Rowohlt 2011, 426 S.
Alexander erfährt im Krankenhaus, daß er am Non-Hodgkin-Lymphom erkrankt ist - der Arzt möchte keine Prognose über die verbleibende Lebenszeit abgeben, aber immerhin »nicht operabel«. Daraufhin fährt er zu seinem Vater Kurt, der zu dieser Zeit, im Jahr 2001, stark an Demenz leidet mit all seinen Erscheinungen: was auch immer man ihn fragt, er kann im Grunde nur noch »Ja« sagen. Er kümmert sich um ihn, geht dann aber in Kurts Arbeitszimmer, sieht sich um und stöbert, um schließlich den Safe seines Vaters zu öffnen. Er nimmt einiges heraus, findet unter anderm sauber datierte Briefe: »Liebste Ira!« (1954), »Liebe, liebste Irina!« (1959), »Meine Sonne, mein Leben!« (1961) und noch einen von 1973. Außerdem nimmt er noch eine größere Summe Geldes aus dem Tresor. Geld, das Kurt eine zeitlang immer wieder am Geldautomat von seinem Konto abhob, aber nichts damit anzufangen wußte, einzig an die Geheimzahl und die Prozedur konnte er sich in letzter Zeit noch erinnern, das Geld landete im Tresor. Alexander wird es für seine Reise auf den Spuren seiner Großeltern nach Mexiko verwenden.
Eugen Ruge strukturiert seinen Roman, indem er immer wieder einzelne Szenen aus diesen verschiedenen Jahren beschreibt, angefangen 1952 bis in die Gegenwart. Die einzelnen Kapitel sind aus den verschiedenen Perspektiven der Familienmitglieder geschrieben, das ist das Besondere an diesem Buch, alle bekommen eine Stimme. Da sind die Großeltern Wilhelm und Charlotte, Stalinisten, Flucht vor den Nazis ins Moskauer Exil, um dann für die Partei nach Mexiko zu gehen. Das Jahr 1952 in Mexiko erfährt man aus Charlottes Sicht, sie werden wieder zurück gerufen, um den Sozialismus, die DDR aufzubauen. Kurt wurde im Exil geboren und ist in Moskau zurück geblieben. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt mußte er zur Zwangsarbeit ins Lager nach Sibirien, überlebte und ging 1956 in die DDR zurück. Er heiratete die Russin Irina, im Roman charakterisiert durch ihren russischen Akzent und Eigenheiten. Am Ende ihres Lebens bleibt ihr nur noch der Alkohol, in den sie sich gerne flüchtet. Sie wird auf ganz wunderbare Weise von Weihnachten 1991 berichten. Kurt wird in der DDR zu einem angesehenen Historiker, der Bücher en masse oder Artikel für das Neue Deutschland schreibt. Auch der Enkel Markus kommt zu Wort und in einem eigenen Kapitel eine Stimme.
In zeitlichen Sprüngen erfährt man also aus allen Perspektiven die Geschichte der Familie Umnitzer. Die einzelnen Familienmitglieder werden ganz individuell mit eigener Stimme porträtiert, Szenen aus deren Sicht, was sehr gut gelungen ist. Dabei gibt es über die Jahre zwei Fixpunkte. Da ist einerseits Alexander, die wichtigste Figur und gleich alt wie der Autor. Auch Eugen Ruge wurde 1954 in Soswa im Ural geboren. Sein Vater, Wolfgang Ruge, war auch Historiker mit einem umfangreichen Werk zur Arbeiterbewegung. Auf Alexander kommt der Roman immer wieder zurück, ins Jahr 2001 in Mexiko. Andererseits gibt es immer wieder das Kapitel von Wilhelms 90. Geburtstag am 1. Oktober 1989, der in sechs Kapiteln und damit aus sechs unterschiedlichen Perspektiven geschildert wird. Wilhelm, der alte Greis, ist eine der eigensinnigsten Personen des Buches und gibt immer wieder Anlaß zum Schmunzeln (oder Grausen), im Grunde eine Karikatur eines Parteifunktionärs. Viel Witz verbirgt sich in den Beschreibungen rund um den 90-Jährigen.
»Papperlapapp« - Ich denke, in dem Alter darf man auf seinem Standpunkt beharren, und es paßt zur DDR: »Er sang leise, für sich, jede Silbe betonend. In leicht schleppendem Rhythmus, er merkte es wohl. Mit einem nicht beabsichtigten Tremolo in der Stimme: Die Partei, die Partei, die hat immer recht / Und, Genossen, es bleibe dabei / Denn wer kämpft für das Recht / Der hat immer recht...« Zuviel wird das stete Zurückkehren zu diesem Geburtstag auch nie, da die Vielfalt der unterschiedlichen Darstellungen auch manches erst erklärt, was vorher nicht wirklich zu durchschauen war. Vielleicht kurz noch ein Blick des 14-jährigen Markus auf Wilhelm, den man auch als Blick auf die vergangene DDR und ihre Bedeutung für die nachfolgende Generation deuten könnte: »Tatsächlich erinnerte die ineinandergeschobene Knochengestalt mit ihren bis zu den Ohren aufragenden Knien, den über die Seitenlehnen hängenden Flügelarmen und der riesigen langen Schnabelnase an den fossilen Abdruck jenes ausgestorbenen Reptils, das markus immer am meisten beeindruckt hatte.«
Alexander stöbert am Ende in Mexiko in den Aufzeichnungen und Notizen von Kurt und denkt »Was ist das? Aufzeichnungen für einen Roman? Für einen zweiten, in der DDR spielenden Teil seiner Memoiren?« So schreibt also Eugen Ruge die Memoiren seines Vaters Wolfgang weiter, von dem die Erinnerungen an die Jahre in der Sowjetunion 2012 neu erscheinen werden. Der Roman ist nicht nur eine Familiengeschichte, sondern indirekt eben auch eine Geschichte der DDR, von der Gründung bis zum Untergang. In seinem Personal zeigt sich über vier Generationen, über fünf Jahrzehnte, wie eng Familiengeschichte und Politik miteinander verknüpft sind. Am Anfang die Gründungsgeneration mit Optimismus, einer sozialistischen Utopie, später nur noch halb überzeugt, man macht mit, laviert sich durch, dann mit Alexander einer, der noch vor der Wende abhaut und die DDR verläßt und ganz am Ende dann die jüngste Generation, Markus, den das alles nicht mehr betrifft und kaum noch interessiert. Nicht nur die Sonne geht 2001 am Strand in Mexiko unter, die Zeiten abnehmenden Lichts finden sich wieder im Zerfall der Familie und dem Tod einzelner Familienmitglieder, im allmählichen Zerfall der DDR oder der Korrosion von Utopien, mit denen sie gestartet war. Ein schöner Roman einer sozialistischen Vorzeige-DDR-Familie mit all ihren Hoffnungen, Illusionen einer besseren Welt, ihren Täuschungen und Enttäuschungen.
Für sein Buch »In Zeiten des abnehmenden Lichts« bekam Eugen Ruge 2011 den deutschen Buchpreis...