Tom Rob Smith: Kind 44

DuMont Verlag 2008, 511 S.
(OT Child 44, 2008)
Aus dem Englischen von Armin Gontermann

Im Zentrum des Buches von Tom Rob Smith steht Leo Demidow, Offizier des MGB bzw. NKWD, des Inlandsgeheimdienstes der Sowjetunion der 50er Jahre.

Im Winter 1953 wird ein kleiner Junge an den Bahngleisen tot aufgefunden. Auch wenn es einige merkwürdige Hinweise gibt wird nicht ermittelt, sondern in der offiziellen Version handelt es sich um einen Bahnunfall, während die Eltern überzeugt sind, daß es ein Mord war. Spätestens jetzt wird der Staatssicherheitsdienst eingeschaltet, Leo wird beauftragt, dieses Gerücht aus der Welt zu schaffen. Nur kurz zweifelt er an der Unfallversion, die Akten sprechen von Bahnunfall und die Akten lügen nie. Er glaubt an seinen Staat und ist ein regimetreuer Offizier. Es gibt keine Kriminalität, es hat keine zu geben, da alle Menschen gleich sind, alle ziehen am gleichen Strang, Mord gibt es schon gar nicht in der perfekten sozialistischen Gesellschaft, das wird vom Regime nicht nur ignoriert, sondern geleugnet. So werden alle Verbrechen sehr schnell geklärt, indem man sie einfach Außenseitern, Störern, Andersdenkenden in die Schuhe schiebt und diese, wenn sie Glück haben, in den Gulag geschickt, ansonsten kurzerhand ermordet, nachdem man ein Geständnis durch Folter erpreßt hat. Das Buch besticht vor allem durch Schilderungen des haarsträubenden Systems. Jeder denunziert jeden um die eigene Haut zu retten, ein Leben zählt nichts.

Vordergündig hat Leo viel Macht, tatsächlich jedoch unterdrückt ihn das System selbst, ist er selbst immer in Gefahr nicht ständig dem System gerecht zu werden und schließlich einer internen Intrige ausgesetzt. So wird er degradiert, langsam beginnt er am System zu zweifeln. Als er mit einem weiteren Kindermord konfrontiert wird, vermutet und erkennt er mehr und mehr Zusammenhänge, der Keim des Zweifels findet Nahrung. Was tun, wenn da einer ständig Kinder umbringt, das System dies jedoch ignoriert weil nicht sein kann, was nicht sein darf und man ständig in Gefahr ist, durch seinen Zweifel ins Arbeitslager geschickt oder gar hingerichtet zu werden. Seine eigenhändigen Recherchen lassen ihn eine Vielzahl von Kindermorden entdecken, die Aufklärung wird zum gefährlichen Wettlauf gegen die Zeit.

Interessant wird der Thriller nicht so sehr durch die Serienmorde, sondern vielmehr durch die Gefahr, der Leo selbst ausgesetzt ist, ob er wohl seinem Wiedersacher vom Geheimdienst lebend entkommt. Eingebettet ist dies in die Schilderung des menschenverachtenden Systems des Stalinismus der Sowjetunion, in der Zeit kurz vor Stalins Tod. Es ist unglaublich und sehr bewegend, von diesem totalitären und gnadenlosen System zu lesen. Meine ganze Spannung und mein Interesse galten diesem Schrecken, es ist unglaublich, in was für einer grausamen und absurden Zeit die Menschen damals leben mußten. Verdächtigungen, Verfolgungen, Folterungen waren an der Tagesordnung, jeder wußte, wie schnell man durch Denunziation in die Fänge des durchorganisierten Überwachungsstaats geraten konnte, all das verfolgt man atemlos. Ein Verdacht genügt, daß in einer kleinen Stadt hunderte von Menschen deportiert wurden, umgesiedelt, ins Arbeitslager oder gleich in den Tod – jeder kennt jemanden, der vom System ermordet wurde oder Säuberungsaktionen zum Opfer fiel.

Leo Demidow ist zunächst mit Sicherheit kein Held. Er ist regimetreuer Offizier, nutzt seine Stellung durchaus aus, weiß sehr wohl, daß er Menschen zur Folter und in den Tod schickt, er ist zu allem bereit, für seinen Staat. Aber langsam entwickelt er sich dann in dem Buch, er steht auf, widersetzt sich und wird endlich tatsächlich zum Helden. In der Schwarzmalerei liegt dann aber auch das Problem des Thrillers: da entwickelt sich einer zum Helden, es gibt einen absolut bösen Widerling als Gegner, Leos Frau ist die Schöne, Gute und rechtzeitig stirbt Stalin, es ziehen die Guten in den Geheimdienst ein und am Ende steht ein Happy End - etwas übertrieben formuliert.

Ich hatte das Buch mit großen Erwartungen begonnen, die nicht ganz erfüllt wurden. Trotzdem, ich habs gerne gelesen, schon lange nicht mehr wurden mir die Grausamkeiten des Stalinismus so anschaulich vor Augen geführt, ich spüre noch immer die Gänsehaut, allein deshalb schon lohnt das Buch.

© Ralf 2008