Vladimir Sorokin: Der Schneesturm

Kiepenheuer & Witsch 2012, 207 S.
Aus dem Russischen von Andreas Tretner

Vladimir Sorokin läßt das 19. Jahrhundert in Russland in diesem Buch wieder aufleben. Jeder, der die russischen Klassiker gelesen hat, ich denke an Tschechow, Turgenjew, Tolstoi oder Gogol, wird hier viele ihrer Motive wiedererkennen, auch die Sprache klingt nach 19. Jahrhundert.

Eines der typischen zentralen Motive ist eine Schlittenfahrt übers Land im, der Titel sagt es schon, Schneesturm. Ein Landarzt, Platon Iljitsch Garin, hat die Aufgabe, in den entlegenen Ort Dolgoje zu reisen, da dort eine Epidemie ausgebrochen ist. Er hat einen Impfstoff dabei, der die Menschen dort retten könnte, er wird dringend erwartet. Da er die Pferde wechseln muß, in dem Ort aber keine zu haben sind, engangiert er den Brotkutscher Kosma, genannt Krächz, ihn zu fahren. Der Krächz hat aber keine Pferde, sondern gezogen wird sein Schlitten, dem »Mobil« von 50 Minipferden, jedes nicht größer als ein Rebhuhn. Garin scheint also seine Mission doch noch erfüllen zu können und es geht los in den Schneesturm.

Ein weiteres Motiv, was dem Leser sehr vertraut sein wird, ist die Rollenverteilung der beiden Akteure. Einerseits der Landarzt, klares Ziel vor Augen, man möchte sagen der »Herr«, der Macher, tatsächlich jedoch läßt der die anderen, die er bezahlt, alles für sich machen, treibt sie an und lehnt sich gleichzeitig zurück. All dies nicht böswillig und er packt durchaus auch mal selbst etwas an, wenn es seine Lust zuläßt - oder die Not erfordert. Andererseits den Fuhrmann, den Krächz, eifrig, macht was man ihm sagt, unterwürfig und trotzdem läßt er sich nicht aus der Ruhe bringen, während er seine Arbeit routiniert erledigt.

»Der Schneesturm« ist voll von skurilen Einfällen. Neben den Minipferdchen tauchen auch Zwerge auf, die mit normalgroßen Frauen verheiratet sind, es gibt Riesen, Drogendealer, Wölfe und vieles mehr, was die Reise stören und aufhalten könnte. So wird die Frau des nörgelnden Zwerges, der schließlich betrunken auf der Ofenbank liegt, dem Landarzt in einer intensiven Liebesnacht beiwohnen, ein Riese liegt tot auf der Straße, der Schlitten hat sich in seinem Nasenloch verkeilt und muß erst befreit werden, die Chance auf einen mächtigen Drogenrausch kann man natürlich beim Treffen auf die Dealer auch nicht auslassen. Es sind surreale, unwirkliche Einfälle, mit denen Vladimir Sorokin hier spielt, zeitlich läßt sich das nicht festlegen, denn es gibt auch Telefon, futuristisches Radio und anderes aus modernen Zeiten, der Roman könnte also auch in der Zukunft spielen.

Das Buch zeigt die Vergeblichkeit allen Bemühens des Landarztes, irgendwie sein Ziel zu erreichen. Immer wieder gibt es Unterbrechungen, selbst- oder fremdverschuldet. Allein der Schneesturm, die Einsamkeit der Provinz, Schneeverwehungen oder das Abkommen von Weg führt immer wieder dazu, daß der Schlitten steckenbleibt, angeschoben werden muß, mal bricht die Kufe, dann die Orientierungslosigkeit im Schneegestöber - trotz aller Anstrengungen und Mühen gibt es immer wieder ein Hindernis. Immer wieder Hoffnung abgelöst von Widrigkeiten und Niederlage.

Wenn Sorokin in seinen Büchern relativ viel Gewalt verwendet hat, so findet man das hier gar nicht mehr. Das Buch liest sich wie ein Märchen, russisches Flair mit archaischen, ländlichen Motiven, aber auch Dinge, die auf eine Zukunft verweisen. Alle sind besten Willens, doch ein Ergebnis haben sie am Ende doch nicht. Einzig tauchen zur Rettung am Ende die Chinesen auf, die zwar unmenschlich und gefühllos dargestellt werden, aber dann doch den Landarzt aus dem Schneesturm retten. Wenn Vladimir Sorokin schreibt, kann man natürlich Parallelen zum heutigen Russland entdecken. Er illustriert die typischen, immer wiederkehrenden Probleme im modernen Russland, die Vergeblichkeit allen Bemühens und in diversen Bildern verschiedene Probleme des Landes. Hier, in diesem Buch findet sich am Ende Konkurrenz, aber auch Rettung durch die Chinesen.
Es ist ein dünnes Bändchen, liest sich wie ein Märchen gut und flüssig durch - eine nette Unterhaltung für zwischendurch.


© Ralf 2012