Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe

Bildungsroman

Suhrkamp 2011, 222 S.

»Setzen«, sagte Inge Lohmark, und die Klasse setzte sich. Sie sagte »Schlagen Sie das Buch auf Seite sieben auf«, und sie schlugen das Buch auf Seite sieben auf, und dann begannen sie...

Die Szene spielt irgendwo im hinteren Mecklenburg-Vorpommern, in einer Gegend, die von Abwanderung, Arbeitslosigkeit, Rückbau geprägt ist, an einem Gymnasium, dem die Kinder ausgehen und es ist beschlossene Sache, die Schule zu schließen. Inge Lohmark ist eine ältere Biologielehrerin in der 9. Klasse, noch 12 Schüler bleiben im letzten Jahrgang des Charles-Darwin-Gymnasiums. Ihr Lehrstil folgt nicht neuen modernen Prinzipien, sondern sie hält Frontalunterricht, Strenge und Disziplin sind selbstverständlich, ebenso wie unangekündigte Leistungskontrollen: eine Lehrerin vom »alten Schlag«. Die Angst der Schüler scheint sie gar zu genießen.

Auch Mitgefühl oder Sympathie mit Schülern darf es nicht geben:
»Tabea, sollten Sie auf dem Gymnasium bleiben wollen, prüfen Sie bitte in Zukunft, ob Sie wirklich etwas Substanzeiles zum Unterricht beizutragen haben.« Mitten ins Gesicht. »Und zwar bevor Sie den Mund aufmachen.« Immerhin war die jetzt mundtot.

Der Name Inge Lohmarks erinnert sehr an Lamarck.
Jean-Baptiste Lamarck (1744-1829) war wohl der wichtigste "Evolutionsbiologe" vor Charles Darwin (1809-1882).
Wie liese sich nun der Hals der Giraffe mit Hilfe dieser beider Herren erklären?
Giraffen haben einen langen Hals, weil es damit von Vorteil ist, auch die schmackhaften Blätter in hohen Baumkronen, sonst unerreichbar, essen zu können. Nach Lamarck strecken und recken sich die Giraffen nach den Blättern, trainieren damit ihren Hals und dieser wird dann mit besseren Eigenschaften an die Nachkommen weitergegeben. Lernen macht also Sinn und das Ergebnis wird vererbt. Nach Darwin jedoch sind die Nachkommen in ihren Merkmalen variabel; nur die mit optimalen Eigenschaften (längerem Hals) bekommen mehr Futter und haben damit mehr Nachkommen, die auch wieder variabel sind usw. So kommt es auf Dauer zu einer Verschiebung der Merkmale: Giraffen haben einen längeren Hals, aber eben nicht durch "Lernen" wie bei Lamarck.

Fleißigen Schülern kann sie ebensowenig abgewinnen. Da ist z.B. Annika, eine der besten Schülerinnen, die sich ständig meldet:
Aber die Klasse hatte schon wieder den Anschluss verloren. Um zwei Ecken konnten sie nicht denken. Nicht mal um eine. Die übliche Meldung. »Ja, Annika.« ... Sie kannte die Antwort und wollte nur wieder ein Bienchen kassieren.

Inge Lohmark wirkt insgesamt eher kalt und zynisch, der Stärkere möge sich durchsetzten, die anderen haben es nicht verdient, weiterzukommen. Sie folgt in allem den Prinzipien Darwins, alles folgt den Naturgesetzen, die Sicht auf die Schüler, auf das Privatleben, auf das ganze Leben. Sympathie flackert nur kurz mal auf, ihr Leben scheint trocken, nüchtern, rational und beziehungslos.
Auch die Art über ihren eigenen Mann zu sprechen, folgt ihrer biologistischen Sicht:
»Wolfgang hatte ja auch zwei Hennen gehabt. Doppelter Bruterfolg. Zwei Frauen, drei Kinder. Ein Quadrat zwischen zwei Kreisen. Ilona und sie.«
Es scheint keine Nähe zwischen ihr und ihrem Mann zu geben, sie begegnen sich im Buch nicht.

Auch ihr eigenes Kind Claudia hat ihr Leben verlassen, sie ist in die USA gegangen und hat fast keinen Kontakt zu ihrer Mutter. Ihre Hochzeit teilt sie ihrer Mutter nur kurz in einer mail mit. Liebe konnte die Lehrerin auch ihrem Kind nicht geben, das einmal in einer ihrer Klassen war:
Claudia fiel. Blieb liegen. Weinte immer noch. Wie sie da auf dem Boden lag. Sich krümmte. Im Gang, zwischen den Bänken und Stühlen. Mitten in der Klasse... Sie hörte nicht auf zu wimmern. Mama. Immer wieder: Mama. Ein kleines Kind. Claudia schrie nach ihr. Vor der ganzen Klasse. Natürlich war sie ihre Mutter. Aber zuallererst ihre Lehrerin.
Sie war Frau Lohmark, in der Schule, ihre Lehrerin, als Leser mag man es kaum fassen. Und doch, in ausgewählten Momenten könnte man fast Mitleid mit ihr haben, ihre Unfähigkeit Liebe zu geben, Gefühle zu zeigen, wieviel verdrängt sie selbst, sich hinter markanten Sprüchen oder hinter der Biologie versteckend?

