann bei Wohltätigkeitsveranstaltungen immer gelächelt, wobei der Leser sehr wohl ihr Unbehagen spürt, ihr Verdrängen von Lebenslust, unterordnen in ein Familienleben, das kaum noch normal sein kann. Doch wie gesagt, das Leben geht weiter, das Buch endet mit ihrem Abflug, hin ins College, in ein neues, eigenes Leben...

Fazit: ein gutes Buch über die Gefühlswelt der Hinterbliebenen eines geliebten Menschen, wenn man den nüchternen O'Nan-Ton mag...

© Ralf 2009