Vikram Seth: Zwei Leben. Porträt einer Liebe

S. Fischer 2006, 533 S.
OT: Two lifes (2005)
Aus dem Englischen von Anette Grube

Auf dem Cover steht "Ihr Leben verlief fast unbemerkt, doch ihre Geschichte ist unvergesslich", und darum geht es in Vikram Seths Biografie von Onkel und Tante: um Shanti, der aus Indien kam und im zweiten Weltkrieg als Zahnarzt seine rechte Hand verlor und um Henny, eine Jüdin, die aus Berlin nach London geflüchtet ist, während ihre Mutter und Schwester im Konzentrationslager umkamen. Das Buch ist auch Zeugnis seiner Liebe zu ihnen...

Vikram Seth beginnt in "Zwei Leben" mit einem autobiographischen Abschnitt, in dem er erzählt, wie er - siebzehnjährig - nach London zu Onkel Shanti und Tante Henny kam, um zu studieren. Zu seinem Schrecken mußte er feststellen, daß die Universität Kenntnisse in einer europäischen Sprache forderte und es war Tante Hennys Idee, daß er in der verbleibenden Zeit bis zur Prüfung Deutsch lernen solle, dies sei die richtige Sprache, weil er mit ihr und Onkel ständig deutsch spechen könne und sie begann sofort damit. Im weiteren Verlauf schreibt er über seine Zeit des Studiums, dem Leben bei Onkel und Tante, dem Tod der Tante und wie es dazu kam, mit seinem nun alten Onkel über seine Vergangenheit zu sprechen, um möglicherweise ein Buch zu schreiben.

Das Buch ist nicht strikt chronologisch aufgebaut, sondern beleuchtet in den Kapiteln einzeln die Figuren seines Onkels, der Tante, deren gemeinsames Leben usw. Unterstützt und stark verwoben wird das Buch von vielen Briefen und Dokumenten, die fließend eingebaut sind und das Leben der beiden dokumentieren, neben umfangreichem Bildmaterial und Fotos.

Der zweite Abschnitt kümmert sich um Onkel Shanti, der 1908 in Indien geboren wurde. Eigentlich wollte er seinem bewunderten Bruder nacheifern und Ingenieur werden, doch er hatte große Schwierigkeiten mit den Aufnahmeprüfungen, so daß er seine Pläne änderte und sich für Zahnmedizin entschied, da sein Bruder sagte: "In unserer Familie haben wir einen Ingenieur, einen Richter, einen Buchhalter und einen Arzt, aber keinen Zahnarzt. Warum willst du nicht Zahnarzt werden?" So bewarb er sich in Paris und Berlin, wobei er mit Paris nicht zurechtkam und nach Berlin zog. Dort fand er ein Zimmer in Charlottenburg bei den Caros. Als Frau Caro ihrer Tochter Henny erzählte, daß sie das Zimmer ihres verstorbenen Mannes an Shanti vermietet hatte, sagte diese nur "Nimm den Schwarzen nicht". Das war der Beginn einer Beziehung, die fünfeinhalb Jahrzehnte dauern sollte. So lernte er nicht nur Henny kennen, sondern auch deren Freundeskreis. 1936 bestand Shanti das Staatsexamen in Zahnmedizin mit der Note "sehr gut", konnte aber als Ausländer in Deutschland nicht praktizieren, so daß er sich in der Folgezeit in England eine Existenz aufbaute. Für Juden wurde es in Deutschland danach immer schwieriger, so daß auch Henny 1939 die Möglichkeit ergriff, nach London zu flüchten. Zurück in Berlin blieben Hennys Schwester Lola und ihre Mutter.

Shanti meldete sich im Februar 1940 freiwillig in das britische Zahnärztliche Corps, war zunächst in Afrika und wurde im Winter 1943 nach Italien geschickt, wo er in den Kämpfen um Monte Cassino seine rechte Hand verlor. Für ihn begann eine schlimme Zeit, wie sollte er eine Zukunft haben, als Zahnarzt mit nur einer Hand arbeiten. Mit Hilfe und unter Zuspruch eines Kollegen eröffnete er aber doch eine Praxis in London und baute sich eine Existenz auf.

Der umfangreiche dritte Teil des Buches beleuchtet Tante Henny näher. Vikram Seth fand nach deren Tod ihren umfangreichen Briefwechsel mit alten Freunden und konnte so sehr viel rekonstruieren, worüber sie nie gesprochen hatte, auch nicht mit Onkel Shanti.

Es ist für mich der interessanteste Teil, in dem Henny unmittelbar nach dem Krieg und den Jahren danach in vielen Briefen mit alten Freunden versucht, Klarheit zu bekommen, was aus ihrer Mutter und Schwester, die in Berlin zurückbleiben mußten, geschehen ist.
Eine Freundin schreibt: "Davor habe ich nun schon die ganze Zeit gezittert: Daß Du eines Tages schreiben und nach Lola fragen würdest! - Heute Abend fand ich Deinen lieben Brief zuhause vor: Ich schreibe Dir sofort Antwort! Ich war bis zuletzt immer noch bei der Lola und der Mutti. Beide kamen im Mai 1943 fort" und weiter: "Ach, Hennerle, ich weine bitterlich, wenn ich Dir das alles schreibe, könnte ich bei Erhalt dieses Briefes bei Dir sitzen und Dich fest in die Arme nehmen und mit Dir weinen..." Die beiden wurden deportiert und kamen in Auschwitz und Theresienstadt ums Leben.

Außerdem versucht Henny genauer zu erfahren, wie sich alte Freunde damals verhalten haben, es geht um Widerstand und wahre Freundschaft, wer hat Schuld auf sich geladen, wem konnte sie vertrauen. Dies war für mich der Kern des Buches, den es lohnt zu lesen.

Henny ist Zeit ihres Lebens Deutsche geblieben, doch mit großen Vorbehalten. Sie konnte es auch nie mehr über sich bringen, Berlin noch einmal zu besuchen, dafür saßen die Wunden zu tief. Auch Vikram Seth beschreibt im letzten Teil, wo er unter anderem von seinen Recherchen erzählt, wie er schroff wird und heftig reagiert, als er in Israel in der Gedenkstätte Yad Vashem auf deutsch angesprochen wird. Während der Arbeit an dem Buch hat er sich intensiv mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt, was vieles aufgerührt hat.

Tante Henny starb 1989, Onkel Shanti 1998. "Zwei Leben" portätiert, zwei Menschen, die sehr unterschiedlich sind. Shanti, klein, dunkel, sehr emotional und offenherzig, daneben Henny, groß, elegant und eher kühl. Aus einer Freundschaft ist eine lebenslange Beziehung geworden; man beobachtet, wie sie langsam aufeinander zuwachsen. Beeindruckend ist die Freundlichkeit und das Vertrauen der beiden ineinander und der Lebenswille, alles zu meistern.

Die eingestreuten geschichtlichen Erläuterungen, vor allem in Shantis Teil, haben mich manchmal etwas gestört weil oft überflüssig, und nicht alles hat mich interessiert. Aber da Hennys Teil der größte des Buches ist, sehe ich gerne darüber hinweg. Wer übrigens mal die Gelegenheit hat, zu einer Lesung von ihm zu gehen, sollte dies tun: er ist ein äußerst sympathischer Mensch und geht gerne auf Fragen ein...

22.05.2006

© Ralf 2006