Trotzdem dominiert ihr darwinistisches Weltbild, »Survival of the Fittest«. Entweder der Mensch ist stark, dann kann er weiterkommen; stolpert er, kann er aufstehen und lernen oder sich anpassen. Die Natur kennt kein Pardon. So hielt sie es auch in ihrem eigenen Leben, auch sie mußte sich durchboxen, und natürlich war sie bei der Stasi »andere hatten auch unterschrieben«. Früher war ohnehin alles besser. Das ist nun aber gerade absurd, denn Inge Lohmark predigt zwar Darwin, hat sich dabei aber selbst nicht entwickelt bzw. konnte es nicht, gehört selbst zu einer aussterbenden Gattung.

Alles ist aus einer personalen Perspektive heraus geschrieben. Amüsant ist die bösartige Sicht der Lehrerin durchaus zu lesen, die satirisch-überspitzten Szenen. Im Untertitel vom »Hals der Giraffe« findet man »Bildungsroman«. Das Buch zu lesen heißt auch, am Biologieunterricht teilzunehmen. Es gibt drei große Überschriften: Naturhaushalte, Vererbungsvorgänge und Entwicklungslehre. An einer Vielzahl biologischer Themen hört man Frau Lohmark zu, es ist fast wie ein biologisches Curriculum. Insofern natürlich Bildung. Oder soll man das auch ironisch auffassen? Im dem Buch tut sich im Hinblick auf Entwicklung eben gerade nichts und das ruft bei mir Kritik hervor. Sowenig wie sich Inge Lohmark verändert oder Schüler sich entwickeln, sowenig ändert sich der Ton des Buches, die ersten zehn Seiten ähneln den letzten zehn. Da wächst nichts, bildet oder entwickelt sich nichts im Bildungsroman, da empfand ich irgendwann einen Mangel und die Lust am Buch verliert sich etwas.

Trotzdem lohnt es natürlich, das Buch zu lesen; es hat auch eine spannende Seite, der eher unsympathischen Lehrerin zu folgen, es gibt so viele skurrile Situationen durch ihre ungewöhnliche Sicht.

An das Wort »Liebe« kann ich mich in dem Buch übrigens auch nicht erinnern, Gefühle scheint es bei Inge Lohmark nicht zu geben. Und trotzdem: man lese den letzten Absatz des Buches...

Ein ganz großes Lob gilt aber der wunderbaren Gestaltung des Buches, ganz laut: TOLL!

Natürlich fadengebunden, nicht nur Pappe, sondern in Leinen, ein eigenes haptisches Erlebnis. Im Buch verteilt etwa zwei Dutzend feine Illustrationen aus der Biologie. Auch beim Satzspiegel hat sich Judith Schalansky viele Gedanken gemacht, alles paßt. Bald bemerkt man auch die rechte obere Kopfzeile: die Autorin hat lebende Kolummnentitel eingefügt! Herrlich, wie sie sich da Gedanken gemacht hat, man könnte nun endlos aufzählen: Sukzession, Domestikation, Paarungssysteme, Embryogenese, Buttersäuregärung, Vegetarismus, Neotenie, einfach mal statistisch irgendwelche Seiten aufgeschlagen, es findet sich immer eine passende Seitenüberschrift. Wenn ich nachrechne, das Buch hat 222 Seiten, sollten es also weit über 100 Stichworte aus der Biologie sein, ich finde bemerkenswert!

Hier zeigt sich die Ausbildung von Judith Schalansky. Sie hat Typographie gelernt, ist Buchgestalterin. In ihrem ersten Buch, dem Matrosenroman »Blau steht dir nicht«, hat sie viele Fotos verwendet, dann, für mich ihr Höhepunkt, der »Atlas der abgelegenen Inseln«, 2010 ausgezeichnet mit dem 1. Preis der Stiftung Buchkunst, den sollte sich jeder mal ansehen. Sie legt hier also ihr drittes, besonders schön gestaltete Buch vor. Was da wohl noch kommt, ich bin sehr gespannt auf das nächste Buch und freue mich schon. Wenn es nur so weiter geht...

© Ralf 2011